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Veröffentlicht
am 12.06.2017
Leute Straßenzeitung zebra.

Mit schwerem Gepäck

Veröffentlicht
am 12.06.2017
Viele Flüchtlinge sind schwer traumatisiert. In Südtirol ist ihre psychische Gesundheit kaum Thema. Darunter leiden die Betroffenen und jene, die täglich mit ihnen arbeiten.
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Bestimmte Bilder und Erlebnisse vergisst ein Mensch nie mehr.

Regelmäßig war mitten in der Nacht das ganze Stockwerk in Aufruhr. Laute Musik und angelassenes Licht raubten den Bewohner*innen den Schlaf. Es war zwecklos: Kein Beschweren, Betteln oder Toben brachte Omar* zum Einlenken. Niemand ahnte, was der junge Mann im Zimmer nebenan Nacht für Nacht durchlebte: Er träumte von Schüssen und Schlägen, und von Menschen, die vor seinen Augen abgeschlachtet wurden wie Tiere oder im Meer ertranken. Eines Tages kletterte der Nigerianer aufs Dach seiner Unterkunft, um zu springen. Aufmerksame Mitbewohner griffen in letzter Sekunde ein. Erst als Omar mit einer Therapie begann, lernte er, was er gegen seine Angstzustände tun konnte. Er erfuhr, dass es einen Namen für sein Leiden gibt: posttraumatische Belastungsstörung.

Dieser Störung begegnen die Mitarbeiter*innen von Roland Keim seit Jahren immer häufiger. Die Symptome sind ähnlich: Albträume, Flashbacks, Schreckhaftigkeit, Angstzustände, emotionale Taubheit, Blackouts. Der Leiter des Psychologischen Dienstes in Brixen erklärt: „Ein Trauma entsteht durch eine Erfahrung, die sich so sehr von allem unterscheidet, was ein Mensch in seinem bisherigen Dasein erlebt hat, dass er es seinem individuellen Weltverständnis nicht mehr zuordnen kann und dadurch tief verstört ist.“

Menschen, die Situationen durchleben, in denen sie hilflos Gewalt ausgesetzt sind, entwickeln Traumata. Das kann bei Naturkatastrophen, Unfällen oder beim Verlust von Angehörigen passieren. Mit sehr viel höherer Wahrscheinlichkeit seien aber Menschen traumatisiert, die Gewalt durch andere Menschen am eigenen Körper erfahren oder an Mitmenschen beobachtet haben, erklärt Keim. Nach solchen Erlebnissen reagieren Psyche und Körper auf eine ganz besondere Art, „teilweise unabhängig von Geschlecht, Alter oder Kultur.“ Wenn Menschen verletzt, gefoltert, erniedrigt oder vergewaltigt werden, können sie das Grundvertrauen in die Welt und in ihre Mitmenschen verlieren. Sie fühlen sich nicht mehr sicher – auch dann nicht, wenn sie in Sicherheit sind.

Mit den Menschen kommen ihre Leiden

Kalter Schweiß tropfte von seiner Stirn, sein Herz raste: Zusammengekauert saß Mohamed* hinter einem parkenden Auto in Bozen und zitterte am ganzen Leib. So fand ihn die Polizei, die in der ganzen Stadt nach ihm gesucht hatte. Nicht weil er etwas angestellt hatte, sondern weil er sich an der Hand verletzt hatte und in der Ersten-Hilfe-Station des Krankenhauses plötzlich panisch davongelaufen war. Das Bild seiner blutenden Hand hatte etwas in ihm ausgelöst. Ein Bild, ein Geruch, ein Geräusch genügt, um eine traumatisierte Person aus der Bahn zu werfen: Sogenannte Trigger sorgen dafür, dass ein Betroffener plötzlich wieder eine traumatische Situation so durchlebt, als wäre sie gegenwärtig real. Der Anblick seiner blutverschmierten Hände löste bei Mohamed einen Flashback aus. Die Verzweiflung, die Panik, die Angst, die er damals verspürte, als er seine sterbenden Eltern in den Armen hielt – alles war wieder da.

„In Ausnahmesituationen geht unser Körper in eine Art Überlebensmodus“, erklärt Erwin Steiner, der Landeskoordinator der Südtiroler Notfallpsychologie. Bestimmte Stresshormone und Schutzmechanismen im Körper sorgen dafür, dass der Mensch auch in extremen Situationen funktioniert. Dabei setzen Grundbedürfnisse wie Schlaf, Harndrang oder Hunger aus. Alles ist auf Überleben gepolt. „Dieser Modus kann für einen längeren Zeitraum andauern und dazu führen, dass Menschen auch nach einem traumatischen Erlebnis weiterhin in diesem Ausnahmezustand bleiben und automatisiert auf bestimmte Stressauslöser reagieren“, sagt Steiner. Das erkläre auch Konzentrationsprobleme, Erinnerungslücken, Gefühlstaubheit und Schreckhaftigkeit – Symptome, die viele Betroffene aufweisen, und die insbesondere im Umgang mit Flüchtlingen häufig falsch interpretiert würden.

