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Veröffentlicht
am 21.08.2023
LeuteStraßenzeitung zebra.

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Veröffentlicht
am 21.08.2023
Die Mittel für sexualpädagogische Projekte an Südtirols Schulen wurden 2022 drastisch gekürzt; die Standards derselben minimiert. Diese Entwicklung spiegelt die gesellschaftliche und vor allem politische Lage in Südtirol und Italien wider. Gleichzeitig beißt sie sich mit den vielfältigen Möglichkeiten, die es heute gibt, um über Sexualität zu sprechen.
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„Sexualpädagogik existiert nicht; weder in Südtirol noch im restlichen Italien“, erklärt Mirjam Fiumefreddo. Die Vorsitzende von Arcigay Centaurus (eine Organisation, die die LGBTQIA+ Community in Südtirol vertritt) und Mitarbeiterin von ProPositiv findet harte Worte, um die aktuelle Lage zur Sexualpädagogik in Südtirol zu beschreiben. An den Schulen, – wobei sie sich vor allem auf die Lage an den italienischsprachigen Schulen bezieht –, sei Sexualität in vielerlei Hinsicht ein Tabu: „Wenn die Schüler:innen während des regulären Unterrichts überhaupt mit dem Thema in Kontakt kommen, dann höchstens im Biologieunterricht“, so Fiumefreddo. Dabei handle es sich jedoch nicht um eine sexualpädagogische Erziehung, sondern um eine biologische Erklärung der Reproduktionsmechanismen. „Lust, Zuneigung, Einvernehmen, Verhütung, verschiedene sexuelle Orientierungen, sexualisierte Gewalt, sexuell übertragbare Krankheiten und alle anderen positiven und negativen Aspekte, die zur Sexualität gehören, werden ausgeklammert.“

Eine Tatsache, die zu Analphabetismus in diesem Bereich des Lebens führt und Risiken wie von Missbrauch und Gewalt geprägte Beziehungen, ungewollte Schwangerschaften oder sexuell übertragbare Krankheiten beinhaltet, aber es auch erschwert, die eigene Sexualität bewusst auszuleben. Der Analphabetismus ist laut Fiumefreddo auf die politische und gesellschaftliche Lage in Italien zurückzuführen: „Der weitere kulturelle Kontext in Italien steht der Sexualität negativ gegenüber. Eine gängige Meinung ist, dass diese auf den familiären Raum beschränkt werden muss, – also in der Schule und in anderen öffentlichen Räumen nichts zu suchen hat“, so Fiumefreddo. Dabei fordern verschiedene Studien genau das Gegenteil: Sexuelle Bildung, die über den familiären Raum hinausgeht, wirkt sich positiv auf die eigene Entscheidungsfreiheit aus und führt zu einem respektvollen Umgang mit sich selbst und anderen.

Neben dem kulturellen Kontext macht Fiumefreddo die politische Lage rund um die rechten Regierungsparteien und homo-bi-transphobe Organisationen wie „ProVita“ für das sex-feindliche Klima verantwortlich: „Die politischen Angriffe auf Organisationen wie Centaurus, die Workshops zum Thema Sexualität – oder wie in unserem Fall sexuelle Identität – durchführen, häufen sich. In so einem Klima ist es schwierig, sich auf die Wissensvermittlung zu konzentrieren“, erklärt Fiumefreddo.

Darf man das noch sagen?
Einerseits gibt es also Kritik an der Wissensvermittlung zu Sexualität an den Schulen. Andererseits werden Stimmen laut, die die Fixierung auf einen sprachlich und politisch korrekten Umgang für die fehlende Auseinandersetzung mit dem Thema verantwortlich machen: Es sei heute nicht mehr möglich, über bestimmte Dinge zu sprechen, so das Argument, da zu viele Sensibilitäten von einzelnen Gruppierungen rund um das Thema Sexualität existieren und einen Dialog verhindern würden. Fiumefreddo kann dieser Argumentation nichts abgewinnen: „Hier werden Minderheiten und Personen in einer vulnerablen Situation dafür verantwortlich gemacht, das Thema Sexualität unter den Tisch zu kehren. Dabei existiert diese Verantwortung überhaupt nicht“, so Fiumefreddo. Und weiter: „Die Welt ist vielfältig. Dank Begriffen wie Homo-, Bi- oder Asexualität haben wir heute die sprachlichen Möglichkeiten, diese Vielfalt in Worte zu fassen: Genau das sollte uns dazu anstoßen, den Dialog zu suchen und ein Zusammenleben zu ermöglichen“.

