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Matthias Schwarz ist Weltenbummler, Freigeist – und seit einer 20.000 Kilometer langen Radreise auch Autor. In seinem Buch „Persischer Wein. Wie ich im Bike-Rausch bis in den Iran radelte“ (Edition Raetia, 2024) erzählt er von seiner 17-monatigen Tour, die ihn durch 18 Länder führte: vom heimatlichen Eppan in Südtirol über den Nahen Osten bis nach Isfahan, wo sein bester Freund heiratet. Dabei steht nicht das Ziel im Mittelpunkt, sondern der Weg – und die Menschen, denen er begegnet. Schwarz berichtet von bewegenden Momenten, politischen Spannungen und persönlichem Wachstum. Besonders eindrücklich: seine Erlebnisse in Israel und Palästina. BARFUSS bringt hier einen Auszug aus dem Kapitel über Palästinamit dem Titel „Terra Sancta“.
An die Grenze kommen wir mit dem Bus. Mein erster Eindruck von Israel – falsch: von Israelis in Palästina – ist ein Grenzbeamter: jung, blondes Haar, eine Sonnenbrille verdeckt seine Augen, seine Kiefer mahlen einen Kaugummi. Er hat keine Uniform an und lehnt lässig über ein Geländer. Um seine Brust hängt ein Maschinengewehr. Unser Gepäck und die Räder wurden zwar schon von den Jordaniern kontrolliert, aber hier muss nochmals das ganze Gepäck durch eine eigene Sicherheitsschleuse. Wir begeben uns in den Wartesaal. Neben uns sitzen zwei Briten, Studenten. Sie warten schon seit zwei Stunden auf ihren Freund. Er hat einen arabischen Namen und wurde deshalb rausgezogen und verhört. Die Israelis haben Angst vor Anschlägen und kontrollieren präventiv alle arabisch oder muslimisch aussehenden Personen besonders genau. Manche sagen, es ist bewusste Schikane. Ich habe deswegen auch Bammel. Die vielen arabischen und iranischen Stempel in meinem Pass könnten für Aufregung sorgen. Der Beamte am Schalter schlägt aber nur die erste Seite meines Passes auf und drückt ihn mir dann wieder in die Hand. Vielleicht kommt die richtige Kontrolle noch, wenn wir nach Israel reisen … Wir sind jetzt im Westjordanland. Es ist ein Teil Palästinas und seit 1967 von Israel okkupiert. Gemeinsam mit Gaza, das ebenfalls von Israel besetzt ist, bildet es den Staat Palästina, der von 146 Staaten weltweit anerkannt ist.
Um den Bus nach Jericho, in die nächstgelegene Stadt, zu nehmen, müssen wir unsere Räder zum x-ten Mal in diesen Wochen auseinanderbauen. Jedes Mal befürchte ich, dass ich es nicht mehr richtig zusammenbaue, etwas fehlt oder kaputt ist. Doch das Schlimmste kommt erst: Von Jericho müssen wir ein Sammeltaxi nach Ramallah nehmen. Der Fahrer denkt gar nicht daran, wertvolle Sitzplätze für unsere Räder zu opfern, und schnallt sie auf das Dach. Wir sind, noch, seine einzigen Passagiere und müssen warten. Erst wenn das Taxi voll ist, wird gestartet. Ohne das Rad unter meinem Hintern fühle ich mich gerade sehr hilflos und ausgeliefert. Ein Deutsch-Palästinenser will ebenfalls bei uns mitfahren. Das Taxi ist zwar immer noch nicht voll, aber er drängt darauf zu starten. „Im Norden hat es einen Anschlag mit zwei Toten gegeben, und wenn wir nicht losfahren, riegelt die Armee alles ab“, sagt er. Der Fahrer ist anderer Meinung und will noch warten. Dem Deutsch-Palästinenser wird das Warten zu lang. Er kauft alle leeren Plätze auf und die Fahrt geht los. Bei jeder Bremsung, bei jedem Schlagloch krachen unsere Räder auf dem Dach aufeinander. Am Weg nach Ramallah kommen wir tatsächlich an mehreren Straßensperren vorbei, an einer werden wir nach unseren Ausweisen gefragt. In Ramallah schmeißt uns der Fahrer beim Fahrradgeschäft raus. Es ist zu, denn heute ist Freitag.
