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Mit einem Reagenzglas und einem Fischernetz bewaffnet, machte ich mich mit ein paar anderen Studierenden im Herbst 2015 auf die Jagd nach Loki. Unser Ziel war das abendlich-kühle, schlammige Ufer der Donauinsel. Wir wurden begleitet von Tim Urich und Christa Schleper, die den Laborkurs leiteten. Natürlich waren wir nicht auf der Suche nach Loki, dem nordischen Gott aus den Marvel-Filmen, den hätten wir mit unserem mickrigen Netz auch nicht gefangen. Für alle, die den Marvel-Loki und sein mythologisches Vorbild nicht kennen: er ist der Gott der Trickserei und sehr schwer einzufangen. Unsere Laborgruppe suchte damals also nicht nach einem nordischen Gott/Superhelden, sondern nach einem winzigen Organismus, den die beiden Professor:innen im Uferschlamm vermuteten. Eine Woche – und zahlreiche Experimente – später war die kleine Sensation perfekt: Wir hatten Loki-Archaeen in der Donau gefunden.
Ein Tiefseeschloss voller Universalisten
Was war aber so besonders an diesen kleinen Kerlchen? Um diese Frage zu beantworten, müssen wir zuerst weit in den Norden reisen, und zwar zu einem Tiefseevulkan, der wegen seiner fünf aufragenden Schlote von seinen Entdeckern „Loki’s Schloss“ getauft wurde. Hier in völliger Dunkelheit im bis zu 300 Grad heißen Wasser wurden die Loki-Archaeen zum ersten Mal entdeckt.
Archaeen sind die ultimativen Überlebenskünstler. Ich habe sie deswegen auch schon mal in dieser Ausgabe von Science Shorts beschrieben. Aber ich finde, sie verdienen ihre eigene Kolumne, nicht zuletzt, weil nur die wenigsten schon mal etwas von Archaeen gehört haben. Dabei sind sie neben Bakterien und Eukaryoten (zu denen auch alle mehrzelligen Lebewesen, wie Bäume, Tiere, Insekten etc. zählen) eine der drei Domänen des Lebens. Wenn man sich die Entwicklung des Lebens als Baum vorstellt, sind ganz unten drei große Äste – und Archaeen sind einer davon.
Tiefe Temperaturen, hohe Drücke und hohe Salzkonzentrationen (und manchmal alles gemeinsam) sind für viele Archaeen kein Problem.
Archaeen haben sich noch viel mehr als alle anderen Domänen in extremen Lebensräumen ausgebreitet. Der temperaturresistenteste Organismus? Ein Archaeum! Auch tiefe Temperaturen, hohe Drücke und hohe Salzkonzentrationen (und manchmal alles gemeinsam) sind für viele Archaeen kein Problem. Fortschritte in der Genomsequenzierung, also der Entschlüsselung des Erbguts, brachten aber zu Tage, dass sich Archaeen nicht nur in extremen Lebensräumen ausgebreitet haben, sondern dass es sie einfach überall gibt, manchmal sogar auf unserer Haut und in unserem Darm. Durch diese Technologie, bei der man ein bestimmtes Lebewesen in einer Probe durch seine DNA nachweisen kann, fanden wir damals im Laborkurs heraus: Auch Loki ist ein Universalist und fühlt sich sowohl neben rauchenden Tiefseeschloten als auch auf der Wiener Donauinsel wohl.
Wir sind Loki
Das ist aber bei Weitem nicht das einzige, das Loki so faszinierend macht. Denn die Loki-Archaeen können uns einen Einblick in unsere eigene Entstehung geben. Wir Menschen gehören – zusammen mit Pflanzen, Insekten, Pilzen – zu den sogenannten Eukaryoten, den „echten“ Zellen. Was Eukaryoten so besonders macht, ist, dass sie vielzellige Organismen ausbilden können. Denkt an unseren Körper. Jede unserer Zellen hat das gleiche Erbgut. Aber wir bestehen aus Haut und Leberzellen, aus Knochen und Haarzellen und aus tausenden anderen verschiedenen Ausprägungen, die nur im Zusammenspiel funktionieren. Eukaryoten können also viel komplexer werden als einzellige Bakterien oder Archaeen. Das verdanken wir vor allem zwei Eigenschaften, die uns wahrscheinlich erlaubten, vielzellige Organismen zu bilden. Einerseits ist unsere DNA im Zellkern verpackt und gut geschützt, was uns komplexere Gene erlaubt. Zusätzlich haben unsere Zellen ihre eigenen Kraftwerke, mit denen wir Energie erzeugen. Diese Kraftwerke waren ganz früher (also vor ca. zwei Milliarden Jahren) einmal eigenständige Bakterien, die von unseren entfernten Vorfahren aufgefressen oder mit ihnen so eng zusammengearbeitet haben, dass sie irgendwann Eins wurden. Wir tragen somit in jeder unserer Zellen die Überreste von Bakterien herum, die uns mit Energie versorgen. Auch Pflanzen haben einen solchen bakteriellen Begleiter, der die Photosynthese übernimmt.
