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Hallo du, hier ist wieder mal Robin.
Robin, der Alkoholiker. Es ist schon krass, es fällt mir gar nicht mehr so schwer, mich so zu bezeichnen. Und hey, weißt du was (SPOILER: Keine Lüge!): Heute sind es 66 Tage ohne Alkohol. 66 Tage ohne Rückfall.
Ich habe mir eine kleine, süße App installiert. Ab und zu schau ich da rein – nicht immer (das würde mich nur wahnsinnig machen, es gibt ja keine Deadline). Aber oft ist es einfach schön und eine Bestätigung zu sehen, wie weit ich schon gekommen bin.
Ich sitze – wie jedes Mal, wenn ich diese Zeilen schreibe – in der Bar, die mittlerweile wie eine Art Therapieort für mich geworden ist. Die Situation ist die gleiche wie beim ersten und zweiten Mal: Auf jedem Tisch steht Alkohol. Nur auf meinem nicht. Ich muss sagen: Die letzten Male war ich abends hier. Jetzt gerade ist es 13 Uhr.
Ich möchte dir heute vom sogenannten „Leben danach“ erzählen. Vom Leben nach dem Alkohol. Denn eines kann ich dir sagen: Es ist ein anderes Leben.
Auf meinem Tisch stehen eine halbe Flasche stilles Wasser und ein Iced Latte. (Spätestens jetzt müssten die ersten Personen, die mich gut kennen, wissen, wer ich bin 😉.) Heute habe ich keinen Druck. Es ist Mittwoch. Aber weißt du was? Auch an Freitagen und Samstagen ist der Druck viel weniger geworden – und das freut mich wahnsinnig.
Ich möchte dir heute vom sogenannten „Leben danach“ erzählen. Vom Leben nach dem Alkohol. Denn eines kann ich dir sagen: Es ist ein anderes Leben.
Und vor diesem Leben hatte ich in meiner doch durchaus erfolgreichen Trinkerkarriere immer Angst. Während ich zwischen Nüchternheit und dem Highway to Hell hin und her schwankte, hat mich oft der Gedanke gequält: Wie soll ich es schaffen, nie wieder zu trinken? Wie soll ich zukünftige Geburtstage feiern? Wie soll ich Silvester feiern? Ich kann doch nicht nüchtern ins neue Jahr rutschen, da verliert der gute Rutsch ja komplett an Bedeutung.
Aber weißt du was? Es funktioniert. Und ja, es ist ein anderes Leben. Ein neues Leben mit vielen Veränderungen. Dinge sind nicht mehr gleich. Aber sie sind nicht schlimmer. Nein, im Gegenteil: Es geht mir so gut wie selten zuvor.
Und das beste Beispiel ist dieser Sommer. Klar, „Sommer“ ist vielleicht übertrieben, es regnet gefühlt ständig. Aber trotzdem ist es für mich einer der spannendsten Sommer seit Langem. Warum?
Du musst wissen: Im Sommer hatte ich Hochsaison. Ich musste regelrecht planen, wo ich hingehe, oder besser gesagt, wo ich mich betrinken will. Es gab gefühlt jedes Wochenende ein Event. Und das allein war für mich schon Grund genug hinzugehen. Nicht, weil mich die Veranstaltung interessierte, sondern weil ich dort trinken konnte.
Sollte ich jetzt aufhören? Oder wäre es klüger, bis September zu warten?
Deswegen war der Sommer, der kurz bevorstand, am Tag meiner Entscheidung ein Grund zu zweifeln. Sollte ich jetzt aufhören? Oder wäre es klüger, bis September zu warten? Aber Moment – im September ist doch diese eine Feier, auf die ich mich schon lange freue. Und im November macht wieder der Weihnachtsmarkt auf. Und im Februar ist Fasching. Und im März riecht es wieder nach Frühling, und man kann sich mit einem Bier an den Fluss setzen. Ich glaube, du verstehst, worauf ich hinauswill.
Diese Gedanken, diese Ausreden, waren der Grund, warum ich eineinhalb Jahre gebraucht habe, um aufzuhören. Weil ich solche Angst vor diesem neuen Leben hatte. Und das bringt mich zu drei wichtigen Punkten, die für mich entscheidend waren:
1. Nur an 24 Stunden denken
Ich denke immer nur an den heutigen Tag. Denn der ist machbar – das kann ich dir versprechen. Wenn ich jetzt, nach 66 Tagen Nüchternheit, an den Weihnachtsmarkt denke, macht mich das wahnsinnig. Nein – sobald er öffnet, gehe ich hin und sage mir: nur heute. Und wenn ich abends im Bett liege, bin ich stolz. Und dieser Stolz? Den kann kein Rausch der Welt ersetzen.
2. Die Einsicht
Für mich war die Einsicht nach meinem Rückfall der eigentliche Wendepunkt. Davor hatte ich immer wieder Pausen: ein Monat, zwei Monate. Aber ich habe mir nie wirklich eingestanden, dass ich ein Problem habe. Und wenn man das nicht tut, denkt man sich nach einem Monat: „Hey, ich kann’s ja eh.“
Du kannst Momente für die Ewigkeit erleben. Und das Beste daran: Am nächsten Tag sind sie noch da.
Jetzt ist es anders. Ich musste mich auf dieses neue Leben einlassen. Und dieses neue Leben bringt neue Erfahrungen mit sich. Aber lass mich dir sagen: Diese Erfahrungen sind auch nüchtern möglich. Ich erkläre dir, was ich meine:
Du kannst bis fünf Uhr morgens feiern. Du kannst tiefe Gespräche führen – und die fühlen sich (zumindest für dich) wirklich tief an. Du kannst Momente für die Ewigkeit erleben. Und das Beste daran: Am nächsten Tag sind sie noch da. In deinem Kopf. Nicht ausgelöscht, nicht verzerrt.
3. Achtsam bleiben
Ich glaube, das Wichtigste ist, achtsam zu bleiben und nicht fahrlässig zu werden. Deswegen versuche ich jede Woche zu den Gruppentreffen zu gehen – auch wenn ich oft viel um die Ohren habe. Aber es zahlt sich jedes Mal aus. Weil ich dort immer wieder daran erinnert werde, warum ich das alles mache. Und weil es oft auch darum geht, über Gefühle zu sprechen – Gefühle, die man früher vielleicht mit Alkohol kompensiert hat. Ich muss mich selbst immer wieder daran erinnern, warum ich diesen Weg gewählt habe.
Wenn du diesen Text liest und dir selbst schon mal Gedanken über deinen Konsum gemacht hast – oder jemanden kennst, bei dem du ein ungutes Gefühl hast – möchte ich dir etwas sagen: Ja, es ist ein neues Leben. Ja, es ist schwer, sich das einzugestehen. Und ja, es braucht Zeit, das alles zu verstehen.
Es war die beste Entscheidung, die ich jemals getroffen habe.
Aber: Es zahlt sich aus. Jeder einzelne Tag zahlt sich aus.
Es war die beste Entscheidung, die ich jemals getroffen habe. Und ich verspreche dir: Es ist möglich. Und glaub mir – es gibt viele großartige Menschen da draußen, die dich unterstützen, wenn du bereit bist.
Mein Name ist Robin. Ich bin Alkoholiker. Ich bin seit 66 Tagen nüchtern.
Und an Tag 100 werde ich dir meinen richtigen Namen verraten. Weil es an der Zeit ist, dieser Krankheit einen Platz zu geben. Weil sie mich nicht mehr schwächt.
Weil ich stärker bin als je zuvor.
Bis bald. Schau auf dich – und auf deine Mitmenschen.
Support BARFUSS!
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