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„Aus dir wird nie etwas!“ Welchen Einfluss auf die Zukunft eines Kindes hat eine solche Aussage? Verhält es sich mit unserer Zukunft so, dass eine Bewertung des Objektes seinen Zustand verändert?
Laut der Zukunftsforscherin Florence Gaub ist „der Mensch (…) das einzige Wesen, das die Fähigkeit hat, sich die Zukunft so detailliert vorzustellen, dass er sie erschaffen kann.“ Demzufolge sollte in einem Diskurs über die Welt im Jahre 2050 beachtet werden, dass die Zukunft ein Prozess ist, den wir nicht statisch betrachten können, ohne ihn durch unser Denken selbst zu verändern. Daher wird meine folgende Vision nicht konkrete Entwicklungen beleuchten, sondern versuchen, den geistigen Boden zu kultivieren, auf dessen Basis meine Vision Realität werden kann. Denn die Handlungsspielräume werden vom Geist in der Gesellschaft maßgeblich mit definiert.
Zu Beginn möchte ich den Blick auf den Status Quo unseres Untersuchungsobjekts richten: Europa wird heute geprägt von den Institutionen der Europäischen Union, unter deren Dach sich mittlerweile 27 Mitgliedsstaaten vereinen, die sich an Frieden und relativ hohem Wohlstand erfreuen. Alleine die Tatsache, dass keine Mutter einen Sohn seit 80 Jahren in einem Krieg zwischen den Völkern der EU-Staaten (seit deren jeweiligen EU-Beitritt) verlor, dem längsten Zeitraum in der europäischen Geschichte, sollte uns vor Augen führen, an welches „Novum“ wir uns gewöhnt haben.
„Europa wird in Krisen geschmiedet, und es wird die Summe der zur Bewältigung dieser Krisen verabschiedeten Lösungen sein.“ (Jean Monnet)
Ebenso sind im Großteil Europas Errungenschaften wie die freiheitlich-demokratische Gesellschaftsordnung, starke Sozialsysteme, eine verbesserte gesellschaftliche Stellung von Frauen und Minderheiten sowie die Möglichkeit zur freien Persönlichkeitsentfaltung garantiert. Zudem hat die EU seit ihrer Gründung schon einige Krisen gemeistert, wie die Ölkrise oder die Weltwirtschaftskrise 2008. Jean Monnet – EU-Pionier – sagte treffend: „Europa wird in Krisen geschmiedet, und es wird die Summe der zur Bewältigung dieser Krisen verabschiedeten Lösungen sein.“
Nichtsdestotrotz stehen wir vor großen Herausforderungen: Eine Sicherheitsbedrohung durch den Russland-Ukrainekonflikt im Osten, illiberale und demokratiezersetzende Strömungen im Inneren und die Folgen der globalen Klimakrise. Im Angesicht dieser Momentaufnahme plädiere ich für einen realistischen Optimismus. Optimismus betont die Stärken unseres Kontinents und fördert Vertrauen in unsere Schaffenskraft in dem er Resignation weniger Raum lässt. Realismus hingegen nimmt die kommende Multipolarität der Weltordnung zur Kenntnis und begreift, dass eine eurozentrische Weltsicht einhergehend mit einer ideologischen oder moralischen Hybris uns zunehmend isolieren wird.
Das Antlitz Europas im Jahr 2050 wird meiner Ansicht nach von den drei Säulen Generationengerechtigkeit, liberale Demokratie und Wohlfahrt getragen. Im Folgenden wird anhand der drei Bereiche dargelegt, mit welcher Geisteshaltung wir den Herausforderungen gerecht werden. Aber der Reihe nach.
„Möchte nicht jeder von uns in leiseren, grüneren Städten und einer gesunden, intakten Umwelt leben?“ (Marc-Uwe Kling)
Zuerst widme ich mich der Frage der Generationengerechtigkeit, die den Erhalt unserer Lebensgrundlage für unsere Nachkommen inkludiert. Hierbei sollten wir die berechtigten Ansprüche junger Menschen im Rahmen unserer Möglichkeiten ernst nehmen und uns als Gesellschaft die Folgen unseres tagtäglichen Tuns für die Erde bewusstmachen. Bereits 2015 mahnte uns Papst Franziskus in seiner Umweltenzyklika „Laudato Si!“ den Auftrag als „Bewahrer“ der Schöpfung (vgl. Gen 2,15) anzunehmen. Das wohlhabende Europa sollte sich seiner Verantwortung stellen. Der Kabarettist Marc-Uwe Kling bringt es auf den Punkt: „Möchte nicht jeder von uns in leiseren, grüneren Städten und einer gesunden, intakten Umwelt leben?“
Neben der Schöpfungsbewahrung sehe ich unsere Diener:innen des Volkes – die Politiker:innen – großen Versuchungen ausgesetzt, aus der demographischen Entwicklung unlauteres politisches Kapital zu schlagen. Ich appelliere an die älteren Generationen und die Politiker, sich der wachsenden Versuchung zu erwehren, Generationen gegeneinander auszuspielen. Eine Politik des moderierenden Ausgleichs ist erforderlich, um nicht unverantwortliche Entscheidungen zum Nachteil junger Generationen zu legitimieren und im Generationenzusammenhalt Vertrauen in das demokratische System zu stärken.
