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Sebastian Schuller
Veröffentlicht
am 21.04.2023
LeuteKommentar: Reisen mit dem Zug

Zwischen Flugscham und Zugstolz

Veröffentlicht
am 21.04.2023
3000 km mit dem Zug: Unser Autor hat beschlossen, auf Flugreisen zu verzichten und hat sich mit seiner Freundin auf eine Zugreise nach Inverness in Schottland eingelassen. Über die Vor- und Nachteile des Reisens mit der Bahn.
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alexander-bagno-wVfoqadZDRo-unsplash

Der Zug steht schon seit einer Stunde. Ein leichter Brandgeruch liegt in der Luft, und auch das sorgenvolle Gesicht der Zugbegleiterin lässt nichts Gutes hoffen. Wann – oder eher: ob – wir Newcastle heute noch erreichen werden, steht wohl in den Sternen. Meine Freundin blickt schicksalsergeben in die winterliche Landschaft jenseits des Fensters und mich beschleichen, nicht zum ersten Mal auf dieser Reise, Zweifel: War es wirklich eine gute Idee, auf den Zug als Reiseverkehrsmittel zu setzen?

Gerade in diesem Moment zupft jemand an meinem Pullover: Ein kleines Mädchen sieht mich schüchtern an. „Would you like to sing carols with us?“

Es ist einer dieser Momente, der eigentlich viel zu kitschig ist, um wahr zu sein und der einer überambitionierten Bahnwerbung entsprungen sein könnte. Das Mädchen und ihre Schwester geben etwas dissonant aber mit viel Enthusiasmus, die Evergreens des britischen Weihnachtslied-Repertoires zum Besten. Zwischen „Hark the Herald Angels sing“ and „Oh come all ye Faithful“ teilten Mitreisende Kekse, die Zugbegleiterin schenkte Tee aus und eine Großmutter, die auf dem Weg nach Portsmouth zu ihrem Enkel war, ließ verstohlen eine Sherry-Flasche kreisen.

Insgesamt drei Stunden stand unser Zug irgendwo auf der Strecke zwischen Edinburgh und Newcastle. Drei Stunden voller Weihnachtslieder, Lachen und spannender Geschichten der Mitreisenden, die das Desaster in eines der schönsten Erlebnisse unserer Bahnreise verwandelten.

Eindrücke von der Zugreise: Stadtansicht von Edinburgh

Anders Reisen: Zwischen Flugscham und Zugstolz

Die Idee, das Vereinigte Königreich mit dem Zug zu bereisen, entstand schon früher: Irgendwann im Laufe von 2021, zwischen Lockdowns und Corona-Wellen, beschlossen meine Freundin und ich, in den kommenden Jahren Europa mit dem Zug zu erforschen. Vom Münchener Hauptbahnhof wollten wir quer über die Alpen nach Sizilien reisen, gen Osten über Wien bis nach Budapest, den Balkan erkunden und ins windumtoste Inverness im hohen Norden Schottlands fahren.

Uns motivierte dabei zum einen die Flugscham.

Flugscham ist ein recht neues Konzept. Erfunden von schwedischen Aktivist:innen meint der Begriff , eigentlich das wachsende Klimabewusstsein von Tourist:innen: Laut einer Umfrage von YouGov gaben ca. ein Viertel der befragten Personen unter 35 an, aus Klimaschutzgründen, Fliegen für eine problematische Art des Reisens zu halten. Und damit haben sie Recht. Das deutsche Umweltbundesamt gibt an, dass eine Person auf einem Flugkilometer 271 Gram Treibhausgase erzeugt. Die Website myClimate rechnet vor, dass ein Flug von München nach London pro Person 206 kg CO2 verursacht. Eine Fernreise mit dem Zug dagegen erzeugt nur 32 Gramm C02 pro gefahrenen Kilometer.

Schon allein der Klimaschutz-Gedanke war für uns also ein Grund, auf den Zug umzusteigen. Hinzu kommt aber ein zweiter Grund: Zugreisen bedeuten Entschleunigung.

Zugfahren kehrt dieses Verhältnis um: Hier ist der Weg das Ziel. Das Reiseland wird wortwörtlich erfahren: In den Zügen lernt mensch Land und Leute kennen.