Nachdem wir ihm geschrieben haben, kommt der Besitzer Halil jedoch vorbei und hilft uns. Während er Stephanie ein neues Schaltauge montiert, erzählt Halil uns seine Geschichte. Diese Beschäftigung hier ist nur sein Zweitjob und Ramallah nicht seine Stadt. Er kommt aus OstJerusalem, dem palästinensischen Teil Jerusalems. Den Palästinenser*innen wurde das Leben durch die israelischen Behörden aber immer schwerer gemacht. Deshalb war er gezwungen, seine Heimatstadt zu verlassen. Seinen Brotberuf übt er in einem Radgeschäft in Israel aus, circa 55 Kilometer von Ramallah entfernt. Jeden Tag muss er circa sechs Stunden pendeln. Alle Palästinenser*innen, die aus dem Westjordanland nach Israel wollen, werden an der Grenze penibel kontrolliert. Die israelischen Behörden wollen genau wissen, wer Israel betritt. Sie haben Angst vor Terroranschlägen. Auch wir haben Angst vor Gewalt. Wie schon erwähnt, hat sich die Gewaltspirale im Westjordanland in den letzten Jahren weitergedreht. Trotzdem entschließen wir uns dazu, hierzubleiben. Halil lädt uns ein, sein Land kennenzulernen, würde am liebsten selbst mitfahren. Er möchte, dass die Menschen im Ausland auch die schönen Seiten Palästinas kennenlernen und es nicht nur der Okkupation wegen im Kopf behalten.
Wir nehmen uns Halils Rat zu Herzen und starten am nächsten Tag Richtung Jericho. Die Stimmung auf der Straße ist seltsam. Kaum jemand lacht hinter der Frontscheibe, viele gucken grimmig. Man ist misstrauisch. Die Okkupation hat auch hier ihre Spuren hinterlassen. Bei jedem Menschen muss neu entschieden werden: Ist das ein Freund oder Feind? Mit unserer hellen Haut und den blonden Haaren können wir leicht mit Siedler*innen verwechselt werden. Siedler*innen, das sind Israelis, die das Westjordanland illegal besiedeln. Viele davon sehen Palästina als Teil ihres historischen Heimatlandes, von dem im Talmud die Rede ist. Einige sind aber auch hier, weil es schlicht günstiger ist, in den besetzten Gebieten zu wohnen. Der Staat unterstützt die Mehrheit dieser Siedlungen nämlich finanziell und auch militärisch. Mehr als 600.000 Siedler*innen gibt es in Palästina. Immer wieder kommt es zu Zusammenstößen zwischen ihnen und den Palästinenser*innen. Am Abend fahren wir in ein Hotel in Aqabat Jaber neben Jericho. Viele der Bewohner*innen sind Flüchtlinge der zahlreichen Kriege zwischen Israel und seinen Nachbarstaaten. Es ist aber kein Flüchtlingscamp, wie man es im Fernsehen sieht.
