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Liebe Männer: Lust auf ein Rollenspiel? Lasst uns mal zurück zum Anfang gehen, zu eurer Geburt. Stellt euch vor, ihr wärt nicht als Junge zur Welt gekommen, sondern als Mädchen. Klingt bisher noch ganz harmlos, oder?
Mal ganz abgesehen davon, dass ihr in manchen Ländern dieser Welt niemals geboren wärt – aus einem ganz einfachen Grund: weil ihr weiblich seid. In China beispielsweise gelten in den ländlichen Regionen Mädchen bis heute als „verschüttetes Wasser“. Denn mit der Heirat verlässt eine junge Frau ihre eigene Familie und wird Mitglied der Familie ihres Mannes. Dort hat sie dann die Pflicht, sich um ihre Schwiegereltern zu kümmern. Der eigenen Familie geht sie als Arbeitskraft verloren und fällt auch später als Altenpflegerin aus. (1)
In den Anfangsjahren der Ein-Kind-Politik wurden neugeborene Mädchen oft getötet – heute werden sie abgetrieben.
Die sogenannte Ein-Kind-Politik, die bis 2015 in China vorherrschte, verschärfte diese jahrtausendealte Bevorzugung von Jungen in der chinesischen Gesellschaft. Einst gedacht zum Eindämmen des raschen Bevölkerungswachstums, brachte es vielmehr eine große Verschiebung des Geschlechterverhältnisses im Land mit sich. In den Anfangsjahren der Ein-Kind-Politik wurden neugeborene Mädchen oft getötet – heute werden sie abgetrieben. Nicht nur in ländlichen Gegenden, auch in den aufstrebenden Regionen Chinas ist bis heute ein Anstieg geschlechtsspezifischer Abtreibungen zu verzeichnen (Genderizid).
Wie lebt es sich denn in anderen Ländern so als Frau? In Afghanistan zum Beispiel dürfen Frauen – ja, was dürfen sie denn eigentlich? So gut wie gar nix. In der Öffentlichkeit unterwegs sein ist nur gestattet, wenn sie von einem männlichen Verwandten, einem Mahram, begleitet werden. Sie dürfen nicht studieren, müssen ihre Gesichter (wenn sie doch mal raus dürfen) vollständig verhüllen, Frauen und Mädchen wurden von den Taliban zu Nicht-Menschen degradiert.(2) Wie schauts in Indien aus? Schätzungsweise 25.000 Frauen werden dort jedes Jahr Opfer von Mitgiftmorden. Weil es in den meisten indischen Haushalten Kerosinherde gibt, tarnen die Täter die Morde häufig als „Küchenunfälle“. (3)
Sorgearbeit ist ja schließlich weiblich, genauso wie ihre Schwestern namens Teilzeitarbeit und Altersarmut.
Jetzt denkst du dir bestimmt: „Na, aber was haben wir mit diesen Ländern zu tun? Bei uns ist ja alles viel besser.“ Bestimmt. Werfen wir doch mal einen Blick auf unser kleines Ländle Südtirol. Wie lebt es sich hier als Frau? Wie sind Frauen beispielsweise finanziell aufgestellt, im Vergleich zu unseren männlichen Artgenossen? Ein Rentner in Südtirol erhält im Schnitt 1.761 Euro im Monat. Bei Rentnerinnen sind es hingegen nur 946 Euro.(4) Ein Mann bekommt also durchschnittlich fast doppelt so viel Rente wie eine Frau. Nicht etwa im fernen China, sondern hier, bei uns. Was heißt das konkret? Es heißt, Frauen bekommen einfach weniger Geld, weil sie Frauen sind. Ganz schön mies, oder? Aber es wird noch skurriler: Als Frau darfst du nämlich nicht nur weniger verdienen, sondern auch noch den größten Teil der Care-Arbeit leisten. In Italien leisten Frauen täglich rund 5 Stunden und 9 Minuten unbezahlte Care-Arbeit, während Männer 1 Stunde und 48 Minuten dafür aufwenden. (5)
Das Stereotyp, dass Frauen besonders gut für solche Tätigkeiten geeignet seien und diese Arbeit ihrem „Wesen“ entspräche, ist nach wie vor weit verbreitet. Sorgearbeit ist ja schließlich weiblich, genauso wie ihre Schwestern namens Teilzeitarbeit und Altersarmut.
Von Männern hingegen wird erwartet, dass sie Karriere machen, um das Rollenbild des „Familienernährers“ zu erfüllen. Als kleines Experiment einfach mal bei der nächsten Abgabe im Kindergarten, in Whatsapp-Gruppen der Schüler:innen-Eltern oder beim nächsten Kindergeburtstag umschauen: Wie viele Mamas sind da, wie viele Papas?
