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Angespannt sitze ich vor meinem Aquarellbild. Von Anfang an hatte ich das Gefühl: „Nein, das wird nichts. Irgendwas stimmt nicht. Fang von vorne an“, aber ich mache weiter, mein Verstand rät mir dazu. Nach stundenlangem Retuschieren und Ausmerzen von Fehlern werfe ich das Bild frustriert in den Mülleimer. Aha! Meine Intuition hatte wieder einmal recht!
Situationen wie diese, kennen wir alle. Sorgfältig erstellen wir im Kopf eine Pro- und Contra-Liste, auch wenn unser Bauchgefühl längst entschieden hat. Diese Fähigkeit nennen wir Intuition – ein Phänomen, das bei der Entscheidungsfindung eine zentrale Rolle spielt.
Gefühle als Sprache der Intuition
Unternehmer:innen, die oft intuitiv spüren, welche Geschäftsideen funktionieren und welche nicht. Pflegekräfte, die sofort merken, dass sich der Zustand eines Patienten oder einer Patientin verschlechtert. Fußballer:innen, die einfach ein Gefühl für den Ball und Gegner:in haben. Bahnbrechende Entdeckungen, die auf intuitiven Geistesblitzen basieren: Die Liste an Berufen oder Situationen, in denen Intuition von großer Bedeutung ist, ist lang.
All dem liegt eines zugrunde: Gefühle. So wichtig diese für menschliches Wachstum und die menschliche Erfahrung auch sind, Emotionen und effektive Möglichkeiten, sie selbst zu regulieren, sind der Wissenschaft lange Zeit ein Rätsel geblieben. Man ging davon aus, dass alle Emotionen dem Denken folgen und man daher in der Lage sein sollte, durch die Veränderung seiner Gedanken die Kontrolle über seine Emotionen zu erlangen. In den letzten zehn Jahren hat die Forschung in der Neurowissenschaft jedoch deutlich gemacht, dass Intuition und emotionale Prozesse mit einer viel höheren Geschwindigkeit ablaufen als kognitive Prozesse.(2) Das Erlernen von Strategien zur emotionalen Regulierung ist ein wichtiger Bestandteil, den wir bestenfalls von klein auf lernen. Diese Strategien helfen, das emotionale Gleichgewicht zu bewahren und somit zu verhindern, dass Emotionen so stark werden, dass sie den Entscheidungsprozess dominieren. Unsere Gefühle können ansonsten unser Urteilsvermögen trüben und zu Entscheidungen führen, die nicht im Einklang mit unseren besten Interessen sind.
Wir treffen jeden Tag bis zu 35.000 Entscheidungen. Eine ganze Menge also. Die meisten davon treffen wir unbewusst.
Entscheidungen: Kopf oder Bauch?
Laut Neurowissenschaftlerin Barbara Sahakian von der University of Cambridge treffen wir jeden Tag bis zu 35.000 Entscheidungen. Eine ganze Menge also. Die meisten davon treffen wir unbewusst ‒ fast wie auf Autopilot ‒ und völlig intuitiv. Aktiv darüber nachzudenken, ob wir morgens Zähne putzen sollten, ob wir im Winter lieber mit dicker Jacke aus dem Haus gehen oder ob der Hund nochmal zum pinkeln raus muss, würde uns schlichtweg zu viel Energie kosten.
Man kann sich das vorstellen, als wären unsere Gedanken wie Straßen in unserem Gehirn. Sind wir diese Straßen oft gefahren, zeichnet sich ein Reifenmuster ab. Sobald sich dieses Reifenmuster abgezeichnet und im Gedächtnis stabilisiert hat, werden alle zukünftigen Erfahrungen damit verglichen. Übereinstimmende Muster werden vom Gehirn als vertraut erkannt, was wir als angenehm empfinden. Es ist wichtig zu verstehen, dass das auch dann gilt, wenn das etablierte Muster mit Chaos, Inkohärenz, Verwirrung, Angst usw. verbunden ist.