Geteiltes Leid halbiert sich nicht

Geschichten wie jene von Mohamed und Omar kann Ruth Fischnaller mehrere erzählen. Über ein Jahr lang koordinierte die Sozialarbeiterin eine Flüchtlingsunterkunft in Südtirol. Die Schicksale der dort untergebrachten Menschen drückten auch auf ihre Schultern. Psychologische Unterstützung im täglichen Umgang mit den teils schwer traumatisierten Menschen gab es kaum – weder für die Betroffenen noch für sie als Mitarbeiterin: „Ich fühlte mich oft unverstanden und ohnmächtig.“

Die aktuelle Situation der Flüchtlinge ist belastend: Heimweh, Zukunftsängste und die Ungewissheit über den Ausgang des Asylverfahrens machen diesen Menschen schwer zu schaffen. „Das Gefühl, einem willkürlichen System ausgesetzt zu sein, übertrug sich irgendwann auch auf mich“, beschreibt Fischnaller die Stimmung im Haus. Mit der ersten Welle an Negativ-Bescheiden machte sich bei den Bewohnern Hoffnungslosigkeit breit. Bei einigen traten die Symptome ihrer Traumatisierung erst dann ans Tageslicht. Leitlinien oder geregelte Zuständigkeiten im Umgang mit psychischen Problemen von Flüchtlingen gäbe es nicht, bemängelt die Sozialarbeiterin: „Ich war mit der Situation allein.“

Die Schicksale von traumatisierten Menschen belasten jene, die mit ihnen arbeiten. Auch noch so gut ausgebildete und vorbereitete Arbeitskräfte und Freiwillige stoßen ohne entsprechende Betreuung und Unterstützung an ihre Grenzen. Erwin Steiner kennt dieses Phänomen: In Fachkreisen ist es als Compassion Fatigue (Mitgefühlsdepression) bekannt und zeigt ähnliche Symptome wie ein klassisches Burnout. Menschen, die unter psychisch belastenden Umständen arbeiten, benötigen zur Bewältigung ihrer Aufgaben professionelle Unterstützung, eine Anlaufstelle oder eine Möglichkeit, sich auszutauschen. „Das ist enorm wichtig. Sonst sind diese Menschen irgendwann ausgebrannt und arbeitsunfähig“, weiß der Notfallpsychologe.

Ruth Fischnaller hat im vergangenen Herbst ihren Job in der Flüchtlingsunterkunft gekündigt. Sie arbeitet jetzt mit beeinträchtigten Menschen. Auch diese Arbeit sei herausfordernd, sagt sie, aber sie berge Erfolgsmomente, „und wenn es Probleme gibt, weiß ich, an wen ich mich wenden kann.“

Vorausdenken gefragt

Viel lieber als über sich spricht Fischnaller über die beeindruckenden Menschen, die sie während ihrer Zeit im Flüchtlingshaus kennengelernt hat. Besonders ein Gedanken, den sie dort gefasst hat, lässt sie bis heute nicht los: „Zu uns schaffen es nur die Stärksten! All die anderen sind längst auf der Strecke geblieben – in der Wüste, in einem libyschen Lager, im Meer.“ Es müsse verhindert werden, dass sich das Potential und die Kraft dieser Menschen aufgrund der aktuellen Situation ins Negative verkehrt. Dem pflichtet Katharina Strobl bei. Die Sozialpädagogin mit einem Abschluss in interkultureller Pädagogik arbeitete für mehrere Jahre im Ausland und in Südtirol in Einrichtungen, in denen auch traumatisierte Menschen leben. Sie gibt zu bedenken, was oft vergessen wird: „Schwierige Bedingungen in den Unterkünften und lange andauernde Ungewissheiten können bei Menschen mit unsicherem Asylstatus auch nach der Flucht zu einer Traumatisierung führen.“ Um das zu verhindern, brauche es ein breites Netz an ausgebildeten und gestärkten Mitarbeiter*innen und Freiwilligen, sowie einen unkomplizierten Zugang zu angemessener psychologischer und psychiatrischer Betreuung.

