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Monika Hauser wurde 1959 als Tochter Südtiroler Eltern in der Schweiz geboren. Vor 25 Jahren gründete die Fachärztin für Gynäkologie in Bosnien die Frauenrechtsorganisation Medica Zenica und in der Folge medica mondiale in Köln. Für ihre Arbeit mit kriegstraumatisierten Frauen wurde sie mit dem alternativen Nobelpreis ausgezeichnet. zebra. traf sie in Brixen zum Interview.
Was macht medica mondiale?
Monika Hauser: medica mondiale arbeitet mit Frauen und Mädchen, die Opfer sexualisierter Gewalt in Krisen- und Kriegssituationen geworden sind. Wir haben in Bosnien begonnen und sind heute auch im Kosovo, in Liberia und Afghanistan aktiv. In weiteren Kriegsgebieten arbeiten wir eng mit Partnerorganisationen zusammen, die unseren Ansatz übernommen haben.
Welche Methoden wenden Sie und Ihre Mitarbeiterinnen an?
Wir arbeiten interdisziplinär, wollen traumatisierte Frauen stärken und ihnen eine neue Lebensperspektive ermöglichen. Dafür ist nicht nur eine medizinisch-gynäkologische, sondern auch eine adäquate psychosoziale Betreuung notwendig, für die wir einen eigenen stress- und traumasensiblen Ansatz entwickelt haben.
Warum ist eine psychosoziale Betreuung so wichtig?
Die körperlichen und seelischen Grenzen misshandelter und vergewaltigter Frauen wurden vielfach überschritten. Um wieder die Kontrolle über ihr Leben zurückzuerhalten, brauchen sie Stabilität und Sicherheit und müssen ihr Selbstwertgefühl wiedererlangen. Die medizinische Betreuung darf deshalb nicht nur symptomorientiert sein, wie es die Schulmedizin oft vorlebt.
„Es reicht nicht, eine Frau zu stärken, wenn sie dann wieder auf eine Gesellschaft trifft, die sie stigmatisiert und das Thema tabuisiert.”
Was gehört noch zu Ihren interdisziplinären Angeboten?
Wir organisieren einerseits vor Ort Fortbildungen für das medizinische und juristische Personal. Frauen, die die Täter anzeigen wollen, werden häufig nicht ernst genommen, selbst für die Tat verantwortlich gemacht und somit von der Polizei retraumatisiert. Es muss ein sicheres Umfeld geschaffen werden, damit die Frauen sich trauen, eine Anzeige zu machen und dadurch bestenfalls auch gestärkt aus dem Prozess herausgehen können. Auf der anderen Seite machen wir Aufklärungs- und Sensibilisierungsarbeit in der Gesellschaft. Es reicht nicht, eine Frau zu stärken, wenn sie dann wieder auf eine Gesellschaft trifft, die sie stigmatisiert und das Thema tabuisiert. Demnach müssen wir Aufklärung in der Familie, in der Politik und in der Gesellschaft betreiben, damit der Finger auf den Täter gezeigt wird und nicht auf die Frau.
Sie arbeiten seit 2002 auch in Afghanistan. Wie ist die Situation dort?
Afghanische Frauen und Mädchen haben zwar auf dem Papier dieselben Rechte wie Männer, trotzdem werden diese aber oft nicht eingehalten. Besonders wichtig war uns deshalb von Anfang an die Ausbildung von afghanischen Juristinnen zu Strafverteidigerinnen von Frauen. Ich bin stolz, dass wir heute eine selbstständig agierende Organisation Medica Afghanistan mit über 70 afghanischen Mitarbeiterinnen haben.
Was wird den Frauen in Afghanistan angelastet?
„Zina“, das Verbrechen des vor- oder außerehelichen Geschlechtsverkehrs, ist dort ein großes Problem. Wenn eine Frau vergewaltigt wird, hat sie – wenn auch unwillentlich –„Zina“ begangen und kann deshalb ins Gefängnis kommen. Das Leben ist für sie dann eigentlich vorbei. Die afghanischen Anwältinnen setzen sich dafür ein, dass inhaftierte Frauen ein gerechtes Verfahren erhalten und treten bei zivilrechtlichen Fällen als Beraterinnen auf, etwa bei Scheidungs- und Sorgerechtsfragen. Erst 2011 wurde ein Gesetz zur Bestrafung von Gewalttaten an Frauen verabschiedet und setzte ein erstes Signal.
Wie gelingt es in Afghanistan, die Frauen in ihr soziales Umfeld zurückzuführen?
medica mondiale setzt immer auch auf einkommensschaffende Maßnahmen. Frauen sollen nicht erneut in Abhängigkeiten geraten, sondern für sich und ihre Kinder selbständig sorgen können. Das verschafft Selbstwertgefühl und ist ein emanzipatorisch wichtiger Schritt. Die Anwältinnen und Sozialarbeiterinnen führen außerdem Vermittlungsgespräche mit den Frauen und ihren Familienangehörigen, um die familiären Konfliktsituationen zu entschärfen. Sie suchen das Gespräch mit dem Vater, dem Ehemann, dem Mullah oder dem Dorfältesten. Bei solchen Mediationen habe ich berührende Momente erlebt, so sind etwa Väter zusammengebrochen, als sie erkannt haben, dass sie durch eine Zwangsheirat das Leben ihrer Tochter zerstört haben.
