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„Hör auf! Lass mich!“, schreit sie. Ihre Stimme fährt mir durch Mark und Bein. Sie klingt schrill, bricht fast, so laut ist sie. Wieder ein Schlag, etwas knallt hart gegen die Küchenwand. Ich weiß im selben Moment, dass es Mamas Körper ist. Sie schreit hysterisch, Papas Stimme nun etwas leiser, aber umso bedrohlicher. Abgehackt, ich kann an der Stimme hören, dass er mit Kraft gegen etwas ankämpft. Gegen den sich wehrenden Körper von Mama …
Monika Habicher hat diese Situation erlebt. Ihr Vater, zu dem sie heute keinen Kontakt mehr hat, war gewalttätig. Schläge, Unterdrückung, Beleidigungen und Drohungen standen an der Tagesordnung. In ihrem Buch „Meine Seele weint – Gewalt in der Familie – eine Tochter erzählt“ hat sie ihre Erlebnisse niedergeschrieben.
Die 28-Jährige studierte Sozialpädagogik an der Freien Universität Bozen und arbeitet in der Kinder- und Jugendpsychiatrie. Im September vor einem Jahr kam ein Mädchen zu ihr, das zu Hause nach Gewalterfahrungen „durchgetickt“ ist. „Es gab wenig Verständnis für ihr Verhalten, sie wurde verurteilt, weil sie sich nicht ’zusammenreißen’ kann“, erzählt Habicher und trinkt einen Schluck Mineralwasser. An diesem Tag beschloss sie, ein Buch zu diesem Thema zu schreiben. Sie ging nach Hause und schrieb. Sie schrieb die Nächte durch und nach nur fünf Wochen war das Buch fertig. Im vergangenen Jahr entstand zudem die Initiative „Meine Seele weint“, die Informationen zum Thema liefert. Eine Kampagne in den Schulen in Zusammenarbeit mit Young&Direct startet in Kürze.
Wie war es für dich, deine Erlebnisse niederzuschreiben?
Ich habe meine Geschichte gut aufgearbeitet, deswegen habe ich das Schreiben des Buches eher fachlich gesehen. Ich wollte einfach erklären, was es für ein Kind heißt, bestimmte Situationen voller Angst und Sorgen zu erleben. Ursprünglich wollte ich tatsächlich ein Fachbuch schreiben, mir wurde dann aber klar, dass das nicht passend ist, weil es darum geht, dass das Tabu endlich mal gebrochen wird. Zudem kann ich nicht verlangen, dass man darüber spricht, und ich selbst mache das nicht.
Welche Formen von Gewalt gab es in deiner Familie?
Wenn man von Gewalt spricht, denkt man meistens an die körperliche Gewalt. Aber auch Vernachlässigung oder psychische und miterlebte Gewalt ist für das Kind ganz schlimm und kann langfristig gesehen schwerwiegende Auswirkungen auf die Entwicklung des Kindes haben.
„Es war wichtig, dass endlich jemand anfängt darüber zu reden.“
Wie viel Überwindung hat es dich gekostet, das Buch zu veröffentlichen?
Viele sagen, ich bin mutig, dass ich das Buch veröffentlicht habe, aber ich habe gar nicht darüber nachgedacht, ob das, was ich tue, mutig ist. Ich musste es einfach machen, es war wichtig, dass endlich jemand anfängt, darüber zu reden. Sicher habe ich am Anfang damit gehadert, auf einmal meine ganzen Schwächen und Schwierigkeiten, die ich hatte, vor der ganzen Welt offenzulegen. Ich bin ehrgeizig und oft auch perfektionistisch und lege Wert darauf, immer professionell und stark zu sein. Es war nicht einfach, ich wusste, das Buch lesen nicht nur meine Freunde. Aber wenn ich es nicht gemacht hätte, hätte ich das Gefühl gehabt, mitschuldig zu sein, wenn solche Sachen weiterhin passieren.
Wie waren die Reaktionen auf dein Buch?
Das Thema hat gebrodelt und irgendjemand musste diesen Schritt machen. Dementsprechend stark waren die Reaktionen. Ich war in der Beratersendung von der RAI, als eine alte Frau anrief und sagte, dass sie endlich etwas sagen möchte und zwar, dass ihr Onkel vor 60 Jahren gedroht hat, sie zu erschießen. (hält inne) Sie hat nie darüber gesprochen. Erst durch das Projekt hat sie das Gefühl, dass sie es endlich kann.
Auf der Homepage findet man nur Hilfe für Männer, die gewalttätig werden, nicht aber für Frauen, warum?