Die geflüchteten Menschen hier leben nicht in Zelten, sondern haben sich Häuser gebaut. Die Rückkehr in die Orte ihrer Vertreibung ist derzeit unwahrscheinlich. Viele von ihnen sind nach der Staatsgründung Israels, der Nakba (arabisch für „Katastrophe“), vertrieben worden. Andere sind durch den Sechstagekrieg von 1967 hinzugekommen. Der Besitzer des Hotels lädt uns ein, mit ihm das Fasten zu brechen, denn es ist immer noch Ramadan. Um den Tisch sitzen schon einige seiner Freunde. In ihren Trainingsanzügen mit den drei Streifen strahlen sie Männlichkeit und Kleingangstertum aus. Doch das ist alles nur Fassade. Wenn sie ihre Geschichten von Flucht und Vertreibung erzählen, treten ihr ganzes Leid und ihre Zerbrechlichkeit hervor. Am nächsten Tag besichtigen wir das St.-Georg-Kloster in der Nähe von Aqabat Jaber. Es liegt malerisch in einer Schlucht. Auch wenn wir noch nie hier waren, sind diese Orte uns aus dem Religionsunterricht und von der Lektüre der Kinderbibel sehr vertraut. Ich bin kein religiöser Mensch, aber von Jericho und anderen biblischen Orten wurde so oft gesprochen, dass es mir in Fleisch und Blut übergegangen ist. Wir sind nicht die einzigen Besucher*innen. Neben uns, auf der Aussichtsplattform, steht eine Gruppe Israelis. Einer der Männer kommt zu uns herüber: Hawaiihemd, Hut, Brille mit kleinen runden Gläsern, liebenswürdiger Gesichtsausdruck. „Hallo!“, sagt er. „Wie gefällt’s euch in Israel?“ Mir fehlt die Antwort. Ich habe viel gelesen über die Siedler*innen und ihre extremen Ansichten, aber die erste wirkliche Begegnung lässt mich sprachlos zurück. In den Büchern wird abstrakt von der Einstellung und Überzeugung der Siedler*innen gesprochen.
In dieser Begegnung trifft sie mich kondensiert in dieser banalen Frage. Das Einzige, was ich herausbringe, ist: „Ich weiß es noch nicht.“ Für den älteren Mann, wie für viele Israelis am rechten Rand, gehört das Westjordanland ganz selbstverständlich zu Israel. Viele kennen den Namen „Palästina“ nicht oder wollen ihn nicht kennen. Für sie heißt das Land „Judäa und Samaria“. An der Hauptstraße, die vom Toten Meer kommt, hängen überall israelische Flaggen. Die Straße ist stark befahren. Viele Israelis fahren für das Wochenende gerne ans Tote Meer. Ein Pick-up rauscht vorbei, auf der Ladefläche eine israelische Flagge. Ich fühle mich an die Türkei oder die USA erinnert. Nirgends habe ich sonst so viele Flaggen gesehen. Nach ein paar Kilometern verlassen wir die Straße wieder und biegen ab in die Siedlung Ma’ale Adumim. Wir als Ausländer*innen können das, einfach den schnellsten Weg wählen. Doch für Palästinenser*innen ist das in ihrem eigenen Land nicht immer möglich. Es gibt Straßen wie die Route 4370, die für Autos mit palästinensischem Kennzeichen gesperrt ist. Sie müssen deshalb oft lange Umwege in Kauf nehmen, sind der Willkür der Soldaten an den Checkpoints ausgesetzt. Die ganze Siedlung ist mit Stacheldraht eingezäunt. Am Eingang gibt es ein Tor mit Schranke. Jeder muss sich ausweisen. Abends wird das Tor geschlossen. Dahinter liegt eine amerikanische Kleinstadtidylle: Klinkerfassaden, sauberer Gehsteig, akkurat gepflegte Parks und Vorgärten. Mitten in Palästina.
Die Stadt ist ausgestorben. Kurze Zeit später befinden wir uns wieder in einem quirligen palästinensischen Dorf. Vor Bethlehem müssen wir durch unseren ersten Checkpoint. Die drei Soldaten und ihre Kommandeurin dürften kaum älter als 18 sein und reichen mir nur bis zur Brust. Sie sind von unserer Anwesenheit überfordert, wollen uns zuerst nicht weiterfahren lassen. Dazu sprechen sie kaum Englisch. Die Kommandeurin erteilt ihren Untergebenen mit krächzender Stimme Befehle. Die Maschinengewehre, die ihnen um den Hals hängen, erinnern immer an ihre Bedrohlichkeit. Ich muss an die vielen Menschen denken, die täglich hier durchmüssen. Es ist schon dunkel, als wir unser Hostel in Bethlehem erreichen. Bis auf einen Gast ist es leer. Die Tourist*innen bleiben aus, kommen lieber für einen Tagestrip aus Jerusalem nach Bethlehem. Trotzdem haben wir keinen Schlafsaal für uns. Der Besitzer ist religiös, Frauen und Männer dürfen nicht im selben Zimmer schlafen. Alkohol ist verboten und zu viel Haut zeigen nicht erwünscht. An der Tür zur Dusche pappt ein Schild: „Bitte nicht zu lange duschen, in Palästina herrscht Wasserknappheit.“ Wie Jordanien leiden auch die palästinensischen Gebiete unter Wassermangel.
