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Veronika Kaserer sitzt in Mexiko, als ihr Handy klingelt. Es ist der 10. Januar. Die Gewinner der Berlinale 2018 wurden bereits vor über zwei Wochen kontaktiert. Deshalb denkt sich Veronika nichts dabei, als sie den Anruf der deutschen Nummer entgegennimmt, die auf ihrem Display aufscheint: „Herzlichen Glückwunsch, ihr Film hat den Kompass-Perspektiven-Preis 2018 gewonnen“, tönt es aus dem Hörer. „Das war ein surrealer Moment. Ich hatte mit diesem Thema bereits seit Wochen abgeschlossen“, meint die Rittnerin und schüttelt den Kopf, „dabei hatte Heiko im Scherz schon einmal damit gespielt, dass so etwas passieren könnte“.
Als „Überall wo wir sind“ einen Monat später auf der Leinwand in Berlin Premiere feiert, ist Heiko bereits tot. Veronikas Hauptdarsteller war an Krebs erkrankt. Bei ihrem ersten Treffen hatte der Berliner Tanzlehrer keine drei Monate mehr zu leben. Eine emotionale Situation, die die junge Filmemacherin mit ihrer Kamera einfangen wollte. Der Tod hat in ihren Augen viel zu wenig Gewicht in unserem Leben: „Aber je mehr wir uns mit unserer eigenen Sterblichkeit beschäftigen, desto intensiver werden wir leben“, ist sich Veronika sicher.
„Je mehr wir uns mit unserer eigenen Sterblichkeit beschäftigen, desto intensiver werden wir leben.“
Veronika war 15 als sie die Schule abbrach und dem heimischen Hof in Wangen auf dem Ritten den Rücken kehrte. Sie hatte es satt, abhängig zu sein und wollte ihr Leben fern vom Bergbauernhof selbst in die Hand nehmen. Zum Arbeiten verschlug es sie vorerst nach Österreich, dann nach Irland und schließlich nach Amerika. „Eine Zeit, in der ich ohne irgendein Ziel einfach in den Tag hineingelebt habe“, erinnert sich die junge Frau und muss grinsen, „viel Party gehörte natürlich auch dazu.“
London war Veronikas letzte Station im Ausland. Zwei Jahre lebte sie dort, ehe ihre Mutter an Krebs erkrankte. Ein Wendepunkt im Leben der jungen Wilden. Sie beschloss, ihr bevorstehendes Psychologie-Studium in London auf Eis zu legen und sich stattdessen an der Filmschule ZeLIG in Bozen zu bewerben. Obwohl sie nichts mit Film am Hut hatte, wurde sie als eine von 30 unter den 400 Bewerbern ausgewählt. Zwei Wochen vor Studienbeginn verstarb Veronikas Mutter.
„Mein Film macht Menschen bewusst, wie man mit Trauernden umgeht“, sagt Veronika. Die Emotionen, die der Tod ihrer Mutter mit sich gebracht hat, haben sie stark gemacht. Heute sieht sie die Trauer als eine Art Geschenk, das ihr ihre Mutter hinterlassen hat: „Auch wenn das für manchen komisch klingen mag“, sagt die 35-Jährige.
Acht Jahre hat es nach dem Studium in Bozen gedauert, bis Veronika ihren ersten eigenen Dokumentarfilm realisieren konnte. Zuerst ist sie nach England zurückgekehrt. „Dort als Dokumentarfilmerin Fuß zu fassen, ist mir jedoch nicht gelungen. Es gibt zu viele junge, intelligente Leute in diesem Land“, meint sie. Viele gute Filmemacher, geringes Interesse an der Filmgattung und wenig finanzielle Mittel machen das Dokumentarfilm-Business zu einem harten Geschäft, in dem man einen langen Atem brauche. Immer wieder müsse man beweisen, dass man gute Arbeit leistet, bis es die Produzenten endlich glauben. Und genau deshalb sei es wichtig, nie aufzugeben. Von der Regieassistentin bis zum Location-Scout hat Veronika mittlerweile fast in allen Berufen im Filmbereich gearbeitet. „Meine erste eigene Regie hat mir der Südtiroler Filmemacher Andreas Pichler vermittelt“, erinnert sie sich.
„Eines führt zum anderen, das ist ein wahnsinniges Glück.“
Wird ein Dokumentarfilm produziert, liegt die Arbeit normalerweise erst einmal bei einem Produzenten. Dieser sucht für Filmförderungen an und sucht den Fernsehsender, der den Film zeigen wird. Wenn dieser Prozess nach einigen Monaten oder Jahren abgeschlossen ist, kann der Dreh beginnen. Ist der Film fertig, gehören die Rechte dem Produzenten, der das Material an die Kinos weiter vermitteln kann. Alles, was dem Regisseur in so einem Fall bleibt, sind Anteile an den Einnahmen.
„Für einen solchen Prozess hatte ich keine Zeit“, meint Veronika, „meine Geschichte hat sich einfach entwickelt, Heiko ist nach zweieinhalb Monaten gestorben, ich musste drehen“. Also sagte die Filmemacherin kurzerhand all ihre Jobs ab und steckte ihr hart verdientes Geld in die Produktion des eigenen Films. Obwohl sie sich lange Zeit nicht zugetraut hatte, die Kamera selbst in die Hand zu nehmen, zeichnet sie sich heute für Kamera, Ton und Regie von „Überall wo wir sind“ verantwortlich. „Eine Arbeitsweise, die sehr ungewöhnlich ist“, meint Veronika und freut sich, „eines führt zum anderen in diesem Projekt, das ist ein wahnsinniges Glück.“
Im Endstadion seiner Krebserkrankung war jedes Geräusch für Heiko zu viel. Sogar Besuche von engsten Freunden konnte er nicht mehr empfangen. Stundenlang musste Veronika in seinem Zimmer ausharren, bis sie eine Szene drehen konnte: „Alleine zu sein war mein Vorteil“, meint sie. Ihre Freunde sprechen Veronika hingegen die besondere Gabe zu, sich gut in den Hintergrund stellen zu können und Menschen so auch vor der Kamera das Gefühl zu vermitteln, sein zu können, wie sie wirklich sind. „Irgendwann vergessen sie dich als zusätzliche Person“, meint Veronika.
Nach Heikos Tod hat sie seine Familie für weitere sechs Monate begleitet und die Trauer mit ihrer Kamera eingefangen. Was man normalerweise in einer Produktionszeit von drei bis fünf Jahren schafft, hat Veronika alleine in einem Jahr bewältigt. Das neue Modell, das sie für sich geschaffen hat, will sie in Zukunft beibehalten. „Auch wenn bestimmt jede Menge Glück dazugehört. Aber zumindest bleibt dein Film am Ende auch in deinen Händen“, sagt die Rittnerin.
Im Herbst läuft Veronikas erster Dokumentarfilm in 30 deutschen Kinos, mit weiteren verhandelt sie gerade. Im deutschen Sprachraum gehören die Rechte für den Film ihr, für den internationalen Verleih hat Veronika die Unterstützung eines Verleihers. So kann sie sich besser auf ihre nächsten Projekte konzentrieren.
Momentan arbeitet die junge Frau mit Babybauch in Berlin an ihrem ersten Roman. Obwohl sie es als Ruhelose kaum zwei Jahre am gleichen Ort aushält, lebt Veronika nun bereits seit vier Jahren in der deutschen Hauptstadt. „Rekordzeit“, sagt sie selbst. Zurück nach Südtirol auf den Aspmayrhof möchte sie nicht, das steht schon seit Langem fest.
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