Wenn wir auf eine neue Erfahrung oder Herausforderung stoßen, kann es zu einer Diskrepanz zwischen den Eingabemustern und den Referenzmustern kommen. Je nach Grad der Diskrepanz ist in der Regel entweder eine interne Anpassung oder eine äußere Verhaltensänderung erforderlich, um die Stabilität wiederherzustellen. (2)
Das zweite Gehirn
Forschungen zeigen, dass sich im menschlichen Bauchraum ein hochkomplexes Nervensystem befindet, das als enterisches Nervensystem (ENS) bezeichnet wird. Aufgrund der strukturellen Ähnlichkeiten zwischen dem Nervenzellengeflecht des enterischen Nervensystems und dem Nervensystem des Gehirns wird es oft als unser „zweites Gehirn“ oder das „Bauchgehirn“ bezeichnet.(1) Die Kommunikation zwischen diesen beiden Systemen wird über Nervenverbindungen im Rückenmark sowie durch den Einsatz von Hormonen und Neurotransmittern ermöglicht. Phänomene wie „Schmetterlinge im Bauch“ oder „Stress, der auf den Magen schlägt“ ergeben dann gleich noch mehr Sinn, oder?
Du solltest die Stadt der Bequemlichkeit ab und zu verlassen und in den Urwald deiner Intuition eintauchen. Du wirst dort Wundervolles entdecken. Nämlich dich selbst.
Alan Alda (amerikanischer Schauspieler und Drehbuchautor)Von Detektiven und Ärzten
Der Krimiautor und Erschaffer von Sherlock Holmes, Sir Arthur Conan Doyle, verglich die Arbeit eines Detektivs ‒ nämlich die Aufklärung eines Verbrechens ‒ mit der eines Arztes: durch subtile Anhaltspunkte eine schwere Krankheit zu erkennen. Die Figur des Holmes soll auf einem seiner eigenen Medizinlehrer in Edinburgh basieren. In den Memoiren des Sherlock Holmes heißt es: „Es ist von höchster Bedeutung, in der Kunst der Detektion in der Lage zu sein, aus einer Reihe von Tatsachen zu erkennen, welche nebensächlich und welche lebenswichtig sind.“
Die Akademikerbrüder Dreyfus und Dreyfus, die Intuition im Bereich von Industrial Engineering erforschten, gaben Conan Doyle Recht: „Wenn alles normal läuft, lösen Experten keine Probleme und treffen keine Entscheidungen: Sie tun, was normalerweise funktioniert.“ Sie waren der Meinung, Expert:innen selbst könnten selten direkt und rational erklären, warum sie sich auf eine bestimmte Weise verhalten haben.(3)
Dreyfus und Dreyfus stellen Intuition als eine Methode der Problemlösung dar, die Expert:innen von Anfänger:innen unterscheiden und erkennen die schwer fassbare Natur der intuitiven Methode an.
Können wir unsere Intuition trainieren?
Ja, können wir. Allgemein gilt: Je mehr Wissen und Erfahrung wir in einem gewissen Bereich haben, desto besser funktioniert die intuitive Entscheidungsfindung. Je öfter wir immer wieder bewusst auf unsere Gefühle achten und die Aufmerksamkeit nach innen lenken, desto feiner wird unser Gespür für die eigene Intuition. Ebenfalls hilfreich kann ein rückblickendes Reflektieren einer intuitiven Entscheidung sein, um das eigene Reifenmuster zu erkennen und gegebenenfalls noch weiter festzufahren oder aufzulösen.
Ein Stück weit bleibt die Intuition ein Mysterium. Vielleicht soll es auch genau so sein. Vielleicht sollen wir Menschen nicht immer alles verstehen und kaputt-analysieren, sondern einfach dankend annehmen, dass wir dieses wunderbare Bauchgefühl besitzen und es in Kombination mit unserem rationalen Denken ein unschlagbares Team bildet, das uns hilft, klügere, schnellere und oft bessere Entscheidungen zu treffen. Beim nächsten Aquarellbild werde ich auf jeden Fall nicht mehr stundenlang versuchen, meine eigenen Fehler auszubügeln, sondern achte auf meinen inneren Kompass. In diesem Sinne: Lasst uns auf unser Gefühl hören, aber das Gehirn unterwegs nicht vergessen.
Quellen:
(1)Mayer EA. Gut feelings: the emerging biology of gut-brain communication. Nat Rev Neurosci. 2011 Jul 13;12(8):453-66. doi: 10.1038/nrn3071. PMID: 21750565; PMCID: PMC3845678.
(2)McCraty R, Zayas M. Intuitive Intelligence, Self-regulation, and Lifting Consciousness. Glob Adv Health Med. 2014 Mar;3(2):56-65. doi: 10.7453/gahmj.2014.013. PMID: 24808982; PMCID: PMC4010961.
(3)Greenhalgh T. Intuition and evidence–uneasy bedfellows? Br J Gen Pract. 2002 May;52(478):395-400. PMID: 12014539; PMCID: PMC1314297.
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