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Irina Angerer
Veröffentlicht
am 12.05.2024
MeinungKommentar zum internationalen ME/CFS Tag

Ein Text, den ich nie schreiben wollte

Veröffentlicht
am 12.05.2024
Am heutigen 12. Mai ist Muttertag. Aber es ist auch der Geburtstag von Florence Nightingale und internationaler „ME/CFS Awareness Day“. Für alle, die davon noch nie gehört haben: Das ist eine postinfektiöse neuroimmunologische Krankheit und die schwerste Form von Post Covid. Obwohl seit 1969 anerkannt und Millionen von Betroffenen weltweit gibt es bis heute keine einzige zugelassene Therapie. Ein wütender Kommentar.
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Fotocredits_Lea_Aring_und_Deutsche_Gesellschaft_für_ME-CFS_070

Für diesen Text werde ich büßen müssen. Und das meine ich nicht, weil ich Details aus meinem Privatleben veröffentliche und das später bereuen könnte. Weil sind wir ehrlich, über diesen Punkt sind viele von ME/CFS- und Post-Covid-Betroffene schon längst hinaus. Ein großer Teil betreibt (un-)freiwillig Aktivismus: gibt Interviews für Zeitungen, spricht in Podcast oder teilt den Alltag als chronisch kranke Person auf Instagram. Denn noch schlimmer als sich vor einer unbekannten Masse zu präsentieren, ist es, überhaupt gar nicht erst gesehen zu werden. Weder im eigenen Familien- und Freundeskreis noch von Ärzt:innen und Ämtern und schon gar nicht von der Politik.

Ich werde büßen müssen, weil ich das nach jeder Anstrengung muss. Dann fühlen sich meine Muskeln an, als würden sie gerade zerreißen. Meine Hände und Füße brennen, mir wird schwindelig und mein Kreislauf bricht zusammen. Am schlimmsten aber ist es, sich vor Muskelschwäche nicht mehr auf den Beinen halten zu können und sich zu fühlen wie mit 41 Grad Fieber. Das tritt ein, wenn ich über meine Grenzen gehe. Vor einigen Wochen waren das ein paar Schritte am Tag zu viel, momentan reicht es, wenn ich mir die Haare wasche.

ME/CFS ist auch keine „chronische Erschöpfung“ oder „chronische Müdigkeit“, wie gerne synonym verwendet wird, sondern eine schwere neuroimmunologische Erkrankung, die häufig zu einem hohen Grad an körperlicher Behinderung führt.

ME/CFS ist nicht selten, auch wenn es medial gerne so betitelt wird. Um genau zu sein, sind weltweit 17 Millionen Menschen betroffen – vor der Pandemie. Laut führenden Forscher:innen wie Carmen Scheibenbogen von der Charitè Berlin wird die Anzahl der Betroffenen seit Covid-19 auf das Doppelte steigen. ME/CFS ist auch keine „chronische Erschöpfung“ oder „chronische Müdigkeit“, wie gerne synonym verwendet wird, sondern eine schwere neuroimmunologische Erkrankung, die häufig zu einem hohen Grad an körperlicher Behinderung führt. Die Symptome sind auch nicht dieselben, wie bei einer Depression und es stimmt auch nicht, dass es keine messbaren Anhaltspunkte gibt. Der Krankheit liegt wahrscheinlich eine Fehlregulation des Immunsystems und des autonomen Nervensystems zugrunde. Mittlerweile sind zahlreiche Begleitsymptome oder -krankheiten wie POTS, Mastzellaktivierungssyndrom, Small Fiber Neuropathie oder Immundefekte bekannt.

Alleine in Deutschland sind rund 250.000 Menschen an ME/CFS erkrankt.

Ich bin mir sicher, dass die meisten Betroffenen diese Fakten und Namen mittlerweile auswendig kennen. Sie erwähnen sie in Gesprächen mit Bekannten, medizinischem Personal oder in ihrer Instagram-Stories. Immer wieder einmal, in regelmäßigen Abständen, ganz bestimmt aber heute. Denn am 12. Mai ist dieses Jahr nicht nur Muttertag, sondern auch der internationale ME/CFS-Tag. Dieser findet seit Anfang der 1990er-Jahre am Geburtstag von Florence Nightingale statt. Unterstützer:innen weltweit versammeln sich auf öffentlichen Plätzen und stellen dort aufgereiht Schuhpaare hin. Sie wollen damit auf die Menschen aufmerksam zu machen, die aufgrund ihrer Krankheit nicht mehr am öffentlichen Leben teilnehmen können und infolgedessen aus dem Blickfeld der Gesellschaft verschwinden. Was aber hat die Begründerin der heutigen westlichen Krankenpflege mit ME/CFS zu tun? Florence erkrankte, nachdem sie sich mit dem Krimfieber angesteckt hatte, an einer mysteriösen Krankheit. Sie war jahrzehntelang bettlägerig und die Symptome ähnelten denen von ME/CFS-Betroffenen.

Bis heute bekommt die Krankheit gemessen an der Schwere und Anzahl der Betroffenen

Obwohl es schon vorher Berichte von Epidemien mit postinfektiösen mysteriösen Symptomen gab, wurde ME/CFS zum ersten Mal 1934 vom S. Public Health Service beschrieben. Die World Health Organisation (WHO) stuft ME/CFS seit 1969 als neurologische Erkrankung ein und bis heute gibt es kaum Forschung dazu und keine Therapie. Im Gegensatz dazu, dauerte es von der ersten Beschreibung von HIV/AIDS bis zur Entwicklung einer Therapie weniger als ein Jahrzehnt. Im Jahr 1955 wurde ME/CFS nach einem cluster-Ausbruch in den USA als „mass hysteria“ bezeichnet. Die „New York Times“ titelte, es sei eine „Yuppie Flu“. Viele Kinder mit ME/CFS wurden ihrer Familie entrissen und den Eltern ein Münchhausen-Syndrom unterstellt. Mediziner:innen wollten keine ME/CFS-Patient:innen mehr sehen, da sie meinten, sie beanspruchen viel zu viel Zeit. US-amerikanischen Forscher:innen wurde gesagt, dass Studien zu ME/CFS nicht für ihre Promotion gültig sein würden. Und bis heute bekommt die Krankheit gemessen an der Schwere und Anzahl der Betroffenen kaum Forschungsgelder.

Verwaiste Schuhe am 12. Mai 2023 am Wiener Heldenplatz, um auf
ME/CFS aufmerksam zu machen.

Auch das ist unfreiwilliges Wissen, das ich mir seit Beginn meiner Erkrankung angeeignet habe. Fast fünf Jahre sind seitdem vergangen. Und glaubt mir, ich hasse es, dass ich all diese Zahlen, Namen und Begriffe kenne. Ich hasse es auch, dass ich diesen Text hier schreibe, wohl wissend, dass es nicht mein letzter zu diesem Thema sein wird. Ich wünschte, wir könnten uns heute unsere Trekkingschuhe anziehen und am 12. Mai mit unseren Mamas wandern gehen, anstatt sie auf einen Platz zu stellen. Ich bin mir sicher, dass Florence uns das auch gewünscht hätte.

Friedman, Kenneth J. (2019): Advances in ME/CFS: Past, Present and Future. In: Frontiers in Pediatrics. Volume 7. Article. 131. April 2019.

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