Zu fliegen ist ein Akt des reinen Fastfood-Konsums: Eingepfercht in einem Stahlrohr werden Tourist:innen über den Planeten gejagt. Es geht nur darum, möglichst schnell von A nach B zu kommen, um am Urlaubsort Eindrücke, Entspannung, Strand und Sonne konsumieren zu können. Die eigentliche Reise, das Fliegen, ist hier nur ein Störfaktor. Oder eher: Eine Tortur, der Mensch sich unterziehen muss.

Zugfahren kehrt dieses Verhältnis um: Hier ist der Weg das Ziel. Das Reiseland wird wortwörtlich erfahren: In den Zügen lernt mensch Land und Leute kennen. Seien es die kleinen Dinge des Alltags, die Tourist:innen so oft nicht erleben: Was sind die beliebtesten Snacks, die Bahnreisende konsumieren (in Großbritannien definitiv: Haferkekse)? Was kosten Fahrkarten? Wie verhalten sich Menschen bei Verspätungen? Oder seien es die Eindrücke der Landschaften, die am Zugfenster vorbeiziehen: Welcher Flugreisende kennt schon das erhabene Gefühl, wenn sich aus den sumpfigen Tiefland der schottisch-englischen Grenzregion ganz unvermittelt die ersten, rau-gezackten Felsen der Highlands majestätisch gen Himmel erheben?

Zudem ist das Reisen mit dem Zug langsam: Von London nach Inverness etwa dauert eine Zugfahrt knapp acht Stunden. In dieser Zeit hatten wir vor allem eins: Zeit.  Zeit zu lesen, miteinander Karten zu spielen, zu reden, oder einfach nur aus dem Fenster zu schauen und zu träumen. Ein Luxus in unserer Gegenwart, in der alles möglichst durchgetaktet und effizient sein muss.

Der Weg ist das Ziel: Verspätungen als Erlebnis

Diese Langsamkeit erlebten wir auf unserer Reise durch Großbritannien insbesondere in England immer wieder. Anders als in Schottland, wo seit April 2022 wieder eine Staatsbahn fährt, betreiben verschiedene private Anbieter mehr schlecht als recht Englands Zugverkehr: Die Züge sind meist veraltet und unbequem, die Personaldecke extrem dünn, das Streckennetz selbst teilweise desolat. Verspätungen sind hier vorprogrammiert und alltägliche Normalität, wie wir immer wieder (und nicht nur vor Newcastle) erfahren oder viel eher: erleiden mussten.

Besonders auf der zweiten Etappe unserer Reise, von London nach Inverness, kam uns das hart an: Wir hatten eine Regionalbahn von Kings Cross nach Edinburgh gebucht, um dort in die staatliche ScotsRail umzusteigen. Die Zugfahrt selbst war landschaftlich zwar ein Traum: Quer über die berühmten grünen Wiesen Englands, die William Blake so wunderbar bedichtet hat, ging es in den Norden, durch Sümpfe, dichte Eichenwälder und vorbei an malerischen Dörfern und Landstädtchen. Unser Wagon war aber dafür eine Zumutung: Ein uraltes Exemplar aus den 1980ern. Abgewetzte Sitze, schmierige Tische, ein kaum funktionierendes, stinkendes Klo.

Das heißt nun natürlich nicht, dass alle Verspätungen unserer Reise immer zu wundervollen Erlebnissen führten. Meistens waren es einfach wirklich mehr oder minder kleine Ärgernisse.

Wir waren darum, zugegeben, nicht ganz frohgemut als unser Zug am späten Nachmittag mit 45 Minuten Verspätung in Edinburgh einrollte. Immerhin, die mitgebrachten Sandwiches und der kostenlos verteilte Tee hatten uns aufgemuntert und der Schaffner versicherte uns noch, dass wir problemlos den nächsten Zug nach Inverness nehmen könnten. Leider hatte er vergessen, zu erwähnen, dass dieser erst in drei Stunden Edinburgh verlassen würde. Als wir ungläubig und erschöpft den Zugfahrplan in Weaverly Station studierten, sank, verständlicherweise unsere Laune in den Keller.

Recht missmutig verließen wir so die Bahnstation, unschlüssig, was wir mit der Zeit anfangen sollten – und landeten unverhofft auf Edinburghs Weihnachtsmarkt. Dieser erfreut sich einiger lokaler Berühmtheiten. Und das vollkommen zurecht: Die kuriose Mischung aus Volksfest, komplett mit Karussells und Rutschen, und klassischem Adventsmarkt ist absolut sehenswert. Wir hatten nie davon gehört und hätten sicher nicht geplant, ihn zu besuchen. So aber hatten wir die Zeit, und schlenderten, schnell mit der Verspätung versöhnt und je einen Hot Toddy (eine lokale Spezialität, warmer Whiskey mit Zitrone, Honig und verschiedenen Gewürzen) in der Hand, durch eine glitzernde Weihnachtswunderwelt.

