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„Fast jeder hat in seinem erweiterten Familienkreis jemanden, der eine Abhängigkeit entwickelt hat“, sagt Peter Koler, Psychologe, Pädagoge und Direktor der Fachstelle Forum Prävention. Heute sitzt er mir in der „Exil“-Bar am Kornplatz gegenüber. Vor sich einen Kaffee und ein Leitungswasser, neben sich zwei Krücken. Beim Klettern hat er sich die Kniescheibe ausgekugelt. Der 49-jährige Bozner beschäftigt sich seit mehr als 20 Jahren mit allen Bereichen der Sucht.
Aktuell laufen um die 40 unterschiedliche Präventiv-Projekte: Thematisch kreisen sie um Glücksspiel, Gewalt, Rauchen, Alkohol und Partydrogen. Unter anderem ist das Video „Sauftirol“ der Homies4Life zusammen mit dem Forum Prävention entstanden.
Funktionieren Ihre Präventiv-Aktionen überhaupt?
Hängt davon ab, was man unter funktionieren versteht. Man kann nicht sagen: Wir machen mit so vielen Leuten Präventionsprojekte und fünf von denen, die normalerweise süchtig würden, werden es nicht.
Man kann aber sagen, durch die Erhöhung der Sensibilität werden mögliche Risikofaktoren geschmälert. Was hat der Alkohol für einen Stellenwert bei der Gesellschaft? Ab wann dürfen junge Leute trinken? Was dürfen sie trinken? Was brauchen Leute, um nicht süchtig zu werden? Die ganze präventive Arbeit in diese Richtung ist schon effektiv. Es gibt auch gesetzliche Auswirkungen, die in dem Bereich effektiv sind, wie etwa das Nichtraucherschutzgesetz.
Mit der Frage „Was ist dein Rausch?” läuft derzeit ein Gewinnspiel um das beste alkfreie Foto. Was hat es damit auf sich?
Die „Mein Rausch“-Seite ist ein Versuch, wo junge Leute eine Möglichkeit haben, berauschende Erlebnisse zu zeigen, ohne an Alkohol zu denken. Es ist ungewohnt und trotzdem haben wir eine positive Resonanz.
Was ist Ihr Rausch?
(lacht) Mein Rausch ist vor allem der Bereich sportlicher Aktivitäten. Das ist aber auch immer mit Risiko verbunden. (Koler grinst und zeigt auf sein geschientes Bein, das er auf dem Stuhl neben sich ausgestreckt hat).
Wann hatten Sie Ihren ersten, wann Ihren letzten Rausch?
Alkoholrausch? Meinen ersten Rausch hatte ich mit 17. Damals war ich unvorbereitet, irgendwann war es zu viel und man denkt sich: Was ist passiert? Einen Vollrausch, wo man die Kontrolle verliert, hatte ich schon ewig lange nicht mehr. Das war irgendwann in meiner Studentenzeit. (lacht)
Heute kann ich sagen, nach dem dritten Glas Wein habe ich genug. Mir gefällt der Zustand benebelt zu sein nicht. Mir geht es um den Geschmack, den Genuss und die leichte Wirkung, dass man lockerer und vielleicht ein bisschen lustiger wird, aber nicht um das Vollschütten. Das ist wohl eher eine Erwachsenenphilosophie und liegt auch an der Erfahrung mit den Substanzen.
„Alkohol ist in unserer Gesellschaft ein Lösungsmittel. Er ist überall dabei.”
Sie haben zwei Kinder im Alter von zehn und 15 Jahren. Was würden Sie sagen, wenn sie mit 16 besoffen nach Hause kommen?
Wenn das passieren würde, würde ich mit ihnen darüber reden. Ich möchte wissen, was passiert ist, an was sie sich erinnern können und wie sie dazu stehen. Wenn es zu einem Dauerzustand werden würde, dann würde ich mir natürlich Sorgen machen und mir wahrscheinlich Hilfe von außen suchen.
Ich weiß aus meiner Erfahrung und von meinen Forschungen, dass es dazugehört. Es kann ein Ausprobieren sein, aber es kann auch mit Schwierigkeiten verbunden sein, die jemand hat und den Alkohol dafür nutzt.
Es wird immer über die saufende Jugend geschimpft, ist es nicht auch ein Problem von Erwachsenen?
