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Bei der diesjährigen Summer School Südtirol, die vom 22.–26. August auf Schloss Velthurns stattfindet, wird Susanne Elsen in ihrem Vortrag „Heaven Can Wait“ die aktuellen Altersvorstellungen und die gesellschaftliche Situation älterer Menschen in unserem Kulturkreis beleuchten. Im Vorab-Interview mit BARFUSS spricht sie über Altersdiskriminierung, Emanzipation im Alter und neue Formen des selbstbestimmten Lebens sowie über die Herausforderungen des demografischen Wandels, Altersarmut und mögliche Lösungen für eine bessere Zukunft älterer Menschen.
BARFUSS: Wie nimmt die Gesellschaft ältere Menschen wahr? Und wie kann Altersdiskriminierung bekämpft werden?
Susanne Elsen: Alter wird oft gleichgesetzt mit Hinfälligkeit und Bedürftigkeit. Wir reden aber vom sogenannten 3. Alter. Damit meint man Menschen ab 55 bis 75 Jahren. In dieser Lebensphase sind die meisten Menschen überaus aktiv in den unterschiedlichsten Bereichen und haben ein großes Potenzial an Wissen und Können. Auch im 4. Alter, ab 75 Jahren ist dies meist noch der Fall und nur ein geringer Prozentsatz ist vor der Phase der Hochaltrigkeit, also ab 85 Jahren, pflegebedürftig.
Um die gesellschaftliche Wahrnehmung von Alter zu korrigieren, geht es zunächst um die Selbstwahrnehmung älterer Menschen: Was bin ich wert, wie möchte ich im Alter leben? Und es geht um die Wahrnehmung der Rolle des Alters und erfahrener Menschen in unserer Gesellschaft. Das Erste hat etwas mit Selbstbefreiung zu tun. Es muss uns klar sein, dass Alter die einzige Lebensphase ist, in der wir keine fremd definierten Ziele mehr erreichen müssen.
Wir müssen der Tatsache Rechnung tragen, dass das Alter eine eigenständige Lebensphase ist – und nicht nur der restliche Teil des Lebens.
Wir müssen nicht mehr funktionieren. Zudem müssen wir der Tatsache Rechnung tragen, dass das Alter eine eigenständige Lebensphase ist – und nicht lediglich der restliche Teil des Lebens. Doch sind wir bereit und in der Lage zu wirklicher Selbstbefreiung? Margarethe Mitscherlich schreibt in ihrem Buch „Die Radikalität des Alters“: „Zur Angst vor Emanzipation gehört die Angst vor der Befreiung aus den Zwängen traditionellen Denkens und dem Gefängnis der Wiederholungen, die das Lebendige in einem Menschen ersticken.“ Sie schreibt an anderer Stelle: „Die Furchtlosigkeit alter Menschen lässt sich darauf zurückführen, dass es nichts mehr zu verlieren gibt.“
Welche gesellschaftlichen Vorteile hätte diese Furchtlosigkeit?
Eine Gesellschaft, die unabhängige ältere Menschen akzeptiert und schätzt, würde innerhalb und außerhalb der Erwerbsarbeit Möglichkeitsräume für die Entfaltung ihrer Erfahrungspotenziale und Engagementbereitschaft in Wirtschaft, Wissenschaft, Ökologie, Kultur und Sozialbereich öffnen. Sie können in vielen Bereichen Experten:innen, Korrektive, Begleiter:innen und auch Innovator:innen sein. Eine solche Gesellschaft würde in einem reichen Land auch keine Altersarmut zulassen, die Scham und Rückzug erzeugt. Selbstbestimmung im Alter erfordert eine materielle Absicherung und zum Beispiel auch sicheren und bezahlbaren Wohnraum.
Italien ist das älteste Land der EU: Welche Auswirkungen hat das auf unsere Wirtschaft und Gesellschaft?
Die Zahl der jungen Italiener:innen, die ihren Wohnsitz ins Ausland verlegten, ist nach den Angaben der Istat von 2013 stetig angestiegen. Zwischen 2013 und 2022 war ein Drittel der mehr als eine Million Auswanderer 25 bis 34 Jahre alt. Fast 38 Prozent davon haben einen Hochschulabschluss. Das zeigt, dass viele junge Menschen keine Zukunft in Italien sehen und dieses Land wertvolle Ressourcen verliert. Auch die Zahl der Geburten weist darauf hin. Es bleiben viele alte Menschen übrig und diese werden auch immer älter. Damit verlieren Regionen weitere Potenziale, denn auch die Infrastrukturen brechen zusammen und es entstehen Gebiete der Desinvestition.