Das heißt nun natürlich nicht, dass alle Verspätungen unserer Reise immer zu wundervollen Erlebnissen führten. Meistens waren es einfach wirklich mehr oder minder kleine Ärgernisse. Dennoch ermöglichte uns das vergleichsweise langsame Reisen, einen ganz anderen Einblick in das Leben und den Alltag in Großbritannien, als er sich durch gut durchgeplante Flugreisen ergibt.

Dazu gehört auch der bemerkenswerte Umgang insbesondere der schottischen Staatsbahn mit Verspätungen: Während wir auf unserer letzten Reise mit einem deutschen ICE nach zweistündiger Verspätung von einem sichtlich genervten Schaffner das Formular für Fahrgastrechte beinahe erbetteln mussten, wurden wir in einem schottischen Regionalzug positiv von der Freundlichkeit des Zugpersonals überrascht: Keine zehn Minuten nach einem Stopp im bezaubernden, schottisch-nebligem Nirgendwo wurden wir mit frischem schwarzem Tee und Biscuits versorgt und nicht nur das: Auch Formulare für eine Rückerstattung des Fahrpreises wurden dazu gereicht. Als wir fragten, ob die Erstattung auch für ausländische Fahrgäste gilt, entgegnete die Schaffnerin lächelnd, wir sollten es probieren. Kostet ja nichts. Also gut, das Formular war schnell ausgefüllt und wurde auch schon wieder vom Zugpersonal eingesammelt. Das Ergebnis: Zwei Wochen später bekamen wir beinahe den kompletten Preis erstattet.

Eine Kulanz, die Bahnreisende in Deutschland nicht kennen.

Blick auf das kleine Fischerdorf Rosmarkie Beach nördlich von Inverness

Zugreisen erfordert viel Planung, Geduld – und Humor

Die schottische Staatsbahn zeichnet sich nicht nur durch ihre Kulanz aus. Sie verfügt auch, zumindest unserer Erfahrung nach, über bequemere Züge als die privatisierten, englischen Bahnen. Und: Sie ist deutlich billiger. Für das Ticket von Edinburgh nach Inverness, immerhin 300 Kilometer, zahlten wir pro Person etwas über 22 Euro. Ein Bruchteil dessen, was wir für die Bahnfahrten in England zahlen mussten.

Denn die traurige Wahrheit ist auch: Zugfahren ist teuer und erfordert sehr viel Recherche und Planung. Das mussten wir zu Anfang unserer Reise feststellen.

Ganz naiv war ich davon ausgegangen, dass mensch einfach bequem auf die Internetseite der DB gehen und dort die Zugverbindungen buchen kann. Weit gefehlt: Die Deutsche Bahn bietet zwar die Strecke nach London an (für ungefähr 350 Euro pro Person, einfach und ohne Sitzplatz), ab dann wird es aber schwierig. Wer, wie wir, regional reisen und auch kleine(re) Städte im Ausland ansteuern will, muss in der Regel die jeweiligen, nationalen Bahngesellschaften aufrufen. In unserem Fall hieß das: Herausfinden welche Gesellschaft, welche Strecke betreibt, welche Linien in Frage kommen, die jeweiligen Buchungsseiten finden, usw. Ein ewiger Planungsaufwand, der unseren Entschluss, Bahn zu fahren, beinahe ins Wanken gebracht hätte: Abgesehen von den Zügen in Schottland waren die Preise so hoch, dass sie unser Budget schlicht sprengten. Obwohl wir viele Monate vor Reisebeginn buchten, hätten wir uns das Zugfahren kaum leisten können.

Auch wenn tools wie trainline oder omio das Planen und Buchen von innereuropäischen Fernzugreisen erleichtern, verlangt das Planen der Route wesentlich mehr Aufwand, als das Buchen eines Flugtickets.

Zum Glück entdeckten wir rechtzeitig die Plattform trainline. Trainline bietet eine Suchfunktion an, mit der Nutzer:innen besonders günstige Angebote für Bahn- und Busreisen in Großbritannien aber auch in vielen anderen Ländern des europäischen Kontinents finden und (gegen eine kleine Gebühr) buchen können. Statt 350 Euro für die Fahrt München-London zahlten wir so beispielsweise nur 110 Euro für die Strecke.