Aber wer war dieser mysteriöse Vorfahr, der unsere Bakterien gefressen hat und unsere Zellen so zu dem gemacht hat, was sie heute sind? Viel deutet darauf hin, dass es Loki – oder genauer gesagt einer seiner verwandten Vorfahren der Gruppe der Asgardarchaea – war. Wir stammen also höchstwahrscheinlich von der Loki-Familie ab und der Baum des Lebens, an dem ganz unten drei Äste stehen, hat beim genaueren Hinsehen zwei.
Ein Plastilin-Modell eines Lokiarchaeums.
Zusammenarbeit in der Ursuppe
Seit unserem Fund in der Donau sind weltweit noch viele andere Mitglieder der Asgard-Familie entdeckt worden, etwa die Thor-Achaea oder die Heimdahl-Archaea. Man kann sie inzwischen auch im Labor züchten, was kein einfaches Unterfangen ist, bedenkt man, dass sie keinen Sauerstoff vertragen, am liebsten Wasserstoff essen und die Dunkelheit lieben. Sieht man sich den Aufbau der Loki-Archaeen genauer an (im Bild), kann man es sich förmlich vorstellen, wie seine kleinen Tentakelchen um das Ur-Bakterium heranwachsen und es irgendwann ganz in sich aufnehmen. Eine enge Zusammenarbeit hilft nicht nur heute in extremen Lebensräumen, sie war auch schon vor zwei Millionen Jahren in der Ursuppe von großem Vorteil. Wir komplexen Lebewesen sind also nicht nur das Produkt eines erbarmungslosen Konkurrenzkampfes, sondern auch einer tiefgreifenden Zusammenarbeit.
Manche Archaeen sind „Methan-Fresser“ in Ozeanen und Böden und bremsen so den Klimawandel.
Winzige Organismen – globale Kreisläufe
Nicht nur für unsere Vergangenheit, sondern auch für unsere Gegenwart sind Archaeen zentral. Sie spielen eine Schlüsselrolle in globalen Stoffkreisläufen: Methanbildende Archaeen helfen Wiederkäuern in ihrem ersten Magen, die unverdauliche Zellulose aus Gras zu verwerten. Sie tragen auch zum Methanausstoß von Reisfeldern bei und befeuern damit den Treibhauseffekt. Andere Archaeen sind dagegen „Methan-Fresser“ in Ozeanen und Böden und bremsen so den Klimawandel. Außerdem recyceln sie oft Nährstoffe, die von anderen Organismen niemals verwertet werden könnten, von Methan über bestimmte Stickstoffverbindungen bis hin zu Schwefel und purem Wasserstoff. Die Bandbreite davon, was Archaeen alles essen und veratmen können, ist bemerkenswert. Durch diese Vielfalt sichern sie die Stabilität von Ökosystemen, die ohne sie nicht existieren könnten, etwa in Lokis Schloss in tausenden Metern unter dem Meer. Unsichtbar und unscheinbar regulieren Archaeen also, wie viel Kohlenstoff, Stickstoff oder Schwefel im Umlauf ist – und damit auch das Klima, von dem wir alle abhängen. Ein besseres Verständnis dieser Kreisläufe ist deshalb ungemein wichtig bei der Bekämpfung der Klimakrise. Womit wir wieder beim Ausgangsproblem wären: Keiner kennt diese wunderbaren Kleinstlebewesen und sie sind viel zu wenig erforscht.
Nicht gefährlich, aber trotzdem wichtig
Ich glaube, Archaeen haben einerseits ein Imageproblem, weil sie so klein und unspektakulär aussehen und die meisten von ihnen sehr schwer im Labor zu züchten sind. Lange dachte man sogar, sie wären Bakterien. Vor allem aber sind sie einfach zu nett. Jede:r von uns kennt Bakterien und Viren, weil sie uns krankmachen. Die Bekämpfung von Bakterien mit Antibiotika und die Impfungen gegen Viren haben Millionen, vielleicht sogar Milliarden von Leben gerettet. Es gibt aber kein einziges pathogenes, also krankmachendes, Archaeum und dafür sollten wir dankbar sein. Wer nämlich in extremen Situatiuonen überleben kann, ist auch quasi per Definition schwer loszuwerden. Würde also ein Archaeum pathogen werden, hätten wir nicht nur kein Medikament dagegen, sondern auch unser Immunsystem wäre völlig machtlos. Zum Glück ist das aber sehr unwahrscheinlich, weil Archaeen lieber andere Organismen in Ruhe lassen, anstatt sie zu zerstören.
Trotzdem würde es viel mehr Forschung an diesen kleinen außergewöhnlichen Lebewesen brauchen, weil sie eben eine Schlüsselrolle in globalen Stoffkreisläufen haben und weil sie uns helfen könnten, unseren Müll zu beseitigen und wertvolle Materialien und Chemikalien herstellen könnten. Und nicht zuletzt, weil sie einfach faszinierend sind.
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