Altersarmut ist vor allem weiblich.
Sie erwähnen, dass Altersarmut auch in reichen Regionen wie Südtirol verbreitet ist. Was sind Ihrer Meinung nach die Hauptgründe dafür und wie kann man dagegen vorgehen?
Und diese Altersarmut ist ja vor allem weiblich. Das liegt – wie auch in anderen europäischen Ländern – daran, dass die Lebensläufe von Frauen durch Familienphasen ohne Rentenanspruch unterbrochen werden und dass es an adäquaten Möglichkeiten der Kinderbetreuung fehlt, um Frauen eine wirkliche Teilhabe am Erwerbsleben zu sichern. Hinzu kommt, dass Frauen – um die Vereinbarkeit mit der Familie zu sichern – oft in Teilzeit arbeiten.
Ein generelles Problem besteht darin, dass Südtirol hohe Lebenshaltungskosten, vor allem Wohnkosten, aber vielfach italienische Löhne hat. Eine Rente in Südtirol hat gegenüber der Kaufkraft in Süditalien einen Wert von 50 Prozent.
Wie kann man das negative Bild vom Alter in unserer Gesellschaft ändern, das ältere Menschen als unfähig oder unflexibel darstellt?
Die Defizit-Zuschreibung bezieht sich vor allem auf die Arbeitswelt. Lange hat man versucht, den Arbeitsmarkt, der ja bis vor nicht langer Zeit geprägt war von Arbeitslosigkeit, durch die Aussonderung älterer Menschen, aber auch von Frauen statistisch zu bereinigen.
Die Arbeitsmärkte haben sich rasant verändert. Ich rede nicht nur von Digitalisierung, sondern von Beschleunigung, Standardisierung und Verdichtung von Prozessen. Für ältere Mitarbeiternde können diese Veränderungen herausfordernd sein. Aufgrund ihrer Berufs- und Lebenserfahrungen sehen sie Widersprüche, erkennen Zusammenhänge und Möglichkeiten und sind potenziell kritisch gegenüber institutionellen, technischen oder politischen Entwicklungen auf Kosten von Fachlichkeit und Menschlichkeit. Jüngere lassen sich eher auf vorgegebene Standards ein, oder müssen sich darauf einlassen, wie zum Beispiel der Wissenschaftsbereich zeigt.
Die meisten Betroffenen, 52 Prozent, erlebten eine Kombination aus emotionaler und struktureller Diskriminierung.
Nach einer österreichischen Studie von 2023 hat etwa ein Drittel der Arbeitnehmer:innen über 50 Jahre Altersdiskriminierung am Arbeitsplatz erlebt. Etwa jede:r Fünfte, der oder die altersbedingt diskriminiert wurde, empfand diese Benachteiligung als sehr groß. Die meisten Betroffenen, 52 Prozent, erlebten eine Kombination aus emotionaler und struktureller Diskriminierung. Es ist also ein sehr verbreitetes Phänomen.
Mit dem neuen Arbeitskräftemangel muss man sich aber die Frage stellen, wie Erwerbsarbeit für ältere Mitarbeiter:innen attraktiv sein kann und das bedeutet vor allem persönlichen Respekt und fachliche Wertschätzung.
Welche alternativen Wohnformen für ältere Menschen gibt es und wie können diese dazu beitragen, die Lebensqualität im Alter zu verbessern?
Die gesellschaftliche Enttraditionalisierung und die Veränderungen der Familienkonstellationen haben in vielen Ländern ganz neue Formen des gemeinschaftlichen Zusammenlebens auch im Alter hervorgebracht. Dabei gibt es familienähnliche, intergenerative Formen des Zusammenlebens aber auch Wohn- und Lebensformen, in denen sich Menschen im dritten Alter, nach der Familienphase für bezahlbares, sicheres und altersgerechtes Wohnen in Genossenschaften und anderen Gemeinschaftswohnformen zusammentun. Sie teilen sich die Kosten gegebenenfalls auch für Unterstützungskräfte und verwalten ihre Projekte selbst.
Können Sie Beispiele nennen?
