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Peter Grünfelder, 48, aus Bozen, ist IT-Experte einer kleinen Agentur und Präsident des Cannabis Social Clubs Bozen (CSC-BZ), der kranken Menschen helfen will, an medizinisches Cannabis zu kommen. Stefano Balbo, 51, stammt aus Meran und ist Vizepräsident der „Associazione cannabis terapeutica“. Er hat als erster in Italien Sativex, ein Medikament auf Cannabis-Basis, verschrieben bekommen. Wir sitzen in Bozen, im Hinterhof von Grünfelders Firma, und unterhalten uns fast zwei Stunden lang.
Herr Balbo, Sie nehmen eine besondere Medizin.
Stefano Balbo: Ich nehme Sativex, eine Pflanzenextraktmischung aus den Blättern und Blüten der Hanfpflanze Cannabis sativa. Man sprüht es sich unter die Zunge, drei vier Spritzer, es hat keine schweren Nebenwirkungen.
Was für Nebenwirkungen hat es?
Balbo: Die Nebenwirkungen sind Schläfrigkeit, Appetit und Vergnügen. In meiner 26-jährigen Krankengeschichte hatte ich sonst nie ein Medikament, das glücklich machte. Andererseits bin ich in den vielen Jahren einigen Ärzten begegnet, die mir Medikamente anboten, die Dutzende Tote verursacht haben. Du findest zum Beispiel keine Immunsuppressiva ohne schwere Nebenwirkungen. Sie können schwere Depressionen verursachen, und was passiert, wenn man so ein Medikament einem Menschen gibt, der gerade von einer Krebsdiagnose erfahren hat … Da kann man auch Benzin ins Feuer gießen.
Und Cannabis tut das nicht?
Balbo: Cannabis lässt dich dein Leiden vergessen. Es betäubt dich nicht, du weißt schon noch wer du bist, aber du denkst nicht daran, dass du eigentlich ein großes Problem hast. Cannabis wird sogar von den Patienten selbst beworben. Das Medikament verbreitet sich, indem es von einem Patienten zum nächsten weiterempfohlen wird. Wenn es nicht wirkt, lässt du es eben wieder.
Sativex ist der Name der Arznei, der eigentliche Inhaltsstoff ist Nabiximols und besteht aus dem bekannten Tetrahydrocannabinol (THC) und Cannabidiol. Cannabidiol (CBD) ist ein schwach psychoaktives Cannabinoid und wirkt entkrampfend, entzündungshemmend, angstlösend und gegen Übelkeit.
Seit wann bekommt man in Italien legal Cannabispräparate?
Balbo: Dank Landesrat Richard Theiner war ich der erste in Italien, der das Medikament gratis bekommen hat, und vor einem Jahr wurde es in Italien endlich als Medikament zugelassen. Patienten mit multipler Sklerose, die Probleme mit Spasmen haben, können dieses Medikament kostenlos nutzen.
Wie viele nutzen es?
Balbo: Hunderte.
Haben die es sich zuvor illegal besorgt?
Balbo: Wer die Schmerzen nicht mehr aushält, besorgt sich das Zeug eben auf dem Schwarzmarkt, oder baut es selbst an und handelt sich damit einen Haufen Probleme ein. Der Cannabis Social Club will nicht die Regeln brechen oder zeigen, wie man die Regeln bricht. Wir sagen keinem, dass er etwas Illegales tun soll. Wir bringen lediglich Patienten und Ärzte zusammen, die diesem Medikament gegenüber aufgeschlossen sind. Die Menschen kommen mit ihren Fragen zu mir und ich gebe meine Erfahrungen weiter.
Vor 26 Jahren wurde Stefano Balbo zum ersten Mal krank, seit 16 Jahren leidet er an multipler Sklerose (MS). Zwischen 2005 und 2008 kämpfte er gegen fünf Tumore. Er muss sich beim Gehen auf einen Stock stützen, und manchmal bemerkt man kleine Unsauberkeiten beim Sprechen, ansonsten macht Stefano einen zufriedenen und gelösten Eindruck.
Wie sind Sie zu Sativex gekommen?
Balbo: Ich hatte seit 2005 Lymphdrüsenkrebs, aber mein Arzt und ich wussten nicht, dass das der Grund für meine Schmerzen war. Wir dachten, sie seien eine Auswirkung der multiplen Sklerose, die oft sehr starke Schmerzen verursacht. Die Schmerzmittel werden wohl nicht mehr wirken, dachten wir. Ich wollte die Behandlung schon abbrechen, als mir mein Arzt zum ersten Mal von diesem Medikament erzählte, das es in Belgien gibt. Er sprach von Delta-9-Tetrahydrocannabinol, also THC.