Aber bevor sich jetzt all die braven Mit-im-Boot-sitzenden Papis angesprochen fühlen: Ihr seid nicht gemeint. Weiter so. Ihr seid Teil der Veränderung, die dringend notwendig ist.
Da wären wir auch schon beim nächsten Thema. Dem Mental Load. Wenn dir das kein Begriff sein sollte, bist du höchstwahrscheinlich Teil des Problems. Für eine Mama den Balance-Akt zwischen Erziehung, Haushalt, Partnerschaft, Freundschaften, Selbstfürsorge UND bezahlter Lohnarbeit hinzukriegen, ist fast so, als würde dir jemand sagen: „Jetzt bitte einmal kurz barfuß über die heißen Kohlen laufen – mit einer Hand jonglierend und der anderen E-mail-schreibend – ohne dir dabei die nackten Füße zu verbrennen.“
Klingt recht unrealistisch, nicht wahr? Ist es auch. Mit Mental Load sind nämlich nicht die konkreten Aufgaben im Haushalt oder die Kinderbetreuung gemeint. Es geht vielmehr um die unsichtbare und notwendige Denkarbeit, die es überhaupt erst möglich macht, dass sichtbare Aufgaben erledigt werden können und der Alltag funktioniert: Habe ich die Jausenbox gepackt? Huch, morgen ist ja Elternsprechtag. Ein Geschenk für Omis Geburtstag müssen wir auch noch besorgen. Hat mein Kleinster heute genug getrunken? Oje, hab die Sonnencreme zu Hause vergessen. Zahnarzttermin wär auch mal wieder fällig. Da wird man ja schon beim Lesen nervös, oder? Vielleicht ja, weil der Mental Load weniger wiegen würde, wenn man ihn teilt. Das muss nicht jeden Tag 50/50 sein. Nein, es können auch mal 70/30 sein, dafür an einem anderen Tag vielleicht 80/20 zugunsten der Mami.
Du bist eine Jugendliche. […] Schnell wird dir klar, dass du sehr vorsichtig sein musst.
Hoppla, jetzt bin ich in all der Aufregung etwas weit gesprungen. Spulen wir nochmal kurz zurück, du bist noch nicht erwachsen, sondern eine Jugendliche. Du fängst an, abends mal mit Freund:innen was trinken zu gehen und entwickelst langsam Interesse an intimen Beziehungen mit anderen Menschen. Schnell wird dir klar, dass du sehr vorsichtig sein musst – so war es zumindest bei mir (und all meinen Freundinnen).
In der Disco wird dir nämlich schon mit zarten 16 Jahren „unabsichtlich“ an den Po gefasst, du spazierst gedankenversunken durch die Stadt, während dir irgendein Typ nachpfeift und in deinen Chats auf den Socials häufen sich die Dickpics von wildfremden Männern. Laut der Studie #Metoo 2024, müssen 84 Prozent aller Frauen weltweit solche Formen von Catcalling schon vor ihrem 18. Lebensjahr erfahren. (6)
Aber das war noch nicht alles: Die WHO schätzt, dass mindestens 20 Prozent aller Frauen weltweit mindestens einmal in ihrem Leben physisch oder sexuell von einem Mann angegriffen wurden. Die Dunkelziffer dürfte hoch sein. Du kannst ja einfach mal ein bisschen in deinem weiblichen Bekanntenkreis rumfragen.
Ein Drittel der Frauen in der EU hat zu Hause, am Arbeitsplatz oder in der Öffentlichkeit schon einmal Gewalt erfahren (Pressemitteilung Eurostat 2024). Eine von sechs Frauen in der EU hat im Erwachsenenalter sexuelle Gewalt, einschließlich Vergewaltigung, erlebt(6). Aber, wenn sie dann endlich ihren „Seelenverwandten“ gefunden haben, sind sie bestimmt sicher und werden auf Händen getragen, oder? Ja, manchmal sogar zu ihrem Grab. Im Jahr 2023 wurden nämlich, global gesehen, 85.000 Frauen und Mädchen vorsätzlich getötet, 51.100 davon entweder vom Partner oder einem anderen Familienmitglied. Jetzt werden sich manche denken: „Na, selber blöd. Was bleibt man denn auch in solch einer Beziehung?“ Aber siehe da: Zwischen 22 und 37 Prozent der Opfer haben in der Vergangenheit bereits Anzeigen gegen ihren Partner erstattet, wegen physischer, psychischer oder emotionaler Gewalt. Viele der Femizide wären somit vermeidbar gewesen(7). Und selbst wenn sie keine Anzeige erstattet haben, trifft die Opfer keinerlei Schuld. Es hilft eben nicht, „nur“ die Femizide zu bestrafen, alle Vorstufen der Gewalt gegen Frauen müssen zeitig erkannt und bekämpft werden. Denn während Morde an Männern meistens draußen passieren (nicht, dass sie weniger schlimm wären), sind für Frauen und Mädchen ausgerechnet die eigenen vier Wände der gefährlichste aller Orte.