Bekannt ist etwa die Seniorengenossenschaft Riedlingen, die bereits vor 30 Jahren gegründet wurde, das so genannte „Wunder von Tiedoli“, wo in der Emilia Romagna ein ganzes Dorf altersgerecht gestaltet wurde und wo durch die Ansiedlung älterer Menschen Arbeit und eine Perspektive für das Dorf geschaffen wurde, oder auch WAGNIS (Wohnen alternativ, gemeinschaftlich, nachhaltig, innovativ und sozial) in München, eine Gründung der Pionier:innen des Wohnbundes. Am weitesten gehen Städte und Gemeinden, die nach dem so genannten Bielefelder Modell, Stadtteile in Kooperation mit der Wohnungswirtschaft, dem Sozial-und Gesundheitsbereich und der Nahraumversorgung altersgerecht umgestalten und dezentral die Voraussetzungen schaffen, dass Menschen bis ins hohe Alter dort eigenständig leben können. Dieses Modell heißt andernorts „Wohnen im Quartier“.
Wie kann man die Pflege älterer Menschen verbessern? Welche Rolle spielen internationale Konzerne und Finanzinvestoren dabei?
Pflege, Gesundheit und Rüstung scheinen die einzigen sicheren Wachstumsmärkte in den spätkapitalistischen Gesellschaften zu sein. Auch wenn Pflege und Gesundheit zur Daseinsvorsorge gehören, werden sie seit ca. 20 Jahren sukzessive internationalen Kapitalunternehmen überlassen. Eine alternde Gesellschaft und eine sichere, öffentliche und private Finanzierung sind die Grundlagen für dieses lukrative Geschäft. Ein immer größerer Anteil der Gelder, die Regierungen, Versicherungen und private Nutzer:innen für Pflege ausgeben, fließen auf die Konten internationaler Konzerne und Finanzinvestoren.
Wir brauchen Lösungen, die nicht primär profitorientiert sind und dies sind öffentliche und kooperative Organisationen, wie zum Beispiel Genossenschaften und die Anpassung der Gemeinwesen an die veränderte Demographie. Auch die gute alte Idee der Gemeindeschwester wird vielerorts wiederentdeckt.
Es gibt viele ältere Menschen, die sich für gesellschaftliche Belange engagieren. Sie haben verstanden, dass sie eine wichtige und unabhängige gesellschaftliche Kraft sein können, wenn sie sich zusammenschließen.
Wie können ältere Menschen gesellschaftliche Verantwortung übernehmen und sich engagieren? Welche Beispiele gibt es dafür?
Es gibt viele ältere Menschen, die sich für gesellschaftliche Belange engagieren. Sie haben verstanden, dass sie eine wichtige und unabhängige gesellschaftliche Kraft sein können, wenn sie sich zusammenschließen. Sie engagieren sich in Bürgerinitiativen und sozialen Bewegungen und übernehmen gesellschaftliche Verantwortung nicht nur für die Belange ihrer eigenen Generation. Die derzeit bemerkenswerteste Bewegung ist die der „Omas gegen rechts“. Sie setzen sich ein für den Abbau von Angst vor allem Fremden, wollen einen Beitrag zum Schutz der Demokratie leisten und auf die Zunahme von Faschismus, Rassismus, Antisemitismus und Frauenfeindlichkeit reagieren. In Brixen ist die Organisation „Oldies For Future“ entstanden, die sich für ein gerechteres Leben für alle im Einklang mit der Natur einsetzen und aktuell ist auf Initiative von fünf älteren Südtiroler:innen ein Friedensblock gegen Aufrüstung und Kriegstreiberei entstanden.
Wie kann man die Interessen älterer Menschen auf politischer Ebene besser vertreten? Welche Anregungen haben Sie an die Politik?
So wie in der Wirtschaft, sollten die Erfahrungen älterer Menschen geschätzt und genutzt werden. In der Politik unseres Landes fehlen generell Formen der direkten Beteiligung nicht nur der älteren, sondern generell der Zivilgesellschaft, wie sie in anderen Ländern längst mit Erfolg und Gewinn für die Gesellschaft genutzt wird. Dies betrifft zum Beispiel Planungsvorhaben oder Entscheidungen über die Nutzung öffentlicher Räume. Hier hat Südtirol einen großen Nachholbedarf an gelebter Demokratie. Die Politik würde sich damit einen Gefallen tun, nicht nur weil sie Akzeptanz für Veränderungen fördert, sondern weil sie die Bedürfnisse, Kompetenzen und die Engagementbereitschaft der Steuerzahler:innen nutzt.
Wie bewerten Sie die aktuelle Änderung der Landesregierung, die vorsieht, dass Landesangestellte künftig bis zum 70. Lebensjahr arbeiten können, anstatt bis zum 67.?
Ich finde das gut, sofern es nicht auf Kosten der nachrückenden Jungen geht.
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