Und Sie waren sofort begeistert?
Balbo: Überhaupt nicht. Ich war sechs Monate im Krankenhaus, aber ich wollte davon nichts hören. Ich war früher Polizist, für mich war das eine Droge. Das Medikament gab es in Italien nicht, und ein Joint kam für mich nicht in Frage.
Was geschah dann?
Balbo: Es ergab sich zufällig, dass ich in Mailand einige Joints geraucht habe, und fast drei Tage lang keine Schmerzen mehr hatte. Meine Masseurin dachte, ich hätte eine Überdosis meiner Muskelrelaxans genommen, ein Medikament auf Morphinbasis, das sehr stark ist. Es macht dich abhängig und kann dich umbringen, indem es den Herzmuskel lähmt. Als ich ihr sagte, ich hätte vier Tüten geraucht, hat sie den Arzt angerufen und ihm gesagt, wir haben den Wirkstoff gefunden, der hilft.
Und er half?
Balbo: Nach elf Jahren mit Höhen und Tiefen, in denen Freunde von mir gestorben sind und am Sterben sind, fahre ich Auto, bin aktiv und kann mich um andere kümmern, die die gleiche Krankheit haben. Ich will nicht sagen, dass ich glücklich bin. Aber ich bin zufrieden, weil ich meiner Krankheit einen Sinn gegeben habe und fast alles tun kann. Mit Vorsicht, aber ich lebe ein normales Leben.
Wo besorgen Sie sich das Medikament?
Balbo: In der Neurologieabteilung des Bozner Krankenhauses.
Und wo bekommen die es her?
Balbo: Diese Medikament kommt aus England, es enthält nur die zwei Moleküle THC und CBN. Schon mit diesen zwei geht es mir gut, aber Cannabiskraut hat 600 therapeutische Eigenschaften. Das beste sind Gras-Aufgüsse, also Cannabis-Tee.
Vor 30 Jahren war Balbo Polizist, dann verkaufte er HiFi-Anlagen und Zubehör der Oberklasse und war als Geschäftsmann auch in anderen Branchen aktiv. „Ich wollte eigentlich Radrennfahrer werden, habe mir aber ein Knie kaputt gemacht, und keine Mannschaft wollte mich mehr haben.“ Er ging danach ins Fitnesscenter. Mit 25 begann seine Leidenszeit mit Rückenschmerzen, erst hieß es, es sei wegen des Radfahrens. Mit 35 konnte er seine Beine nicht mehr bewegen und bekam die Diagnose Multiple Sklerose.
Herr Grünfelder, was ist der Cannabis Social Club?
Peter Grünfelder: Der Cannabis Social Club ist ein ganz normaler Verein. Sein Ziel ist die Versorgung der Mitglieder mit hochqualitativen Cannabisprodukten aus eigenem Anbau. Da das in Italien nicht legal ist, kämpfen wir darum, den Eigengebrauch zu legalisieren und den Zugang zu therapeutischem Cannabis zu erleichtern. Noch sind wir erst 17 Mitglieder, Ärzte sind auch darunter, aber es gibt uns auch erst seit Herbst. Wir wollen öffentlich für therapeutisches Cannabis werben.
Ist das notwendig?
Grünfelder: Der Weg für Patienten zu therapeutischem Cannabis ist voller Hürden, man bekommt keine Informationen. Cannabis ist verpönt. Unser Ziel ist es, Patienten zu helfen, an medizinisches Cannabis zu kommen.
Balbo: Es gibt viel Ignoranz. Alle Parteien außer dem Movimento 5 Stelle sind dagegen. Sie sagen, sie wollen medizinisches Cannabis nicht legalisieren, weil es der Beginn einer Drogenkarriere sei. Cannabis kann dich umbringen, aber nur wenn dir eine Kiste mit zwölf Kilo Cannabis aus dem fünften Stock auf den Kopf fällt. Auch 50 Kaffe am Tag können dich umbringen. Der Alkohol, den die Italiener gern trinken, verursacht 30.000 Tote pro Jahr. Tabak 90.000 Tote pro Jahr, allein in Italien. Cannabis? Keinen, weltweit.
Grünfelder: Die schlimmsten Folgen hat Cannabis, wenn man damit erwischt wird. Da werden Existenzen zerstört. Menschen haben einen Vollrausch, rauchen eine Packung Zigaretten am Tag, da wird meist darüber hinweggesehen. Wird man aber mit Cannabis erwischt, wird man behandelt wie ein Schwerverbrecher.