Das ist aus dem Grund so, da es in ganz Südtirol keine Institution gibt, an die sich gewalttätige Frauen wenden können. Mir war es im Projekt ganz wichtig, niemanden zu verurteilen oder einen Vorwurf zu machen. Es geht darum, aufzuzeigen, wie es dazu kommen kann, dass jemand aggressiv reagiert. Wenn heute eine Frau oder ein Mann gewalttätig wird, dann heißt das, dass die- oder derjenige aus einem bestimmten Grund so geworden ist. Sie oder er hat eine andere Strategie entwickelt, mit schwierigen Situationen umzugehen. Es ist wichtig, dass hier gemeinsam nach Lösungen gesucht wird.
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Wie viel Gewalt in der Familie gibt es in Südtirol?
Gewalt ist bei uns ein wirklich großes Thema. In drei von vier Fällen der Frauen, die ins Frauenhaus gehen, sind Kinder involviert. Andere Zahlen gibt es nicht, weil es noch immer ein Tabuthema ist und bei Statistiken nur jene aufscheinen, die sich Hilfe gesucht haben. Aus meiner persönlichen Erfahrung weiß ich, dass extrem viele betroffen sind. Als Kind habe ich in anderen Familien ganz viel Gewalt gesehen und weiß auch von vielen schwerwiegenden Fällen. Als ich mit Freunden über das Thema geredet habe, gab es Situationen, wo vier von sechs Leuten am Tisch eigene Erfahrungen gemacht haben.
Warum ist diese Gewalt so ein Tabuthema?
Kinder reden nicht, weil sie lernen, nicht darüber zu sprechen. Das hindert sie selbst als Erwachsene immer noch daran, über das Vorgefallene zu sprechen. Vielen ist auch nicht bewusst, dass sie Gewalt erlebt haben. Einige Leute merken erst jetzt, dass sie auch so ähnliche Situationen erlebt haben wie ich. Irgendwann verliert man das Empfinden, dass dies nicht normal ist. Das ist aber auch eine Strategie von Kindern, um das Ganze zu überstehen. Sie sehen es als normal an oder sagen sich: Man hat mich in diesem Moment geschlagen, weil ich wirklich Schuld war oder etwas falsch gemacht habe.
Woran kann man erkennen, dass ein Kind Gewalt erfährt?
Wir müssen dem Kind besser zuhören. Es wird das Vorgefallene nicht direkt ansprechen, sondern testet ganz vorsichtig, wie jemand reagiert, wenn es irgendetwas sagt. Das kann zum Beispiel sein: Ich habe heute Bauchweh oder ich habe heute etwas Schlimmes geträumt. Auch im Spiel arbeiten Kinder viel auf, indem sie sagen: Meine Puppe hat so etwas erlebt. Es sind meist ganz kleine Sequenzen, wo man oft dazu tendiert, nicht darauf einzugehen. Dieses Kind hakt das aber in diesem Moment ab und redet dann vielleicht nie über die Gewaltsituation. Deswegen muss man ganz viel Feingefühl entwickeln und nachfragen, auch wenn man glaubt, das kann gar nicht sein.
Und was kann man unternehmen, wenn ein Kind Gewalt erlebt, sei es als Außenstehender als auch in der Familie?
Man muss dem Kind zeigen, dass es keinen Fehler gemacht hat und die Situation nicht in Ordnung ist. Das, was für uns Erwachsene Floskeln sein mögen, ist fürs Kind ganz wichtig. Wenn Außenstehende nichts sagen, dann heißt das für das Kind: Die Situation ist so in Ordnung. Deswegen sollte man nicht wegsehen, denn das merken solche Kinder, die extrem sensibel sind. Die nächsten Schritte sind mit Vorsicht zu machen. Wenn man einen Verdacht hat, dann sollte man Beobachtungen aufschreiben und nicht mit Vermutungen um sich schießen. Bei offensichtlichen Fällen muss man natürlich sofort eine Meldung machen.
Viele sagen: Das geht mich nichts an …
Gerade diese Haltung finde ich persönlich ganz schlimm. Gesundes Interesse für den Nächsten ist wichtig in einer Gesellschaft.
„Ich will einfach glücklich sein.“
Abschließend: Wie hast du es geschafft, trotz deiner Vergangenheit zu so einer lebensfrohen Frau zu werden?
(lacht) Ich habe das Glück, dass ich anscheinend schon immer sehr viel Kraft hatte. Das, was ich am meisten schätze und was mich am glücklichsten macht, ist die Gabe, die Sachen immer positiv zu sehen. Auch der schlimmsten Situation kann ich noch etwas Positives abgewinnen und ich glaube, das ist das, was mir immer die Kraft gegeben hat, nicht aufzugeben oder zu verzweifeln. Ich will einfach glücklich sein. Ich will das Leben genießen und freue mich an allen kleinen Dingen. Deswegen habe ich auch die Kraft, die Dinge nicht zu verdrängen, sondern aufzuarbeiten und mich damit auseinanderzusetzen.
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