Auf jeden Fall. Die jungen Leute sind immer nur ein Spiegel. Gerade beim Alkohol zeigen sie uns, wie verankert die Substanz Alkohol ist, dass sie zu viel Platz einnimmt. Deswegen heißt unsere Facebookseite auch Sauftirol. Alkohol ist in unserer Gesellschaft ein Lösungsmittel. Er ist überall dabei. Ein langsames Umdenken schafft die Kampagne „Trinken mit Maß“.
Die Aktion Verzicht gehört auch dazu. Sie fängt bei jedem Einzelnen an. Zum Beispiel muss man keinen „Weißen” in der Früh trinken, es geht auch mit Orangensaft oder Kaffee. Wenn das immer mehr Leute sehen, dann verändert sich die Einstellung der Normalbevölkerung mit der Zeit. Es gibt aber auch die Leute, die persönliche Schwierigkeiten, wie eine Depression, eine Traumatisierung oder eine Angststörung haben und merken, dass es mit Alkohol ein bisschen besser geht, bis der Alkohol Überhand nimmt. Diese Menschen brauchen frühzeitig Hilfe.
„Je mehr Platz die Substanz einnimmt, je mehr man andere Sachen vernachlässigt, desto größer ist die Sucht.”
Wann beginnt eine Sucht?
Das hängt einmal mit der Substanz zusammen. Wie oft nehme ich sie und wie viel davon? Dann spielt die persönliche Entscheidung eine Rolle: Muss ich trinken oder entscheide noch ich? Und es hängt damit zusammen, wie viele andere Lebensbereiche wegbrechen, weil nur noch die Sucht wichtig ist: Schwierigkeiten bei der Arbeit, in der Familie, auf der Beziehungsebene. Je mehr Platz die Substanz einnimmt, je mehr man andere Sachen vernachlässigt, desto größer ist die Sucht. Irgendwann entwickeln Süchtige eine körperliche Abhängigkeit. Es geht nicht mehr nur um den Spaß, sondern man braucht es, damit es einem überhaupt gut geht. Das ist für mich ein ausgeprägtes Suchtbild.
Werden die Südtiroler immer abhängiger?
Das ist schwierig zu beantworten, weil wir in Südtirol nur wenig genaue Daten über einen gewissen Zeitraum haben. Wenn wir schauen, was rund um uns passiert, dann gibt es in allen Bevölkerungsgruppen eine Tendenz zum weniger Konsumieren. Von der Menge und von den Orten. Im Vergleich zu den 70ern und 80ern gibt es jetzt im Bezug zum Alkohol und Tabak eher weniger Suchtprobleme. Dafür kommen neue Phänomene wie das Glücksspiel, das Internet und die Smartphones dazu.
Was macht Sucht mit Familien?
Es gibt Abhängige in der Familie, die es gut kaschieren können, wo nicht viel passiert. Aber tendenziell ist es bei einer Sucht so, dass es eine Reihe von Begleiterscheinungen gibt, die für eine Familie sehr belastend sind: Die Kinder werden vernachlässigt, oft werden die Eltern der eigenen Rolle nicht mehr gerecht und die Kinder müssen auf die Eltern achten, anstatt umgekehrt. Es kommt zu emotionaler Armut und Geldproblemen.
Wir wissen auch, dass Kinder aus Sucht-belasteten Familien gefährdeter sind, selbst eine Suchterkrankung zu entwickeln. Fast jeder hat in seiner erweiterten Familie jemanden, der eine Abhängigkeit entwickelt hat, seien es Medikamente oder Alkohol, und bei jedem schwingt immer eine gewisse Belastung mit.
Was raten Sie Angehörigen? Wie können sie damit umgehen?
Früher sind Angehörige ganz oft in Selbsthilfegruppen gegangen, das ist eine gute Möglichkeit. Dort kann man Erfahrungen austauschen. Heute sieht man, dass Familienangehörige eher eine Einzelberatung suchen. Sich Hilfe suchen, wenn die Situation belastend ist, ist sicher nützlich. Wir haben jede Menge Beratungsstellen im Land. Man soll es nicht verstecken, denn dann kommen die Co-Abhängigkeiten: Man unterstützt die Süchtigen in ihrer Sucht irgendwie und schämt sich. Wenn man davon ausgeht, dass es eine Erkrankung ist, kann man vielleicht besser damit umgehen.
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