Die zweite Säule, die meine Vision stützt, ist die liberale Demokratie. Ein erster Schritt für eine solche Geisteshaltung ist die Anerkennung der Einzigartigkeit unserer bürgerlichen Freiheiten, welche die westlichen Verfassungen einer Zivilgesellschaft einräumen. Dazu gehören unter anderem das Recht auf freie Persönlichkeitsentfaltung, Glaubensfreiheit und die Meinungsfreiheit. Ich wiederhole: Ein Novum, das erschreckend oft als gegeben angenommen wird. Jedoch benötigt der Grundstock einer freiheitlich-demokratischen Ordnung auch Gemeinsinn und Gemeinwohl und respektiert dabei die Freiheits- und Bürgerrechte des Einzelnen. Dabei fußt unsere Gesellschaftsordnung in Europa auf dem Erbe der abendländischen Philosophie, dem christlichen Menschenbild und den Lehren aus der Tragik des 20. Jahrhunderts. Die europäischen Gesellschaften und jeder Einzelne ist gefordert, subversiven Tendenzen, die unseren Wertekanon durch Geschichtsrevisionismus, Ideologie oder Extremismus bedrohen, entschieden entgegenzutreten. Wollen wir freiheits- und demokratiefördernd wirken, sollten wir zivilgesellschaftliche Räume schaffen und bewahren. In solchen Räumen, zum Beispiel in Vereinen, sind alle Gesellschaftsschichten vertreten und wir sollten darin eine respektvolle Rhetorik und Debattenkultur pflegen und einfordern.
Jeder Einzelne ist gefordert, subversiven Tendenzen, die unseren Wertekanon durch Geschichtsrevisionismus, Ideologie oder Extremismus bedrohen, entschieden entgegenzutreten.
Die schleichende Ersetzung eines gemeinschaftlichen Soziallebens in Vereinen und Religionsgemeinschaften durch ein individualisiertes Sozialleben im digitalen Raum hat einen hohen Preis für unseren Zusammenhalt. Dieser Preis äußert sich in einer Verrohung der Sprache und einem respektloseren Umgang miteinander. Ein kurzer Blick in die Kommentarspalten des Internets reicht, um die niedrige Hemmschwelle zu Beleidigungen und Polemik zu entdecken. Versöhnung sucht man meist vergebens… Im Allgemeinen ist ein neues Verständnis für unseren Medienumgang erforderlich, ohne die positiven Effekte der Technologien zu verneinen. Die Omnipräsenz von Nachrichten und Krisen in vielen Köpfen trägt zur Pandemie der Hoffnungslosigkeit erheblich bei. Besonders von Weltkrisen gelähmten Jugendlichen sollte statt Ideologie, vielmehr Hoffnung auf Zukunft eröffnet und ein Vertrauen in die eigene Schaffenskraft in starken sozialen Strukturen und in wertvollen menschlichen Begegnungsräumen vermittelt werden.
Als dritte Säule meiner Vision schließlich bezeichne ich das Zusammenspiel von wirtschaftlichem Wohlergehen und den Sozialsystemen – kurz: die Wohlfahrt. Dabei richte ich das Augenmerk auf die Mitte der Gesellschaft, denn eine starke Mittelschicht stützt in zweierlei Hinsicht die freiheitliche Demokratie. Einerseits durch Ehrenamtsarbeit und dem Eintreten für Bürgerrechte, andererseits schafft die Mitte zu einem beträchtlichen Teil die ökonomische Grundlage, auf der ein Staat agieren kann. Die Achtsamkeit für die Belange der Mitte der Gesellschaft kommt daher hohe Bedeutung zu, wenn man starke Demokraten bewahren und fördern möchte. Deswegen sollten wir das Aufstiegsversprechen, dass Fleiß sich lohnt sowie eine adäquate Grundversorgung durch die öffentliche Hand konsequent einfordern. Entscheidungsträger in Wirtschaft und Politik sollten bei ihrem Handeln stets das Gemeinwohl im Blick behalten.
