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Lily Settari
Veröffentlicht
am 27.09.2018
LeuteInterview mit Pazifist Jürgen Grässlin

Nieder mit den Waffen

Veröffentlicht
am 27.09.2018
Als Waffengegner setzt sich Jürgen Grässlin der Politik und einer mächtigen Industrie zur Wehr. Deutschlands bekanntester Friedensaktivist sprach vor Kurzem in Meran.
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Jürgen Grässlins Gesicht erscheint kurz nach 22 Uhr auf dem Bildschirm. Der Deutsche ist es gewohnt, um diese Uhrzeit zu arbeiten – das heißt bei ihm, über den Frieden in der Welt zu sprechen oder zu schreiben. Für den Lehrer ist das sein zweites Leben, das beginnt, wenn er nachmittags von der Schule nach Hause kommt und alle Korrekturen und Vorbereitungen erledigt sind. Von da an ist er Friedensaktivist und Waffengegner.

In Meran hielt Grässlin vor Kurzem einen Vortrag über Waffenexporte. Er zeigte Bilder von Menschen mit zerfetzten Gliedmaßen und entstellten Gesichtern, von zerstörten Straßen und Flüchtlingslagern – direkte Folgen des blühenden Handels mit Waffen. Von Grässlins Idee, im Jahr 2020 ein Friedens-Filmfestival in Meran zu organisieren, war auch Merans Bürgermeister Rösch angetan.*

Jürgen Grässlin

Sie sind seit 25 Jahren Friedensaktivist. Wie hat Ihre Zeit in der Bundeswehr Ihre Überzeugungen beeinflusst?
Ich befand mich zur Zeit des Kalten Krieges in der Ausbildung, als die Angst vor der „gelben Gefahr“, also China, umging. Während einer Schieẞübung sollte ich auf Metallscheiben mit mandelförmigen Augen zielen. Ich wollte aber nicht auf die Abbildung eines Menschen zielen, also habe ich den Befehl verweigert und die Bundeswehr verlassen. Ich bin dank dieser Geschichte sicherlich gewachsen und teilweise zum Pazifisten geworden.

Offiziell ist die Erhaltung des Friedens eines der wichtigsten Ziele der EU. Zeigt sich das an der EU-Auẞenpolitik?
Theoretisch sieht geltendes EU-Recht ein Verbot für Waffenlieferungen in kriegsleistende Länder vor. Das wäre ein Friedensdienst und würde dem Ziel der EU entsprechen. Die gängige Praxis ist aber eine andere: Die EU bricht durchgehend ihre Gesetze, denn Waffen werden sehr wohl in Konfliktzonen geliefert. Das geschieht wissentlich und willentlich – und um des Profits willen.

Die EU hat mit ihren Waffenexporten schlimmste Konflikte genährt.

Hat die EU den Friedensnobelpreis demnach gar nicht verdient?
Ich finde, sie müsste ihn sogar zurückgeben. Die EU hat mit ihren Waffenexporten schlimmste Konflikte genährt, etwa in Libyen. Zusätzlich reagiert sie auf Zustände in Nachbarländern oder auf die Krise im Mittelmeer nicht so, wie wir Menschenrechtler, Pazifisten und Humanisten es uns wünschen. Sie kontert mit Abschottung und bezeichnet das dann als Sicherheitsmaßnahme. Die EU schaut zu, wie die Maghrebstaaten die Flüchtlingsrouten in Richtung Sahara dicht machen. Meine Prognose ist, dass tausende Menschen in der Wüste – entschuldigen Sie den Ausdruck – verrecken werden. Natürlich kann man zynisch feststellen, dass weniger Menschen im Mittelmeer ertrunken sind. Das bedeutet aber nicht, dass auch nur ein Problem gelöst wurde. Das ist eine Schande.

Naiv gefragt: Wer verkauft in Italien Waffen und warum?
Um die Frage ausführlich zu beantworten, müsste ich einen zweistündigen Vortrag halten. Als kompaktes Beispiel nenne ich die Firma Beretta mit Hauptsitz am Lago d’Iseo. Beretta stellt Pistolen und Gewehre her, 1.500 Stück am Tag. Mit diesen kleinen Waffen werden die meisten Menschen getötet. Italien liegt im Kleinwaffenhandel übrigens auf dem zweiten, Deutschland auf dem vierten Platz. Beretta präsentiert sich auf der Homepage als traditionsreiches Haus, das den Bedarf an Jagdsportgeräten deckt. In Wahrheit produziert das Unternehmen Todesmaschinen – ein Geschäft, das profit- und machtorientiert ist. Mit Waffen lässt sich Geld verdienen, aber sie schaffen auch politische und militärische Verhältnisse, die für die liefernden Staaten günstig sind. Um Flüchtlingsboote in italienischen Häfen zu vermeiden, hat Italien etwa Waffen an Ghaddafi geliefert, obwohl unter seinem Regime die schlimmsten Menschenrechtsverletzungen begangen wurden.

Ihr Vortrag in Meran trug den Titel „Wer Waffen sät, wird Flüchtlinge ernten.“ Glauben Sie, die sogenannte Flüchtlingskrise hat politische, wirtschaftliche oder intellektuelle Eliten wirklich überrascht?
Politiker mögen fremdenfeindlich, populistisch oder egoistisch sein, aber sie sind nicht dumm. Sie kennen den industriell-politischen Komplex des Waffenhandels. Für einige Politiker – auch in Italien und Deutschland – ist diese Krise praktisch. Sie profitieren vom Feindbild des Flüchtlings. Das hat mitunter zu einer rechten Regierung in Italien geführt. In Deutschland könnte das in den kommenden Jahren auch passieren.