Tetrahydrocannabinol wurde in reiner Form erstmals 1964 von Yehiel Gaoni und Raphael Mechoulam am Weizmann-Institut für Wissenschaften in Israel isoliert. Seit 21 Jahren werden in Israel damit Alzheimer, Parkinson, Epilepsie und das Down-Syndrom behandelt. Israel kennt 15 verschiedene Pflanzentypen, in Italien arbeitet man mit zwei. Cannabis, das in der Apotheke angeboten wird, kostet rund 35 Euro pro Gramm. „Das muss man sich erst leisten können“, sagt Balbo.
Auf welchem Stand ist die Legalisierung des medizinischen Cannabis? Kann ein Patient in eine Apotheke gehen und sich sein Gras dort kaufen?
Balbo: Er muss zum Arzt, aber das ist nicht so einfach. Wenn ich zum Beispiel sehr starke Schmerzen habe und mir mein Arzt Morphin verschreibt, ist das für niemanden ein Problem. Dabei ist eine Schachtel mit 56 Tabletten zu 4 Milligramm Morphin, eine normale Menge, genug, um mich umzubringen. Mein Arzt muss aber niemandem sagen, dass ich Morphin nehme. Wenn er mir Cannabis verschreibt, muss er innerhalb von 48 Stunden drei verschiedene Büros informieren, sie drei Monate lang über meinen Gesundheitszustand auf dem Laufenden halten und alle Dokumente zehn Jahre lang aufbewahren. Ein Arzt, der diesen Aufwand betreibt, ist schwer zu finden. Dabei dürften alle Ärzte Cannabis verschreiben.Ich habe kein Problem, ein Rezept zu bekommen, muss mir das Gras aber bezahlen. Ein Patient wird sich das Cannabis legal in der Apotheke holen, solange er Geld hat. Und dann geht er auf den Schwarzmarkt, baut selbst an, oder leidet. In der Toskana gibt es Cannabis aus der Apotheke inzwischen gratis, die Lombardei soll folgen. Aber jede Region tut, was sie will.
Wird Cannabis in Italien angebaut?
Balbo: Seit 16 Jahren baut Gianpaolo Grassi in Rovigo Cannabis für wissenschaftliche Zwecke an. 160 verschiedene Arten. Er produziert auch Stecklinge für die Plantage in Florenz, auf der das Militär Cannabis anbaut. Im Militärstützpunkt in Florenz werden seltene Medikamente hergestellt, die die Pharmafirmen nicht produzieren, weil es sich nicht rentiert. Das Militär verkauft diese Medikamente zum Selbstkostenpreis und seit kurzem auch Cannabis, das bald in italienischen Apotheken erhältlich sein soll.
Es hieß einmal, im Versuchszentrum Laimburg solle Cannabis angebaut werden.
Grünfelder: Landesrätin Martha Stocker hat beim Ministerium darum angefragt, man hat sie aber vertröstet, man wolle erst die Ergebnisse abwarten, die Florenz erzielt. Meiner Meinung nach wären Ergebnisse da, sie sollte noch mal anfragen.
Balbo: Das Interesse ist auch in der Wirtschaft da. Die Gewinnspanne ist enorm. Das Gras verlässt die holländischen Gewächshäuser um drei bis vier Euro pro Gramm und wird in der Apotheke um 35 Euro verkauft. Steuern, Zwischenhändler, Auflagen, das treibt den Preis.
Cannabis war früher bei uns gang und gäbe, oder?
Grünfelder: Genau. Hanf macht autonom, wie Christoph Kirchler sagt, weil Hanf Lebensmittel ist, Textilie, und industriell und therapeutisch vielfältig nutzbar. Um 1900 wurde Aspirin erfunden. Davor war Cannabis die Basis für die meistverkauften Medikamente in den USA. Cannabis war schon mal Arznei, auch in Europa. Aber danach hat wohl die Pharmaindustrie begonnen, kolossal groß zu werden und hat Dinge ausgeschaltet, die ihr nicht gepasst haben. Darunter auch Cannabis.
Abgesehen von der medizinischen Anwendung von Cannabis sind weltweit Entwicklungen im Gange, Cannabis zu legalisieren. Nicht zuletzt die USA sind hier Vorreiter, obwohl sie eigentlich sehr strenge Drogengesetze haben. Auch in Italien wurde die Trennung in harte und leichte Drogen wieder eingeführt. Wie schätzt ihr den Trend ein?
Grünfelder: Der Trend ist ganz klar: Cannabis wird kommen. Die Frage ist nur, wie lange es dauert. Ich bin Unternehmer, und ich sehe Cannabis als Innovation. Wenn wir uns anschauen, was in den US-Bundesstaaten abgeht, in denen Cannabis legal ist, da gibt es nur positive Effekte. Alles was vorher ohnehin illegal ablief, kann jetzt legal laufen. Die Dealer sind eigentlich Unternehmer, die würden lieber Steuern zahlen als die Polizei zu schmieren, den anderen Dealer zu schmieren, Schläger anzuheuern.