Dabei dürfen Herausforderungen wie Inflation, steigende Lebenshaltungskosten und die Verteilung der Steuerlast nicht außer Acht gelassen werden. Ich erinnere die vermögende Oberschicht daran, dass in vielen europäischen Demokratien wie Deutschland und Italien mit Eigentum Verpflichtung gegenüber dem Wohle der Allgemeinheit (vgl. Art 14 Abs. 2 GG DE) und eine soziale Funktion des Eigentums gesetzlich einhergehen (vgl. Art. 42 Abs. 2 Verf. IT). Unser Steuersystem begünstigt richtigerweise Wertschöpfung durch Unternehmertum und Kapitalinvestitionen.
„Wer reich ist, muss der Gesellschaft etwas zurückgeben – nicht später, sondern jetzt. Nicht irgendwie, sondern sinnvoll.” (Andrew Carnegie)
Dennoch werbe ich dafür, dass das Ideal des wohltätigen Vermögenden nach Andrew Carnegies „Evangelium des Reichtums“ in Europa mehr Anhänger findet: „Wer reich ist, muss der Gesellschaft etwas zurückgeben – nicht später, sondern jetzt. Nicht irgendwie, sondern sinnvoll.” Außerdem bin ich in der Wirtschaft überzeugt, dass nur durch eine intensivere Nutzung des europäischen Binnenmarktes eine erhöhte Wertschöpfung möglich wird. Ein Festhalten an nationalen Sonderinteressen hingegen schwächt Europa insgesamt und nützt vor allem konkurrierenden Drittmächten. Nach den Erfahrungen der letzten Jahre sollte klar sein: Strategische Abhängigkeiten in sensiblen Bereichen sollten wir in einem gesunden Maß reduzieren. Wollen wir etwa, dass manche Konzerne in Drittmächten mehr über uns wissen als unsere Liebsten? Meine Wohlstandsformel für das Jahr 2050 lautet deshalb: Mehr Europa wagen und auf die Mitte der Gesellschaft hören!
Ich hoffe, dass damit deutlich geworden ist, dass die drei stützenden Säulen meiner Vision, die sich gegenseitig bedingen und beeinflussen, von großer Bedeutung für die Gesellschaft sind: Generationengerechtigkeit, liberale Demokratie und Wohlfahrt können nicht isoliert voneinander verstanden werden, denn wir wollen weder einen verarmten Moralweltmeister, noch ein reiches Europa in Unfrieden und auch nicht eine Wohlstandsinsel ohne garantierte ökologische Lebensgrundlage. Wir wollen unseren Kindern eine lebenswerte und würdige Lebensgrundlage hinterlassen. Daher betone ich den realistischen Blick auf die Gegebenheiten und Entwicklungen ohne Resignation auf der einen und Hybris auf der anderen Seite.
Abschließend möchte ich für ein gesamtgesellschaftliches Klima werben, das das Individuum respektiert und den Gemeinsinn sowie Zivilcourage kultiviert. Wir leben nicht für uns allein. Wie wir auf unsere Mitmenschen angewiesen sind, brauchen sie auch uns. Ich baue auf unsere Erziehung, dass Eltern und die Bildungssysteme Kindern und der Jugend mehr zutrauen und durch ihre Vorbildfunktion lehren, Verantwortung zu übernehmen und das eigene Handeln stets im Lichte der gesellschaftlichen Konsequenzen zu bewerten. Ein Europa, das in den nächsten 25 Jahren auf der Basis von realistischem Optimismus Gemeinwohl und Zivilcourage fördert, wird ein lebenswerteres Europa 2050 sein. Jeder Einzelne trägt zur Zukunft des Kontinents bei und steht nach dem Kleine-Welt-Phänomen über nur sechs Ecken mit jedem Menschen der Welt in Beziehung. Mit einer solchen Perspektive wird uns bewusst, dass wir mit unserem Denken, Sprechen und Tun für Europas Zukunft Verantwortung tragen. Es ist schön hier! Lasst uns diese Schönheit bewahren – und sie für unsere Kinder immer mehr kultivieren.
Martin Poppe, geboren 2004, Bozen
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