Was halten Sie von der Unterscheidung zwischen „echten Flüchtlingen“ und „Wirtschaftsflüchtlingen“?
Die Unterscheidung hat eine rechtliche Bedeutung, der Begriff „Wirtschaftsflüchtling“ ist aber abwertend und ungerecht. Als „Wirtschaftsflüchtlinge“ werden Menschen bezeichnet, die nicht verfolgt werden, sondern ihre Heimat verlassen, weil sie aufgrund von Armut kein menschenwürdiges Leben führen. Sie müssen etwa in Deutschland mit einem negativen Asylbescheid und der Abschiebung rechnen, oder der Staat schafft finanzielle Anreize, um sie zur Rückkehr zu bewegen. Dabei vergessen wir, dass unser eigener Reichtum auf Ausbeutung und einer ungerechten Weltordnung beruht und europäische Staaten menschenverachtende Regimes unterstützen. Das schafft Fluchtursachen. Wer über sogenannte Wirtschaftsflüchtlinge spricht, scheint auch zu vergessen, dass diese Menschen nicht aus Lust und Laune zu uns kommen. Ich habe unzählige Gespräche mit Flüchtlingen geführt. Nicht ein Mal sagte mir jemand, er oder sie wolle für immer in Deutschland bleiben – schlieẞlich mussten diese Leute oft Familie und Freunde zurücklassen. Sie sind fast ausnahmslos traumatisiert. Auch von dem Gerede darüber, wer für uns wirtschaftlich von Nutzen ist und wer nicht, halte ich nichts. Ich mache bei Menschen keinen Unterschied.

Gibt es Parteien, die sich konsequent gegen die Waffenexporte stellen?
Die Linke in Deutschland fordert einen Exportstopp der Waffenlieferungen. Zum Teil auch die Grünen, aber wir sollten die Enttäuschungen während der rot-grünen Koalition von 1998 bis 2005 nicht einfach vergessen. Damals wurden die Waffenexporte um das fünffache erhöht, das war die gröẞte Steigerung aller Zeiten. Seit die Grünen wieder Oppositionspolitik machen, stehen sie unseren Vorstellungen näher. Auch einzelne SPD-Mitglieder sprechen uns an, aber vom Rest in der deutschen Politik ist nichts zu erwarten.

Drohungen gab es immer wieder.

Sie setzen sich der Politik und einer mächtigen Industrie zur Wehr. Leben Sie gefährlich?
Ich lebe vor allem glücklich, sitze hier mit sechzig Jahren quietschfidel und hoffe, dass ich sechzig weitere Jahre vor mir habe. Drohungen gab es immer wieder. Im Alltag versuche ich es den Leuten, die etwas gegen mich haben könnten, schwer zu machen. Ich nehme nicht immer die gleiche Straẞenbahnlinie nach Hause und verlasse meinen Arbeitsplatz nicht immer durch denselben Ausgang. Aber ich lebe nicht in Angst oder unter besonderen Vorsichtsmaẞnahmen. Hundertprozentig sicher kann man ohnehin nie sein.

Wenn der Lehrer, Friedensaktivist, Ehemann, Vater und Groẞvater Jürgen Grässlin einen Ratgeber für Zeitmanagement oder Work-Life-Balance schreiben würde, was würde da drinstehen?
Wichtig ist, dass man seine Aufgabe im Leben findet. Meine ist es, Menschen, die in armen und krisengebeutelten Regionen unter westlicher Politik und Waffenhandel leiden, eine Stimme zu geben und die Verantwortlichen öffentlich zu nennen. Das ist eine schöne Lebensaufgabe. Ich weiß nicht, ob es einen glücklicheren Menschen gibt als mich. Natürlich sind auch die Zusammenarbeit mit Gleichgesinnten, die Unterstützung meiner Frau und die solidarischen Preise meines Rechtsanwalts, wenn ich wieder einmal eine Anzeige bekomme, sehr wichtig. Ansonsten zählt Organisation: Meine Friedensarbeit mache ich nachmittags, abends und wenn schulfrei ist. Ich achte darauf, meine vier Stunden guten Schlaf zu bekommen, habe aber immer Post-its und Stift in greifbarer Nähe, weil gerade im Halbschlaf die guten Ideen kommen. Ich bitte Leute, mir keine E-Mail zu schicken, die länger ist als sieben Zeilen und versuche jede in einer Minute zu beantworten.

An dieser Stelle merkt Grässlin schmunzelnd an, dass die Dauer unseres Gesprächs kein gutes Beispiel für sein Zeitmanagement sei. Normalerweise spreche er nicht so lange mit Medien. Eine letzte Frage ist noch drin: Was können einzelne Bürger mit begrenzten Ressourcen gegen den Waffenhandel tun?
Sie können sich auf der Plattform „Global Net – Stop the Arms Trade“ einlesen und das Portal mit Texten, Übersetzungen oder auch anderweitig unterstützen und somit Teil einer globalen Bewegung werden.* Sie können zig anderen Leuten sagen, was es mit dem internationalen Waffenhandel auf sich hat, etwa über die sozialen Netzwerke. Sie können Petitionen unterschreiben oder Aktien kaufen und damit Einfluss auf die Waffenindustrie nehmen (siehe „Kritische AktionärInnen Heckler & Koch“ https://www.kritischeaktionaere.de/heckler-koch.html, Anm.d.Red.). Sie können Produkte von Unternehmen wie Iveco boykottieren, die auch Waffen fabrizieren und an Veranstaltungen gegen den Waffenhandel teilnehmen oder sogar welche organisieren.

*Für das Projekt werden noch ehrenamtliche Helfer gesucht.

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