A macchia di leopardo
Trotz der fehlenden schulischen und gesellschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Thema – eine Tatsache, die übrigens dadurch unterstrichen wird, dass es in Südtirol keine spezialisierte Fachstelle für Sexualpädagogik gibt –, bemühen sich einzelne Non-for-ProfitOrganisationen um Wissensvermittlung zum Thema Sexualität: Neben Centaurus (sexuelle Identität) und ProPrositiv (sexuell übertragbare Krankheiten) ist auch das Forum Prävention zum Thema aktiv. Maria Reiterer ist Sexualpädagogin für die Fachstelle Gewaltprävention beim Forum Prävention und Vorstandsmitglied der Plattform Sexualpädagogik in Südtirol. Zusammen mit einem männlichen Kollegen führt sie sexualpädagogische Projekte an Grund-, Mittel- und Oberschulen sowie in Jugendzentren und Bildungseinrichtungen durch: „Unsere Erfahrung zeigt, dass es für Kinder und Jugendliche äußerst wertvoll sein kann, wenn externe Personen an die Schule kommen, die sie möglicherweise nur einmal sehen und denen sie offen oder anonym jene Fragen stellen können, die ihnen unter den Nägeln brennen“, so Reiterer.

Dabei sei es wichtig, die Teilnehmer:innen dort abzuholen, wo sie sich gerade befinden, mit ihnen gemeinsam zu reflektieren und eine passende Sprache zu entwickeln. „Wissen über Sexualität, über den eigenen Körper, Bedürfnisse, Gefühle und Grenzen ist ein grundlegendes Menschenrecht“, ist Reiterer überzeugt. „Deshalb müssen sichere Räume geschaffen werden, um Menschen darin zu unterstützen ein respektvolles, vielfältiges und gleichberechtigtes Verständnis von Sexualität zu erlangen und ein erfülltes und gesundes Sexualleben zu führen.“

Dass es in Südtirol keine spezialisierte Fachstelle für Sexualpädagogik gibt, stellt dabei laut Reiterer eine bedeutende Herausforderung dar: „Dadurch sind wir darauf angewiesen, unsere Expertise nebenberuflich oder im Rahmen unserer Haupttätigkeiten einzubringen“, so Reiterer. „Das führt häufig dazu, dass uns sowohl die Zeit als auch die Ressourcen
fehlen, um der Sexualpädagogik die gebührende Aufmerksamkeit zu widmen.“ Zudem kommt, dass die Durchführung der Schulworkshops von der Initiative der einzelnen Schulführungskräfte abhängt und trotz aller Bemühungen keinen sexualpädagogischen Unterricht ersetzen kann. Wie Fiumefreddo erklärt, geht es in den einzelnen Workshops vielfach um spezifische Themen wie Gewaltprävention, sexuell übertragbare Krankheiten oder sexuelle Identität: „Diese an eine Klasse zu vermitteln, die sich noch nie mit dem Thema Sexualität auseinandergesetzt hat, ist nicht einfach.“ Es brauche deshalb eine programmierte, überlegte und umfassende Sexualpädagogik, die alle Schülerinnen und Schüler erreicht.

Entscheiden, Verantwortung zu übernehmen
Auch deshalb, weil das Thema Sexualität nicht nur an den Schulen, sondern auch in den Familien häufig ein Tabu ist: „Leider erleben Kinder und Jugendliche nach wie vor, dass Erwachsene ihre Fragen entweder nicht beantworten oder nur unzureichend darauf eingehen“, so Reiterer. „Dies führt oft dazu, dass sie im Internet nach Informationen suchen, die unzensiert und häufig nicht ihrem Alter entsprechend auf sie einprasseln.“
Vor allem wenn es um sexuelle und geschlechtliche Vielfalt gehe, fühle sich ein Teil der Mehrheitsgesellschaft überfordert und würde eine Auseinandersetzung damit meiden: „Dieses Verhalten trägt dazu bei, Diskriminierung aufrechtzuerhalten und bestehende Vorurteile zu festigen“, erklärt Reiterer. Sie sieht Erwachsene in der Verantwortung, sich mit diesen Themen aktiv auseinanderzusetzen und so dazu beizutragen, Vorurteile und Diskriminierung abzubauen und eine inklusive Gesellschaft zu schaffen. Eine Ansicht, die auch Fiumefreddo teilt: „Die Welt ist vielfältig und sexualisierte Inhalte kommen so oder so zu den Kindern und Jugendlichen. Die Frage ist, ob wir sie bestmöglich darauf vorbereiten wollen oder ob wir lieber so tun, als existierten bestimmte Dinge nicht. Jedes Mal, wenn wir uns für letztere Option entscheiden, schaffen wir aber ein Monster.“

Text: Madelaine Alber und Valentina Gianera

Dieser Text erschien erstmals in der Sommerausgabe der Straßenzeitung zebra. (10.07.2023 – 10.09.2023 | 87).

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