„Unser Psychologischer Dienst ist gerne bereit, das Fachwissen und die jahrelange Erfahrung für die psychologische Behandlung von traumatischen Erlebnissen einzubringen“, sagt der Psychologe Roland Keim. Dazu brauche es aber entsprechende Personalplanung und die nötigen Mittel.

Bisher ist aber nicht viel passiert. Die Unterbringung der Flüchtlinge sorgt bereits für Diskussionsstoff. Über die psychische Gesundheit dieser Menschen spricht kaum jemand. Es ist kein Thema, mit dem man bei Wahlen Stimmen gewinnt. Laut vernehmbar sind hingegen die Forderungen nach einer raschen Anpassung der Neuankömmlinge.

Wie aber soll jemand konzentriert eine Sprache lernen oder morgens ausgeruht zur Arbeit kommen, wenn Albträume für schlaflose Nächte sorgen? Wie soll sich jemand ein soziales Umfeld aufbauen, wenn er*sie sich vor Menschenansammlungen fürchtet und niemandem traut? Diese Fragen stellen sich Sozialarbeiter*innen und Freiwillige im ganzen Land: „Wir brauchen mehr Austauschmöglichkeiten. Entsprechende Mittel müssen zielorientiert eingesetzt werden“, sagt Katharina Strobl.

Was mit dem Fingerzeig auf anfallende Kosten derzeit noch ausgeblendet wird, davor warnen Roland Keim und seine Kolleg*innen: „Die psychische Labilität wird die Suizidrate und die Gewaltneigung unter den Betroffenen anheben.“ Der Psychologe geht davon aus, dass das ohnehin belastete Gesundheits- und Sozialsystem in Zukunft noch stärker belastet wird: „Studien zeigen, dass sich durch ein anhaltendes Trauma langfristig auch der allgemeine Gesundheitszustand einer Person verschlechtert und das Risiko für chronische Körperliche Erkrankungen ansteigt“. Die Schilderungen der Sozialarbeiterinnen Ruth Fischnaller und Katharina Strobl bestätigen dieses Szenario.

Funktionierende Modelle existieren

Dabei müsste das Rad nicht neu erfunden werden. Ein Blick in benachbarte Regionen genügt, um Einrichtungen zu entdecken, die funktionieren, und von denen man etwas abschauen kann: Der Verein REFUGIO in München unterstützt beispielsweise seit mehr als zwanzig Jahren Menschen, die aufgrund von Folter, politischer Verfolgung oder kriegerischen Konflikten ihr Herkunftsland verlassen mussten. Das psychosoziale Behandlungszentrum greift auf ein breites Netzwerk von haupt- und ehrenamtlichen Mitarbeiter*innen sowie auf Kooperationen mit staatlichen und privaten Einrichtungen zurück. Auch in Wien und Mailand gibt es ähnliche Einrichtungen.

Zum Abschauen eignen sich auch Modelle, die sich seit vielen Jahren in Südtirol bewähren. So sind die Freiwilligen der Südtiroler Notfallseelsorge belastenden Situationen ausgesetzt und haben es regelmäßig mit Menschen zu tun, denen Schreckliches widerfahren ist. Für sie gibt es ein Coaching-System, eine Hotline zu einem diensthabenden Psychologen, regelmäßige Nachbesprechungen und bei Bedarf Einzelsitzungen. „Ein ähnliches System könnte ich mir auch für Freiwillige und Mitarbeiter*innen im Umgang mit Flüchtlingen vorstellen“, sagt Notfallpsychologe Erwin Steiner. Wo ein Wille, dort gebe es mit Sicherheit einen Weg.

Omar hat indes bei der Therapie gelernt, seine Ängste zu kontrollieren und mit bestimmten Atem- und Entspannungstechniken dagegen anzukämpfen. Heute kann er arbeiten und hat sein Leben in der Hand. Bei Mohamed reichte eine Diagnose und das richtige Medikament, um ihn aus der Angstspirale zu befreien. Bald beginnt er mit therapeutischen Sitzungen. Die beiden traumatisierten Asylsuchenden haben mit der Aufarbeitung ihrer Traumata begonnen. Doch sie sind Ausnahmefälle.

* Namen von der Redaktion geändert

von Lisa Frei

Der Text erschien erstmals in der 28. Ausgabe von „zebra.”, Juni 2017.

Fotos: Der Fotograf Georg Hofer setzt sich seit Jahren mit dem Thema Flucht auseinander. 2013 begab er sich für sein Ausstellungsprojekt „Ways to Vintl” mit seiner Kamera auf die Fluchtwege zwischen Afrika und Europa. Weitere Bilder auf seiner Webseite.

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