Trotzdem: Auch wenn tools wie trainline oder omio das Planen und Buchen von innereuropäischen Fernzugreisen erleichtern, verlangt das Planen der Route wesentlich mehr Aufwand, als das Buchen eines Flugtickets. Insbesondere, da viele Informationen nur schwer zugänglich ist: Welche Route ist beispielsweise die landschaftlich reizvollste? In welchen Zügen lohnt es sich, auch mal erste Klasse zu fahren? Haben alle Züge ein Bordbistro? Nur durch viel geduldige Recherche (und Büchern wie Cindy Ruschs Europa mit dem Zug) konnten wir das herausbekommen.

Und selbst dann, lässt sich nicht alles vorhersagen: Dass der Zug, der uns von Newcastle nach London bringen sollte, voller enthusiastischer Fußballfans sein würde, die sich auf der Fahrt nach Birmingham noch Mut antrinken mussten, hätte uns kein Zugführer der Welt vorhersagen können. In so einem Fall hilft nur eins: Humor. Und: Freundlich um eine Dose Cider bitten, um alsbald Fangesänge mitzugrölen.

Bahnreisen ist wundervoll – aber es könnte noch besser werden

Insgesamt war unsere Reise in den Norden Schottlands ein wunderbares Abenteuer. Mehr als 6000 Schienenkilometer legten wir zurück. Wir wanderten entlang des Loch Ness, saßen in Edinburghs Pubs, atmeten die Multikulturalität Londons ein. Und wir durften eine entspannende Form des Reisens genießen, lernten spannende Menschen kennen, Fangesänge und Christmas Carols inklusive.

Schottland zeigt, zum Beispiel, wie bequemes und billiges Reisen mit dem Zug aussehen kann. Hieran, so wäre zu hoffen, könnten Länder in der EU anschließen.

Das heißt aber nicht, dass sich nichts ändern muss: Politische Entscheidungsträger:innen geloben immer wieder, Bahnreisen zu fördern. Die Realität ist aber eine andere. Obwohl es eines der klimaeffizientesten Verkehrsmittel ist, ist die Bahn teuer und oft unbequem. Zudem ist es erstaunlich kompliziert, eine Bahnreise über Ländergrenzen hinweg zu buchen. Wer wenig Zeit, Kapazitäten und Geld hat, wird darum vermutlich schnell abgeschreckt.

Hier kann etwas getan werden: Schottland zeigt, zum Beispiel, wie bequemes und billiges Reisen mit dem Zug aussehen kann. Hieran, so wäre zu hoffen, könnten Länder in der EU anschließen. Es wäre zu hoffen, dass erstens die Preise gesenkt, zweitens die Bahnen saniert und das Reisen so angenehmer gemacht werden. Drittens wäre zu wünschen, dass, ähnlich wie beim Fliegen, zentrale Plattformen und Vergleichsportale bekannter werden, die das Buchen von Tickets erleichtern.

So oder so. Für uns steht fest: Bahnreisen hat uns in den Bann geschlagen und wir werden weiterhin aufs Fliegen verzichten. Denn Erlebnisse wie der Weihnachtschor im Zug vor Newcastle gibt es im Ferienflieger auf dem Weg zum Strand nicht.

Infos für Zugreisende:

CO2-Kalkulator: https://co2.myclimate.org/de/flight_calculators

Zugverbindungen und Angebote europaweit:

Trainline: https://www.thetrainline.com/de

Interrail:https://www.interrail.eu/de/plan-your-trip?&&&&ds_rl=1281530&ds_rl=1281530&gclid=CjwKCAjw0N6hBhAUEiwAXab-TQFdRVK3JNE7wbPwnUGQTtRbBFZdk8zt385K68D2gihD425PUOfRdRoCmZMQAvD_BwE&gclsrc=aw.ds

Omio:https://www.omio.fr/ (französisch)

Blog zum nachhaltigen Reisen mit dem Zug: https://traintracks.eu/

Buchempfehlung: Cindy Ruch: Europa mit dem Zug. (Reisedepeschen Verlag, 2022); 22,00 EUR (Taschenbuch)

Zu den Kosten:

Die Kosten hängen stark vom Zeitpunkt des Buchens und der gewählten Plattform ab. Wir buchten ungefähr 4 Monate vor Reisebeginn über trainline und zahlten insgesamt für alle Zugfahrten etwas über 800 Euro.

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