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Wolfgang Mayr
Veröffentlicht
am 16.11.2023
MeinungKommentar über die jüdischen Gemeinden in Italien und ihr Schweigen

Die Angst geht um

Veröffentlicht
am 16.11.2023
Italienweit demonstrieren palästinensische, arabische und muslimische Migrant:innen auf Straßen und Plätzen gegen den Krieg Israels gegen die Hamas in Gaza. Mit ihnen solidarisch sind große Teile der Linken, die Israel mit Nazi-Deutschland gleichsetzen und die israelische Besatzungspolitik im Westjordanland als Holocaust brandmarken. Sie können ungehindert demonstrieren.
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Auch in Bozen protestieren pro-palästinensische Demonstrant:innen immer wieder gegen Israel, gegen die NATO, gegen die USA, es sind hochemotionale Kundgebungen. Am Tag nach den Pogromen der Hamas in Israel (7. Oktober) gab es keine pro-israelischen Aktionen. Im Gegenteil: Die Massaker wurden als logische Konsequenz der israelischen Politik begründet, fast schon begrüßt.

Die Lautsprecher der Hamas

Im Online-Magazin „salto.bz“ erschienen gleich zwei Artikel, in welchen Israel Genozid an den Palästinenser:innen vorgeworfen wird. Kein Wort zur israelischen Sicht auf die Hamas-Massaker am 7. Oktober auf „salto.bz“.

Genauso wenig wird der grassierende Antisemitismus, dem viele Jüd:innen ausgesetzt sind, problematisiert. Die Historikerin Martha Stocker regt deshalb dazu an, sich öffentlich für das angegriffene Israel und für jüdische Menschen zu engagieren, beispielsweise durch eine Kundgebung.

Die jüdische Gemeinde in Meran winkte aber ab. Nicht von ungefähr. Die jüdischen Gemeinden Italiens einigten sich darauf, sich künftig mit öffentlichen Bekundungen zurückzuhalten – aus Angst vor gewaltsamen Übergriffen. Die Gemeinden fühlen sich nicht in der Lage, ihre Angehörigen ausreichend zu schützen.

Während pro-palästinensische Demonstrant:innen ihre Wut öffentlich zelebrieren können, da Italien noch immer ein demokratischer Rechtsstaat ist, müssen sich Jüd:innen hingegen vor Angriffen fürchten – sowohl von pro-palästinensischen Sympathisant:innen als auch von linken Antizionist:innen und rechten Antisemit:innen. Eine neue antisemitische Allianz, die sich hinter dem Schlachtruf „From the River to the Sea“ vereinigt.

Antisemitismus beim Namen nennen

Die jüdische Gemeinde von Meran lehnte daher ab. Dies scheint europaweit der Fall zu sein. In Bayern forderte beispielsweise eine jüdische Gemeinde ihre Mitglieder aus Sicherheitsgründen auf, sich „unauffällig“ zu verhalten und das Zeigen von israelischen und jüdischen Symbolen zu vermeiden. Die Sicherheitslage für alle Gemeinden sei aufgrund der Situation in Israel sehr angespannt. Der Antisemitismus erlebt also eine besorgniserregende Wiederkehr. In Italien wird er kleingeredet, da die Täter:innen immer die Deutschen sind, während in Deutschland der Antisemitismus trotz oder wegen des Dritten Reichs virulent bleibt.

In Deutschland geben laut einer Studie etwa ein Fünftel der Befragten antisemitische Einstellungen an. Diese sind in allen gesellschaftlichen und politischen Milieus von ganz links bis ganz rechts vorhanden. Während die extreme Rechte einen völkischen Antisemitismus kultiviert, der in der Leugnung der deutschen Verantwortung für den Holocaust gipfelt, operiert die linksextreme Szene mit „Versatzstücken antiimperialistischen Denkens“ und postkolonialen Ansichten. Nach diesen Ansichten wird Israel unreflektiert und einseitig als westliche Kolonialmacht betrachtet.

Allerdings ist auch die gesellschaftliche und politische Mitte nicht gegen Antisemitismus immun. Das relativierende „Ja, aber“ bezüglich der Hamas-Massaker durch bürgerliche Demokraten, die sich der „Objektivität“ verpflichtet fühlen, verharmlost diese Taten. Zweifellos ist die Politik der rechten israelischen Regierungen typisch für rechte Politik, minderheitenfeindlich. Sie ähnelt der Politik der türkischen Regierung gegenüber den Kurd:innen oder der mexikanischen Politik gegenüber den indigenen Völkern. Aber von Genozid zu sprechen?

Die israelische Besatzungspolitik, keineswegs ein Musterbeispiel für einen demokratischen Staat, ist jedoch weit entfernt von der „Lösung“ des „Minderheitenproblems“ des islamischen Staates Aserbaidschan. Die Aseris „säuberten“ restlos Arzach, Berg-Karabach, von seiner armenischen Bevölkerung. Die pro-armenischen Kundgebungen waren überschaubar.

Ein Rückschritt der Demokratie

Die Wucht des Antisemitismus ist erschreckend. Kein Wunder, dass Jüd:innen Angst haben. Israelische Fahnen werden von Flaggenstangen heruntergerissen und verbrannt, Fotos der von der Hamas Gekidnappten auf Plakatwänden werden entfernt, jüdische Friedhofsmauern mit Hakenkreuzen beschmiert, jüdische Bevölkerung wird angepöbelt. Synagogen, jüdische Schulen und andere jüdische Einrichtungen müssen von der Polizei geschützt werden. Jüdische Europäer:innen können sich nicht mehr frei und sicher fühlen.

Diese absurde Lage hat jedoch eine lange Geschichte. Im Mittelalter wurden Jüd:innen als religiöse Minderheit oft zu Sündenböcken gemacht. Im 14. Jahrhundert machten christliche Herrscher die jüdische Bevölkerung fälschlicherweise für die Pest verantwortlich. Bei sogenannten „Pestpogromen“ wurden Tausende Männer, Frauen und Kinder ermordet, und zahlreiche jüdische Gemeinden wurden ausgelöscht.

Vor Kurzem wiederholte sich diese finstere mittelalterliche Geschichte. In der Corona-Pandemie vermuteten zahlreiche Menschen hinter der Pandemie einen großen Plan finsterer Mächte und knüpften damit nahtlos an klassische antisemitische Verschwörungsmythen an. Bei den Landtagswahlen profitierten davon die no vax-Listen Vita und JWA.

Ja, die Bedrohung ist greifbar, genauso wie die Angst davor. Das antiisraelische und antisemitische Wüten auf europäischen Straßen und Plätzen bringt die jüdischen Gemeinden zum Verstummen. Sie schweigen, auch die kleine jüdische Gemeinde von Meran. Dies ist kein gutes Zeugnis für unsere Demokratie.

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