Puh, schwer verdauliche Lektüre, nicht wahr? Stellt euch mal vor, wie die Realität all dieser Frauen wohl aussieht? Es gäbe noch so viel mehr zu sagen: Genitalverstümmelung, Anti-Abtreibungsgesetze, daraus folgende unsichere Abtreibungen, daraus folgende Müttersterblichkeit. Zwangsheirat, Frauenhandel, Stalking, häusliche Gewalt, Victim Blaming, Gewalt in der Geburtshilfe und – last but not least – kriegen Frauen auch noch knapp 80 Prozent der Autoimmunerkrankungen ab. Das wird übrigens lieber auf unsere Hormone oder Chromosomen geschoben, anstatt in Erwägung zu ziehen, dass Frauen auf dieser Welt einfach viel mehr emotionalem Stress, Ungerechtigkeit und Toxizität ausgesetzt sind. Auch in der Medizin und Wissenschaft gibt es erhebliche Benachteiligungen für uns Frauen. Denn wer nicht dem „männlichen Standard“ entspricht, war in Studien lange Zeit kaum präsent.
Die Erkenntnisse aus der Forschung mit männlichen Probanden wurden weitestgehend auf die weibliche Bevölkerung übertragen, ohne die Unterschiede zwischen den biologischen Geschlechtern zu berücksichtigen. Ich wage es jetzt einfach mal zu sagen: Wenn Endometriose beispielsweise ein männliches Problem wäre, würde es bis zur Diagnose bestimmt nicht im Schnitt acht Jahre dauern.(8)
Feminismus bedeutet nicht, dass Frauen wichtiger oder Männer weniger wichtig wären. Nein. Feminismus fordert gleiches Recht für alle.
Diese enormen Missstände weltweit zeigen ganz deutlich: Feminismus ist nicht nur wichtig, sondern auch dringend notwendig. Denn Feminismus bedeutet nicht, dass Frauen wichtiger oder Männer weniger wichtig wären. Nein. Feminismus fordert gleiches Recht für alle. Gleiches Recht zu leben. Gleiche Freiheit. Gleiche Sicherheit. Gleiche Entlohnung. Gleiches Mental Load. Gleiche medizinische Versorgung.
Das bedeutet ja, ich müsste im Umkehrschluss auch einen Kommentar zum Thema „Geschlechtsspezifische Benachteiligung von Männern“ schreiben? Mach ich gerne. Aber mit einer Sache spoiler ich schon mal vorab: Der Artikel wird deutlich kürzer ausfallen.
Eins ist mir noch wichtig zu erwähnen: Viele Millennial-Männer brechen bereits mit alten Rollenbildern. Sie übernehmen Verantwortung, hören zu, hinterfragen Strukturen – nicht aus Zwang, sondern aus Überzeugung. Sie zeigen: Gleichberechtigung beginnt nicht in Paragrafen, sondern im Alltag. Beim Windelwechsel um drei Uhr morgens. Beim Zuhören, wenn die Partnerin nicht einfach „übertreibt“, sondern auf ein echtes Problem hinweist. Beim Vorleben, dass Care-Arbeit keine „Hilfe“, sondern Elternschaft auf Augenhöhe ist. Die Veränderung passiert also bereits, langsam aber stetig, über Generationen hinweg. Ein Perspektivenwechsel beginnt erstmal im Kopf, bevor er im Alltag ankommen kann.
In diesem Sinne: Widersprecht, wenn sexistische Sprüche fallen. Hört zu, wenn Frauen erzählen. Fragt euch, wer in Meetings das Wort ergreift – und wessen Stimme übergangen wird. Denn echte Veränderung beginnt nicht bei den anderen, sondern bei jedem Einzelnen.
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Quellen:
(1) Mei L, Jiang Q. Sex-selective abortions over the past four decades in China. Popul Health Metr. 2025 Feb
(2)https://medicamondiale.org/wo-wir-frauen-staerken/afghanistan
(3)https://www.sos-kinderdoerfer.de/informieren/wo-wir-helfen/asien/indien/gewalt-frauen-indien
(4)https://chancengleichheit.provinz.bz.it/de/news/equal-pension-day
(5)https://chancengleichheit.provinz.bz.it/de/news/equal-care-day-sudtirol-2025
(6)https://stopstreetharassment.org/our-work/nationalstudy/2024metoostudy/
(7)https://www.unwomen.org/en/digital-library/publications/2024/11/femicides-in-2023-global-estimates-of-intimate-partner-family-member-femicides
(8)https://pharma-fakten.de/news/gender-health-gap-macht-krank/
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