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Um zu kapieren, ob ein Event ein besonderes ist, reicht es manchmal, sich die Menschen anzuschauen, die da hin wollen. Der legendäre Berliner Technotempel Berghain, Seiteneingang. Da stehen in einer Schlange vereint: Technojünger in hautengen Levi's, weißen T-Shirts, grünen Parkas. Gediegenes West-Berliner Opernpublikum in teuren Anzügen, in Abendkleidern mit Goldschmuck. Typisch deutsche Durchschnittsfamilien in Funktionskleidung, mit Kindern an der Hand.
Megastilbruch. Also: Megaevent. Die Türsteher? Heute bedeutungslos. Wer eine Eintrittskarte hat, kommt rein. Der legendär berüchtigte Technotempel hat seine Tore für ein Experiment geöffnet: Techno und Ballett. Harte Clubkultur meets feine Hochkultur. Das Härteste und das Zerbrechlichste, was Kultur und Musik zu bieten haben, klatschen aufeinander. Im Berghain findet ein Ballettabend der Berliner Staatsoper statt. „Masse“, so heißt das Programm. Apokalyptische Kulisse entworfen vom Maler Norbert Bisky, Sohn des deutschen Linken-Politikers Lothar Bisky. Eigentlich eine Nicht-Kulisse. Ein 17 Meter hoher Raum. Die nackten Betonwände des ehemaligen Heizkraftwerks. Ein ausgebrannter Bus. Rostige Rohre. Sonst nichts. Im Foyer gibt es Flaschenbier und Prosecco, Brezeln und Camembert-Häppchen auf Feigensenf. (Feigensenf ist sowieso gerade der Trendaufstrich in der Trendstadt Berlin. Kein Brunch, kein Flying-Diner, kein Empfang ohne irgendetwas mit Feigensenf.)
Zehn Vorstellungen, seit Wochen ausverkauft, 500 Zuschauer pro Abend. Die drei Jungs mit den Nasenringen vor einem unterhalten sich über ihre letzten Clubabenteuer, der ältere Herr neben einem versucht wegzuhören und schaut ein wenig verunsichert durch die Reihen der Zuschauer, seine Begleitung reicht Hustenbonbons herum. Düster die Inszenierung. Sie hat etwas von Dantes Inferno, von einem Gefängnis, von einer fürchterlichen Zukunft. Düster der Ausdruck der Tänzer und Tänzerinnen, fein und mechanisch zugleich ihre Bewegungen.
Um zu kapieren, dass ein Event ein Besonderes ist, muss man erst irgendwann mittendrin bemerken, dass es gar nicht so besonders daherkommt. Dass es gar nicht mit allen Mitteln versucht, die Besonderheit hervorzutun. Adagio, Allegro, Pirouetten – das volle klassische Programm, und erst irgendwann fällt einem ganz beiläufig wieder ein, dass das ja gar nicht die klassischen Klänge zum Schwanensee sind, sondern die Bassbeats, die sonst in den Räumen nebenan die Berghain-Jünger in Ekstase versetzen.
Nach knapp zwei Stunden ist alles vorbei. Die in den Parkas gehen rüber zum Haupteingang oder in einen der anderen Berliner Clubs, um bis Montagfrüh zu feiern. Das gediegene West-Berliner Opernpublikum ruft sich Taxis, es wird den Abend wohl in einem gediegenen West-Berliner Lokal ausklingen lassen. Die Familien in Funktionskleidung schwingen sich auf Funktionsstadträder und radeln nach Hause oder noch schnell die Oma besuchen.
Berlin wird gehypt, viel zu viel wahrscheinlich. Aber Abende wie diese sind es, die diese Stadt tatsächlich zu etwas Besonderem machen. Das gibt es sonst nirgends. In der Provinz nicht. Aber auch nicht in New York oder sonstwo.
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