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Dieses Baby gehört mir nicht.
S. 11Was wäre, wenn du an einem ganz gewöhnlichen Morgen in einem völlig anderen Leben erwachst? Toni wacht eines Morgens nicht in ihrer Altbauwohnung in der Stadt auf, nicht neben ihrem langjährigen Freund, nicht in ihrer Stadtwohnung mit knarrenden Dielen und dem Echo aus den Nachbarwohnungen. Etwas ist anders. Die Räume sind weit und lichtdurchflutet, stilvoll eingerichtet. Alles wirkt ordentlicher, leiser, glatter. Der Blick aus dem Fenster fällt nicht auf Straßen, sondern auf ihr Heimatdorf. Antonia ist plötzlich eine Frau mit einem Kind auf dem Schoß. Mit einem Mann an ihrer Seite, der einst ihre erste große Liebe war.
Ein Leben, das so nie stattgefunden hat – und doch vollkommen real erscheint. Wie kann das sein? Ist dies ein Traum? Eine Parallelwelt? Oder ein mögliches Leben, das sie nie gelebt hat – weil sie sich einst für einen anderen Weg entschied?
Bis gestern war ich noch in einem anderen Leben.
S. 65Anne Sauer entwirft in „Im Leben nebenan“ ein faszinierendes Was-wäre-wenn-Szenario und lädt ein zu einem literarischen Gedankenexperiment über Identität, Entscheidungen und die leisen Töne des Frauseins. Zwei Lebensfäden, die sich wie Spuren im Tau nebeneinander herziehen und doch in ganz unterschiedliche Richtungen führen. In einem ständigen Wechsel zwischen zwei Parallelrealitäten führt uns die Autorin durch zwei Leben einer Frau – eines mit Kind, eines ohne. Dabei nähert sie sich mit bestechender Klarheit Themen an wie Mutterschaft und Kinderlosigkeit – von gewollter und ungewollter, von dem Glück, das darin liegen kann, und dem Schmerz, der sie begleiten kann. Sie schreibt über die gesellschaftliche Norm und Erwartung, dass Frauen „Mütter sein wollen“ – und über das Schweigen, die Leerstelle, die entsteht, wenn der Körper nicht mitspielt oder der Wunsch fehlt. Es geht um Selbstverwirklichung und der tiefen Sehnsucht nach einem erfüllten Leben – egal, welchen Weg man einschlägt. Um Verlust, aber auch um Widerstandskraft, Selbstermächtigung und dem Weg zurück zu sich selbst. Es geht um den weiblichen Körper und dem Gefühl der Entfremdung zu diesem. Um Beziehungen, Freundschaft und Familie – und die Frage wie sich diese verändern, durch eine Mutterschaft oder einem Leben ohne Kind.
Sie ist einfach nur eine kinderlose Frau, die heute mit einem Baby aufgewacht ist.
S. 24Es ist ein Roman über Alternativen, die manchmal gar nicht so alternativ wirken, über das Glück im Ungeplanten und die Enge im Gewollten. Und darüber, dass die Entscheidung für oder gegen ein Kind weit mehr ist als ein Lebensmodell – sondern zutiefst existenziell. Es geht um Entscheidungen, die wie leise Seismografen unser ganzes Leben lenken. Um Liebe, Verlust, Erwartung – und die Frage, ob das Leben, das wir führen, wirklich das ist, das wir wollten. Was bleibt vom Ich, wenn ein anderes Ich denkbar gewesen wäre?
Alle wollten, dass sie Kinder will. Aber niemand hatte sie darauf vorbereitet, keine Kinder bekommen zu können.
S. 58Dieses Buch ist wie ein Blick durchs Fenster in ein anderes Zuhause – und in das eigene Herz. „Im Leben nebenan“ ist ein kluges, witziges, zartes und zugleich kraftvolles Buch. Es berührt da, wo unsere Zweifel wohnen, und schenkt Hoffnung dort, wo unsere Entscheidungen uns einsam machen. Anne Sauer gelingt es, mit viel Feingefühl zwei Lebensrealitäten gegenüberzustellen, ohne zu werten – aber mit einem tiefen Verständnis für das Menschsein in all seinen Widersprüchen.
Niemand hatte ihr gesagt, dass ihr Körper sich weigern könnte, sie in eine Mutter zu verwandeln. Sie haben ihr nicht beigebracht, Abschied zu nehmen von einer Idee, die ihr Aufwachsen prägte. Sie hatten ihr nicht beigebracht, mit dem mitleidigen Nicken der anderen umzugehen die hofften, dass sie gleich das Thema wechselte. Niemals hätte sie mit diesen Tränen gerechnet, die sich einfach so nach draußen drängten, während sie im Babyladen nach einem Geschenk für eine Freundin sucht.
S. 58Anne Sauer gelingt es, zwei mögliche Leben einer Frau so miteinander zu verweben, dass man beim Lesen fast glaubt, selbst in einer Zwischenwelt zu wandeln. Ihre Sprache ist feinfühlig, durchdrungen von Wahrhaftigkeit und Humor, mal warm, mal wehmütig – immer ganz nah an dem, was wir manchmal nicht zu sagen wagen.
„Im Leben nebenan“ ist kein lauter Roman. Es ist ein leiser, ehrlicher Spiegel. Und gerade deshalb trifft er so tief und löst ein Meer an Gefühlen aus – weil er uns mit einer Frage zurücklässt, die wir alle kennen: Was wäre gewesen, wenn …? Und uns gleichzeitig mit einer Antwort versöhnt: dass jeder Weg, den wir gehen, auf seine eigene Weise ein Zuhause werden kann.
Wenn ich sage ich kann keine Kinder bekommen dann haben immer alle Mitleid. Gespräch beendet. Wenn eine Frau sagt, sie will einfach nicht, und zwar nie, also wirklich nie, dann muss sie sich erklären. Als wäre das alles, was uns definiert, die einzige Entscheidung, die wir im Leben treffen müssen. Und klar, wir müssen sie ja auch tatsächlich alle treffen, irgendwann. Aber es fuckt mich so ab, echt.
S. 195Ein Buch für alle, die irgendwann zurückblicken. Ein Buch für die, die hoffen, dass es nicht nur den einen richtigen Weg gibt. Und für jene, die wissen: Jede Entscheidung birgt ein anderes Glück.
„Im Leben nebenan“ von Anne Sauer ist im dtv Verlag erschienen.
Mehr feministische Lesetipps unserer Buchbloggerin Carmen Waldthaler
gibt es auf ihrem Instagram-Channel c_booksblog! #frauenlesen
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