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Veröffentlicht
am 04.03.2020
MeinungRezension zu „Tom auf dem Lande“

Nie die Wahrheit sagen

Veröffentlicht
am 04.03.2020
Die Dekadenz zeigt „Tom auf dem Lande“ und in Südtirol wird ein junger Mann verprügelt, weil er schwul ist. Rezension über ein Theaterstück, das eigentlich keines ist.
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Er ist jung, schwul, lebt auf dem Land und schreibt in sein Tagebuch, dass man wohl besser nie die Wahrheit sagt. Und das tut er dann auch nicht. Er nimmt sie mit ins Grab und wie das so ist, wenn Leute die Wahrheit mit ins Grab nehmen: Die, die zurückbleiben, müssen sie dann im Diesseits suchen gehen. Deswegen fährt Tom (gespielt von Philipp Weigand) auf’s Land. Zur Beerdigung von seinem toten Liebhaber. Aber dass der Sohn schwul war, darf die Mutter (gespielt von Patrizia Pfeifer) keinesfalls erfahren, glauben alle. Mütter sind ja immer die, die nichts erfahren dürfen. Dabei wissen sie es meistens schon vor allen anderen, scheinen aber wiederum selbst zu meinen, dass sie alle im Glauben lassen müssten, nichts zu wissen.

Dass sich die Menschen selbst wie gegenseitig mit den besten Absichten alles Mögliche vorgaukeln, um irgendwelchen Ansprüchen gerecht zu werden, wird nun in der Provinz zum zentralen Problem: Da, wo man die Wahrheit nicht ertragen kann, erträgt man die Lüge noch viel weniger. Dabei ist nicht alles schlecht auf dem Lande, aber es ist eben auch nicht alles gut und vor allem – es ist fast keiner mehr da: Leere Häuser, Landflucht und bei den Dableibern eine gewisse Ratlosigkeit, ob die Melkmaschine mit Laser nicht doch vielleicht die Rettung wäre. Andreas, der Bruder des Toten (gespielt Maximilian Gruber-Fischnaller) findet schon. Er denkt auch, dass Kühe gern Musik hören und sonst denkt er eigentlich nicht viel, könnte man meinen – aber da meint man falsch. Denn Andreas denkt. Andreas denkt nach Schema F, nach Handbuch, nach dem, was ihm die Gesellschaft, diese abstrakte Entität, die kaum greifbar scheint und die man doch auch selbst ist, eingeimpft hat. Andreas möchte nach den Maßstäben einer überholten Vorstellung von Männlichkeit alles richtig machen und macht gerade deshalb alles falsch. Im Stück ist es Paul, der die provinzielle Bigotterie mit Knochenbrüchen bezahlen muss, weil ihm Andreas eine überzieht. In der Wirklichkeit heißen sie anders, aber sie sind überall. Die Toms und Pauls, für die das Heranwachsen in erster Linie bedeutet, zu verinnerlichen, wie man sein muss, damit man nicht so ist, wie man eigentlich ist. Und auf der anderen Seite die Andrease, die glauben, ein Wertekonstrukt verteidigen zu müssen, welches konservieren will, dabei aber Unheil anrichtet und am meisten ihnen selbst schadet.

Wie man auf dem Lande überlebt: Schlag zu, wenn dich jemand beleidigt, schau niemandem länger als zwei Sekunden in die Augen und vor allem: Sei bloß nicht ehrlich.

Wozu das Sperma der Schwulen denn überhaupt nützlich wäre, fragt Andreas, der sich seine Hemden selbst bügelt, weil Bauer sucht Frau und findet keine. Man darf davon ausgehen, dass er dem Dorfpfarrer dieselbe Frage noch nie gestellt hat. Die Mutter hält einen Schuhkarton in der Hand, ein Schuhkarton voll von dem, was von einem Leben halt so übrigbleibt: Die erste Krawatte, Zeugnisse, ein Tagebuch. Darin hatte der Tote notiert, wie man auf dem Lande überlebt: Schlag zu, wenn dich jemand beleidigt, schau niemandem länger als zwei Sekunden in die Augen und vor allem: Sei bloß nicht ehrlich. Alles, was Mann beachten muss, um sich einer Gesellschaft anzupassen, in der es eigentlich keinen Platz für einen wie ihn gibt. Denn Vielfalt ist bekanntlich kein Grundsatz einer toxischen Maskulinität, die, wie die konventionelle Landwirtschaft übrigens, eher auf Monokultur setzt. Dabei wäre es zu einfach, diesen Konflikt als Stadt-Land-Konflikt abzutun, den der Regisseur Joachim Goller vielschichtig inszeniert. Es ist ein Konflikt, der mehr mit der Angst vor dem Anderen, dem Fremden, dem Unbekannten zu tun hat und der überall stattfinden kann und de facto stattfindet. Auf dem Land wie in der Stadt. Stärker akzentuiert scheint er allerdings in der Provinz, weil der Kontakt mit dem Anderen naturgemäß seltener stattfindet und damit auch die positiven Erfahrungen mit dem Fremden ausbleiben.