Balbo: Jede Droge ist gefährlicher, wenn sie illegal ist. Während der Prohibition sind die Menschen wegen des methanolgepanschten Alkohols gestorben. Oder landeten im Gefängnis, weil sie ein Bier tranken.
Grünfelder: Wenn Cannabis legal ist, kann es erforscht werden. Ich kann neue Produkte entwickeln, es kann sich eine Kultur darum entwickeln. Man kann Cannabis trinken, rauchen, essen. Es gibt ja auch beim Alkohol viele verschieden Arten, wenn ich allein an die Vielfalt der Weine denke. In Colorado, wo Cannabis seit einigen Jahren legal ist, sind Kriminalität und Gewalt zurückgegangen und die Steuereinnahmen gestiegen. Der Cannabiskonsum hingegen ist gleich geblieben. Die Prohibitionisten führen immer das Argument des Jugendschutzes ins Felde, aber Colorado zeigt, wie es geht. Legalisierung heißt nicht Aufhebung des Jugendschutzes, es bedeutet vielmehr, dass wir etwas selbst in die Hand nehmen und nicht kriminellen Organisationen überlassen. Und zweitens gibt es in Ländern, in denen Cannabis legal ist, nicht mehr Drogenabhängige.
Balbo: In den Niederlanden ist Cannabis seit 1971 geduldet und die Zahl der Toten durch harte Drogen ist eine der niedrigsten in Europa.
Wann könnte so etwas bei uns möglich sein?
Grünfelder: Sofort! (lacht) Realistisch wäre es in den nächsten Jahren. Es gibt immer mehr Menschen, die dafür kämpfen und auch durchwegs Erfolge erzielen. Sehen wir uns nur Italien an: Medizinisches Cannabis ist bereits legal.
Herr Balbo, wenn Sie mit Cannabis angehalten werden, gehen Sie da ein Risiko ein? Oder wenn Sie Auto fahren?
Balbo: Ich nehme Sativex in geringen Dosen. Morphin oder Psychopharmaka sind viel schlimmer. Wenn ich mich an die Autobahn stelle und alle Autos mit holländischem Kennzeichen kontrolliere, wird die Hälfte der Fahrer positiv auf Cannabis getestet werden. Andreas Lubitz, der Pilot, der sein Flugzeug absichtlich abstürzen ließ, hat nicht geraucht und nicht getrunken, denn er wird als Pilot streng kontrolliert. Aber er nahm seit zehn Jahren Psychopharmaka, wie es täglich elfeinhalb Millionen Menschen allein in Italien tun. Wie kann man mit Psychopharmaka so bedenkenlos umgehen und Cannabis dämonisieren?
Prohibitionisten sagen, Cannabis sei eine Einstiegsdroge.
Balbo: Ja, jemand der Kokain schnupft, wird vermutlich zuvor Gras geraucht haben. Aber davor hat er Zigaretten geraucht, ein Bier getrunken. Jeder hat als Kind Nutella gegessen. Wenn er danach jemanden überfällt, wird man nicht der Nutella die Schuld geben.
Wer bekommt Cannabis verschrieben?
Balbo: Die meisten Patienten sind 60 oder älter. Informierte, aufgeklärte Senioren. Es sind nicht die jungen, die medizinisches Cannabis bekommen.
Grünfelder: Eine uns bekannte Frau ist über 80 und nimmt Cannabis. Sie leidet an einer Krankheit wie Demenz oder Alzheimer und die Familie pflegt sie. Die Frau war störrisch, sie aß nicht. Ließ sich nicht waschen, war unfreundlich. Richtig schlimm. Der Enkel, der auf sie aufpasste, war genervt und hat einen Joint geraucht. Die Oma hat gar nicht darauf geachtet. Aber da sie selbst mal geraucht hat, nahm sie den Joint aus dem Aschenbecher und zog daran. Danach aß sie, schlief gut, war gut drauf. Der junge Mann probierte es nochmal, erzählte es seiner Familie, die ging dann geschlossen zur Ärztin und ließen sich Cannabis verschreiben. Nun haben sie eine glückliche Oma.
Balbo: Manche fürchten den Rausch. Aber wichtig ist nur, Cannabis auf vollen Magen zu nehmen, nachdem man genug getrunken hat – aber nichts Alkoholisches. Wenn du das alles einhältst und nicht übertreibst, wird dir nie etwas fehlen. So wie mir in elf Jahren nichts fehlte.
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