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Ein zentraler Bestandteil unserer menschlichen Entwicklung ist die Jagd. Wir sind evolutionär so erfolgreich, weil wir effizient jagen konnten. Die frühen Menschen haben es geschafft, mit relativ wenig Aufwand relativ viel Nahrung zu beschaffen, was ihnen mehr Zeit gab, Werkzeuge und Fähigkeiten zu entwickeln, die sie noch effizienter machten. Im gleichen Atemzug wird aber oft auch behauptet, dass mit der Jagd eine klare, „natürliche“ Rollenverteilung verbunden ist. Männer waren Jäger, während Frauen sich als Sammlerinnen gleichzeitig um Kinder und Haushalt kümmerten. Lange war das die gängige Lehrmeinung unter Archäolog:innen und Anthropolog:innen. Neueste Forschungen zeigen aber, dass Frauen sehr wohl auch Jägerinnen waren. Aber wie konnte sich die Theorie vom jagenden Mann und der sammelnden Fau so lange und hartnäckig halten?
Alte Funde – alte Vorurteile
Aktuelle Vorstellungen der Gesellschaft spiegeln sich in der Forschung wider, meistens unbewusst und ohne Absicht. Auch wenn wir Wissenschaftler:innen versuchen, mit verschiedenen Methoden so objektiv wie möglich zu sein, wird es niemals ganz gelingen, die Werte, Annahmen und Interpretationsmuster unserer Zeit vollständig auszublenden. Es ist also kein Wunder, dass auch in der Archäologie, die wie die meisten Wissenschaften eine Männerdomäne war, der Blick auf die prähistorischen Funde oft durch die patriarchale Brille ging.
„Das muss ein mächtiger Jäger gewesen sein.“ Bei einem weiblichen Skelett hingegen: „Das muss die Frau eines mächtigen Jägers gewesen sein.“
Eine aktuelle Studie untersuchte diesen sogenannten bias systematisch: Die Wissenschaftler:innen nahmen sich steinzeitliche Fundstellen aus verschiedenen Regionen vor und analysierten die Daten neu. Dabei fanden sie heraus, dass viele der Funde weiblicher Skelette anders klassifiziert wurden, als die der männlichen. Wurde ein männliches Skelett mit einem spitzen Werkzeug gefunden, klassifizierten Archäolig:innen es als Jagdwaffe, bei einem weiblichen Skelett wurde es prompt zum Küchenmesser. Wurden Grabbeigaben, die auf besondere Fähigkeiten bei der Jagd hinweisen, bei männlichen Skeletten gefunden, meinten die Archäologen: „Das muss ein mächtiger Jäger gewesen sein.“ Bei einem weiblichen Skelett hingegen: „Das muss die Frau eines mächtigen Jägers gewesen sein.“ Die Neubewertung der alten Funde ergab, dass es in rund der Hälfte der dokumentierten steinzeitlichen Gesellschaften sehr wohl weibliche Jägerinnen gab – ein Befund, der sich mit einer Neubewertung anthropologischen Studien heute lebender Jäger und Sammlergesellschaften deckt.
Eine weitere Quelle für die irrtümliche Klassifikation waren die Skelette selbst. Man kann normalerweise Skelette von Männern und Frauen mit freiem Auge unterscheiden, etwa anhand der Beckenknochen. Sind die Skelette aber unvollständig oder entsprechen nicht der „typischen Physiologie„ gab es in der Zeit vor der Laboranalyse keine Möglichkeiten, das Geschlecht zu bestimmen. Man verließ sich also auf die Grabbeigaben. Waren diese „typisch männlich“, wurde auch das Skelett als Mann klassifiziert – ein patriarchaler Teufelskreis. So wurde etwa diese Wikinger-Kriegerin lange für einen Krieger gehalten, bis eine DNA-Analyse sie als biologisch weiblich identifizierte.
Neue Technik – mehr Vielfalt
Diese und ähnliche Studien halfen der Wissenschaftscommunity, sich immer wieder selbst zu hinterfragen. Auch neue Technologien beim Bestimmen von Skeletten, etwa mithilfe von konservierter DNA oder seit neuestem durch Proteine im Zahnschmelz, helfen dabei, historische Funde besser zu bestimmen und unsere Urahnen besser zu verstehen. Heraus kommen immer wieder Überraschungen.
Ob die Neubewertungen und der neue Fokus auf die vielfältigen Rollen von Frauen in der Vergangenheit auch ein Produkt unserer heutigen Zeit sind? Natürlich!