Jetzt ist Tom also auf dem Land, ein Land wie Südtirol etwa, aber noch strukturschwächer, noch viel mehr von der Abwanderung der Jungen betroffen. „Entschuldigen Sie bitte, dass es hier so schmutzig ist“, wiederholt die Mutter des Toten automatisiert, wenn jemand an der Türe steht, und meint damit vielleicht weniger den Dreck an den Wänden, als die Verschlossenheit, Stagnation und Regression ihrer Region. Und Tom lernt, wie es so läuft, auf dem Land. Andreas hingegen lernt, nachdem er Tom zur Begrüßung in den Schwitzkasten genommen hat, dass abstrakte Kategorien wie „die Schwulen“ im Individualfall eigentlich ganz feine Menschen sind. Die sogar mithelfen, den Stall auszumisten. Eine Begegnung, die vielleicht ein Happy End werden könnte, denkt man, als sie zur Musik durch den Stall tanzen, weil Andreas überzeugt ist, dass die Kühe Musik lieben. „Domani l’amore vincerà“ dröhnt es aus den Boxen, weil dann nicht nur die Kühe mehr Milch geben, sondern auch die Menschen glücklicher sind. Ein kurzer Moment der Leichtigkeit, der ein Happy End antizipiert oder zumindest eine Ahnung davon, dass „happy“ nur einen Handstreich entfernt läge, eigentlich greifbar, im Domani eben. Es könnte so leicht sein. Es könnte so schön sein, wenn man dem Feindbild mal länger als zwei Sekunden in die Augen schaut und feststellt, huch, am Ende ist der ja genau so viel Mensch wie ich. Aber leider — domani kommt nicht oder jedenfalls nicht so, wie man es sich wünschen würde.

Die Gesellschaft stellt sich bekanntlich nicht auf den Einzelnen ein, es sind die Einzelnen, die sich auf ihre Gesellschaft einstellen müssen. Und das tun sie alle bis hin zur Selbstaufgabe.

Wir müssen alle lernen, wie die Gesellschaft funktioniert, in die wir zufällig hineingeboren werden. Erziehung bedeutet vorwiegend, gesellschaftsfähig zu werden — egal, wie weit die jeweilige Gesellschaft von der eigenen Bedürfnislage entfernt ist. Das alte Dilemma: Die Gesellschaft stellt sich bekanntlich nicht auf den Einzelnen ein, es sind die Einzelnen, die sich auf ihre Gesellschaft einstellen müssen. Und das tun sie alle bis hin zur Selbstaufgabe, verinnerlichen Muster und Vorurteile und wundern sich, warum das mit dem Glücklichsein irgendwie nie geklappt hat. Andreas ist nicht einfach böse, er will nur alles richtig machen nach dem Maßstab einer Gesellschaft, deren Bigotterie und Brutalität Teil ihres Unterganges sind: Auf dem sinkenden Schiff hält man rigide Wertvorstellungen versehentlich für den Rettungsring, wo sie doch der eigentliche Eisberg sind.

Es endet, wie es enden muss — im Gewaltexzess. Über die gesellschaftlichen Zwänge, von denen man bis zum Schluss das Gefühl hat, dass sie weniger eine tatsächliche Realität als vielmehr eine verunglückte Eigeninterpretation von Möglichkeiten sind, kommen sie alle nicht hinweg. Und ehrlich sind sie auch nicht. Aber die Wahrheit ist, dass man sie sagen muss, damit sie zur Möglichkeit wird. Und dass man sie gerade dann sagen muss, wenn man glaubt, es nicht tun zu dürfen. Weil die Wahrheit möglicherweise eine Chance für alle sein könnte.

Jörg Oschmann & Barbara Plagg

von Michel Marc Bouchard

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