„Viele Frauen haben während der Flucht vielfach Gewalt vonseiten der Schlepper, Mitflüchtender oder hiesiger Sicherheitskräfte erlebt. Gewaltsituationen passieren aber auch in Flüchtlingsunterkünften.”
Auch in Südtirol und in Deutschland gibt es geflüchtete Frauen, die in ihrem Herkunftsland oder auf der Reise hierher sexualisierte Gewalt erlebt haben. Gibt es ein Bewusstsein dafür?
Diese Frauen haben während der Flucht vielfach Gewalt vonseiten der Schlepper, Mitflüchtender oder hiesiger Sicherheitskräfte erlebt. Gewaltsituationen passieren aber auch in Flüchtlingsunterkünften. Wir haben in Deutschland dokumentierte Fälle von Übergriffen durch das Aufsichtspersonal. Geahndet werden sie selten. Daher hat medica mondiale Gewaltschutzkonzepte für Flüchtlingseinrichtungen ausgearbeitet. Das Bewusstsein dafür fehlt aber vielerorts und das macht mich sehr wütend. Nach so viel dokumentierter Gewalt an Frauen sollte die leitende Person einer Struktur wissen, dass es viel wahrscheinlicher ist, dass Gewalt passiert, als dass sie nicht passiert. Prävention ist wichtig, es braucht klare Regeln, einen Code of Conduct, Fortbildungen für das Personal und Selbstreflexionsseminare für Männer.
medica mondiale fordert immer wieder, dass auch in Altersheimen traumasensibel gearbeitet wird. Warum?
Frauen in Altersheimen, sei es in Deutschland wie in Italien, werden häufig pathologisiert und medikalisiert. Es wird nicht versucht zu verstehen, warum eine Frau etwa keinen Urinkatheter gelegt haben will. Ich weiß von Frauen, die während des Krieges von russischen Soldaten vergewaltigt worden sind. Werden sie im Altersheim von einem russischen Pfleger betreut, erinnert allein der Akzent die Frauen sofort an das erlebte Leid.
Ihre Eltern kommen ursprünglich aus dem Vinschgau. Welche Verbindungen haben Sie zu Südtirol?
Wir waren als Kinder sehr oft in Südtirol, und nach meinem Studium habe ich im Krankenhaus in Schlanders mein „tirocinio“ gemacht. Diese Zeit vor über 30 Jahren hat mich sehr geprägt. Frauen aus den Dörfern haben mir ihr Leid geklagt, viele berichteten auch von Gewalt und Vergewaltigungen. Ihre Geschichten wurden damals tabuisiert, man zeigte mit dem Finger auf die Frauen, nicht auf die Täter. Auch ich sollte darüber schweigen – das wollte die Krankenhausleitung, aber auch Kolleg*innen. Aber ich weigerte mich und damals begann mein Einsatz für die Frauen.
„In Dänemark gibt es die meisten Anzeigen wegen Vergewaltigung – aber nicht etwa weil dort die meisten Vergewaltigungen passieren, sondern weil sich die Betroffenen dort häufiger an die Justiz wenden und dort auf ein für sie sicheres Umfeld treffen.”
Wie ist die Situation heute?
Natürlich hat sich einiges getan, aber sexualisierte Gewalt ist immer noch ein Tabuthema. In einigen Ländern mehr, in anderen weniger. In Dänemark gibt es die meisten Anzeigen wegen Vergewaltigung – aber nicht etwa weil dort die meisten Vergewaltigungen passieren, sondern weil sich die Betroffenen dort häufiger an die Justiz wenden und dort auf ein für sie sicheres Umfeld treffen. Es gibt auch in Europa noch viel zu tun.
Was muss sich in unserer Gesellschaft und Politik in Bezug auf sexualisierte Gewalt ändern?
Wir müssen mehr darüber reden, das Thema muss uns bewusst werden. Durch sexistische Werbung, zum Beispiel, werden Frauen tagtäglich erniedrigt. Anzeigen für Bordelle, in denen Zwangsprostituierte arbeiten, dürfen nicht als „normal“ angesehen werden. Wie sollen Frauen starke Kinder erziehen, wenn sie durch mediale Darstellungen und patriarchale Machstrukturen erniedrigt und oft retraumatisiert werden.
Was ist Ihre Botschaft?
Unsere Gesellschaft braucht Frauen und Männer, die zu ihrer Lebendigkeit stehen, also stark und schwach sein können – jenseits aller Geschlechterstereotype, um so eine Zukunft für alle zu schaffen. Deshalb fordere ich, dass sich die Politik stärker für die „Schwachen“ in unserer Gesellschaft einsetzt, anstatt nur auf neoliberale Gewinnmaximierung zu setzen. Die Ausbeutung von humanen Ressourcen und auch die Zerstörung der Umwelt gehen Hand in Hand mit einer patriarchalischen Machtstruktur. Wie sähe hingegen unsere Welt aus, wenn jene an den großen Entscheidungen teilhaben würden, die sich um Kinder, Alte und Schwache kümmern?
Das Interview führte Monika Thaler. Es ist erstmals in der 38. Ausgabe (Juni 2018) der Straßenzeitung zebra. erschienen.
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