Der Grund dafür liegt auch hier in der Okkupation. Unter der Westbank gibt es ein Grundwasserreservoir, doch das wird zu 87 Prozent von Israel genutzt. Palästinenser*innen dürfen ohne israelische Erlaubnis keine existierenden Brunnen vertiefen, keine neuen Brunnen bauen und keine Pumpen installieren. Wir verlassen Bethlehem am nächsten Tag. Das Wetter soll wieder umschlagen und wir wollen nicht dort festsitzen. Wir fahren zum Herodium, einem der Paläste des Herodes. Die Ruinen des Palastes befinden sich inmitten eines der vielen Nationalparks. Der Schutz der Natur, der in vielen Weltgegenden etwas Schönes ist, ist hier Teil der Strategie zur Vertreibung von Palästinenser*innen. Durch die Errichtung eines Nationalparks kann es palästinensischen Bauern und Bäuerinnen zum Beispiel verboten werden, dort ihr Land zu kultivieren. Stephanie treibt diese Ungerechtigkeit die Tränen in die Augen. Mich versetzt sie in Apathie. Am Eingang des Nationalparks müssen wir ein Ticket lösen. Ein Ranger spricht uns an, ist neugierig auf unsere Reise. Im Holster trägt er eine Waffe. Wir fühlen uns unwohl. Trotzdem schauen wir uns die Ruinen an.
In unserem Kopf pocht ständig die gleiche Frage: Was sind diese Siedler*innen für Menschen? Wie kommt man dazu, fremdes Land zu stehlen und es als normal zu betrachten? Wir würden gerne auch mit Siedler*innen sprechen, diese Frage stellen, ihre Seite hören. Doch es kommt nicht dazu. Bei unserer Fahrt durch die Siedlungen fühlen wir uns wie Eindringlinge. Schon die Einfahrt durch ein Metalltor und die hohen Maschendrahtzäune fühlen sich bedrohlich an. In einer Siedlung sind Bilder von Panzern an die Wand gemalt. Einige der Siedler*innen tragen offen Waffen. Nicht die idealen Umstände, um Gespräche zu führen. Dafür sprechen wir mit Hans. Hans ist Belgier und arbeitet für das Internationale Rote Kreuz in Hebron. Er hat angeboten, uns über die Regentage in seiner Wohnung in Hebron zu beherbergen. Beim Roten Kreuz überwacht er die Einhaltung der Genfer Konventionen und organisiert und begleitet Gefängnisbesuche durch die Angehörigen. Alle paar Jahre wechselt er das Einsatzgebiet, war schon in Kolumbien, Papua-Neuguinea und im Südsudan. Am Abend bereitet er uns gemeinsam mit seiner Freundin seine Spezialität Tortillas und Guacamole zu.
Buchvorstellungen:
BOZEN
Wann? 04.06.2025 | 18 Uhr
Wo? Waltherhaus (Sparkassensaal, 1. UG) | Schlernstraße 1
SCHLANDERS
Wann? 26.06.2025 | 18:30 Uhr
Wo? BASIS Vinschgau Venosta | Kortscher Straße 97
VAHRN
Wann? 02.10.2025 | 19:30 Uhr
Wo? Öff. Bibliothek Vahrn | Salernstraße 7
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