Bei der Neubewertung alter Funde hilft auch, dass die Archäologie – wie viele andere Fachgebiete – immer weiblicher und diverser wird. Neue Blickwinkel und Herangehensweisen helfen manchmal, mit althergebrachten Traditionen zu brechen und Kolleg:innen zu sensibilisieren. So bekommen wir stückweise ein immer detaillierteres Bild von unserer frühesten Geschichte.
Ein wissenschaftlicher Streit – eine gesellschaftliche Frage
Ob die Neubewertungen und der neue Fokus auf die vielfältigen Rollen von Frauen in der Vergangenheit auch ein Produkt unserer heutigen Zeit sind? Natürlich! In der Anthropologie:innen-Community wird über die Bedeutung von Arbeitsteilung und über die zugrundeliegenden Daten gerade heftig gestritten. Auch die Wissenschaftler:innen unserer Zeit sind gegen den sozialen Einfluss auf ihre Forschung nicht immun.
Wir sollten uns fragen, warum es überhaupt so wichtig ist zu betonen, dass auch Frauen etwas tun, das wir als männerdominiert betrachten. Oder warum die Jagd anscheinend ein so mächtiges Symbol für Stärke und Erfolg ist und andere, ebenso wichtige Bereiche des Jäger- und Sammler:innenlebens nicht. Verstärkt diese implizite Wertung von verschiedenen Qualitäten nicht im Endeffekt bestehende Machtstrukturen in unserer heutigen Gesellschaft?
Was ist schon „natürlich“?
Die Studien darüber, wer jagt und wer nicht, zeigen vor allem, dass Gesellschaften verschieden gestaltet werden können. Es gibt nicht die eine, „natürliche“ Art und Weise, wie wir zusammenleben. Männer können jagen, Frauen sammeln und manchmal machen sie alles gemeinsam.
Es stimmt, dass es statistisch messbare Unterschiede zwischen den Geschlechtern gibt, etwa bei Interessen oder bestimmten Fähigkeiten. Aber Statistik beschreibt Gruppen, nicht Individuen.
Man sollte deshalb denjenigen, die mit einem angeblich „natürlichen“ Zustand, bestehende Ungerechtigkeiten verteidigen, wie zum Beispiel Jordan Peterson mit seinen berühmt-berüchtigten Hummern (hier ein fundierter take-down dieser wirklich bescheuerten Theorie), mit einer gehörigen Portion Skepsis begegnen.
Nature oder Nurture?
Am Ende laufen diese Debatten immer auf die Frage hinaus, was die Unterschiede bedingt. „Nature or Nurture“, also die Natur oder das soziale Umfeld? Einig sind sich Expert:innen nur in dem Punkt, dass beides eine Rolle spielt. Es ist aber schwer zu sagen, welche Unterschiede angeboren und welche gesellschaftlich geprägt sind.
Es stimmt, dass es statistisch messbare Unterschiede zwischen den Geschlechtern gibt, etwa bei Interessen oder bestimmten Fähigkeiten. Aber Statistik beschreibt Gruppen, nicht Individuen. Im Einzelfall ist es meistens kompliziert und nicht einmal die biologische Unterscheidung zwischen Mann und Frau ist trivial. Auch unsere Gehirne bestehen aus einem einzigartigen Mosaik aus „typisch“ männlichen und „typisch“ weiblichen Anteilen. Ob jemand sich für Pfeil und Bogen begeistert oder lieber Beeren sammelt, lässt sich weder im Gehirnscan, noch in unserem Körperbau zuverlässig ablesen.
Wir sollten gesellschaftliche Barrieren abbauen wo wir können und anerkennen, dass es zum Funktionieren einer Gesellschaft vielfältige Eigenschaften braucht (Care-Arbeit lässt grüßen).
Viel sinnvoller als ewige Debatten über „Natur oder Erziehung“ wäre deshalb ein bisschen Pragmatismus: Wir sollten gesellschaftliche Barrieren abbauen wo wir können und anerkennen, dass es zum Funktionieren einer Gesellschaft vielfältige Eigenschaften braucht (Care-Arbeit lässt grüßen). Vor allem aber sollten wir Menschen ermutigen, das zu tun, was zu ihnen passt, und nicht zu ihrem Geschlecht.
Mädels, wenn ihr also Pfeil und Bogen in die Hand nehmen wollt, lasst euch nicht von steinzeitlichen Meinungen davon abhalten und Jungs, wenn ihr lieber Pilze sammeln geht, ist das auch gut (aber nur an geraden Tagen).
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