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Hoch über Sexten, am Eingang der alten Bergstation – einem kantigen Betonkubus mit gläserner Fassade und weitem Blick ins Tal – treffen wir Reinhold Messner. Der Bergsteiger und Abenteurer, der im vergangenen Jahr achtzig wurde, empfängt uns gemeinsam mit seiner Frau Diane.
Vieles an ihm hat sich im Laufe der Jahrzehnte verändert: Er bewegt sich langsamer, die Mähne ist felsengrau. Und doch ist manches unverändert geblieben: die selbstsichere, zuweilen schroffe Art eines Menschen, der viel zu sagen hat und es auch gerne tut – oder etwa seine große Vorliebe für die tibetische Kultur. An seinem Hals hängt ein traditioneller Dzi-Stein, den er seit Jahrzehnten nie abgenommen hat. Der Legende nach stirbt der Träger, wenn der Stein zerbricht.
Messners Leben ist geprägt von Grenz-erfahrungen und der Erkundung des Unbekannten. Der Himalaya mit dem Berg Nanga Parbat, wo sein Bruder starb, die zeitlose Antarktis oder die Gobi-Wüste, die er mit sechzig noch allein durchquerte – das alles liegt im Vergangenen. Heute widmet sich Messner vermehrt seinem kulturellen Nachlass. Die sechs Messner Mountain Museen sind gebaut und bei Sexten soll nun ein siebtes Projekt entstehen: kein weiteres Museum, das in die Vergangenheit blickt, sondern ein Ort der Begegnung, an dem über die Zukunft gesprochen wird. Heute wirkt Messners „Bergkristall“ – wie er ihn nennt – aber noch unfertig und erinnert an eine Lagerhalle mit Mitbringseln aus aller Welt. Zwischen Werkzeugkoffern, Kabel- und Gebetsrollen, Werbepostern und Holzmasken, lassen wir uns auf einem Ledersofa nieder und beginnen das Gespräch.
zebra.: Herr Messner, als einer der bekanntesten Sportler …
Reinhold Messner: Ein Sportler bin ich nicht! Mit Sport hat der Alpinismus wenig zu tun. Sport ist messbar, er bedingt den Wettkampf. Und das gehört zum traditionellen Bergsteigen nicht dazu. Im Gegenteil: Der Wettkampf war seit den Anfängen des Alpinismus ausgeschlossen – und das liegt jetzt gut zweihundert Jahre zurück. Der Alpinismus ist in erster Linie ein Abenteuer. Er ist die Summe aus Tun und Storytelling. Beides gehört dazu. Und im Bücherschreiben bin ich ein Storyteller. Es gibt wohl keine andere körperliche Tätigkeit, die so viel Literatur hervorgebracht hat: über 10.000 Titel, die zum Teil einen hohen philosophischen Wert haben. Und im tiefsten Grunde ist der Alpinismus eine Auseinandersetzung mit dem Tod.
Also der große Unterschied zum konventionellen Sport ist das Abenteuer und die Berührung mit dem Tod?
Ja, die Berührung damit. Wir gehen im Grunde dorthin, wo man sterben könnte. Und wenn jemand so gehen will, dass er nicht sterben kann, dann soll er gar nicht erst gehen. Denn am Berg haben wir das nie hundertprozentig im Griff. Blitzschlag, Steinschlag, Lawinen – das alles ist inkludiert. Wir gehen dorthin, wo wir sterben könnten, um nicht zu sterben. Das ist die Kunst. Aber es ist eben nur dann eine Kunst, wenn man auch wirklich sterben könnte. Auf über 8.000 Metern Meereshöhe wird man wie ein Zombie und kommt nur ganz langsam voran. Der Sauerstoffmangel bremst nicht nur die körperlichen Fähigkeiten, sondern auch die Psyche. Ein wenig Sauerstoff ist zwar noch da, aber es ist das Minimum dessen, was man zum Überleben braucht. Wo genau die Grenze liegt, das ist auch heute noch umstritten.
Wenn die Hirnfunktionen zurückgehen, warum bleibt dann ausgerechnet dieser Wille übrig, bis zur Spitze weiterzugehen?
Der Wille ist ein Muskel. Man kann ihn trainieren. Und wenn du ein Leben lang in den Dolomiten geklettert bist und später im Mont-Blanc-Gebiet oder in den Anden, dann hast du diesen Willen trainiert, wie deinen Körper selbst.
Sie sprechen oft vom Erkunden des Unbekannten. Doch mittlerweile sind weite Teile der Welt – wie etwa der Himalaya und seine Berge – erschlossen. Wo kann man heute noch Unergründetes finden?
Im Unbewussten. Heute geht es nicht mehr um das Erkunden nach außen, sondern nach innen. Wir alle haben unendlich viele Möglichkeiten, um an unser Inneres heranzukommen und uns zu fragen, wer wir sind. Das Unbewusste ist – naja, unbewusst. Wir kriegen es nie gänzlich zu greifen, aber wir können uns ihm annähern. Und das ist auch der Hauptwert in der Auseinandersetzung mit den Bergen, der Wüste und den anderen großen Naturerscheinungen.
Sie haben im Umgang mit dem Berg einen naturnahen Zugang propagiert und sind damit zum Idol einer ganzen Bergsteigerkultur geworden. Doch wenn alle so in die unberührte Natur vordringen, wie Sie es getan haben, wird sie zerstört. Ist Ihr Lebenswandel nur für die Wenigen bestimmt und ist das nicht ein elitäres Konzept von Alpinismus?
Ja. Aber es ist gibt einen ganz einfachen Schlüssel, der alles regelt. Ich habe notgedrungen, weil ich mittellos war, den
Verzichtsalpinismus geprägt: Verzichten auf Sauerstoff, Verzichten auf Bohrhaken. Wenn ich den Ballast weglassen, kann ich schneller und eleganter bergsteigen. Damit habe ich meinen Wettbewerbsvorteil herausgearbeitet. Im Moment ist das
Gegenteil der Fall. Wir haben aktuell an die zwanzig Berge weltweit, die wirklich überbelastet sind. Aber das sind alles Berge, wo eine Piste hinaufgebaut wurde – oder alle Jahre wieder hinaufgebaut wird. Am Everest kostet die Piste Millionen. Da arbeiten fünfzig Sherpas monatelang, um den Berg so zu präparieren, dass die Leute dann schön raufstapfen können. Die Berge müssen wild bleiben. Das ist die Lösung. Denn wenn ich den Everest mit einer Piste versehe, Sauerstoffdepots mache und Lager mit Ärzten anbiete, dann kommen die Massen.
Verstehe ich Sie richtig: Das Privileg der Bergbesteigung soll nicht mit Geld käuflich sein, sondern mit Mut und der Bereitschaft, sich der Wildnis zu stellen?
Ja, ich kann nur Erfahrungen machen, wenn ich in die Wildnis gehe. Wenn ich auf einer Piste laufe, dann laufe ich wie an
Mutters Rockzöpfen. Der Alpinismus, den ich geprägt habe, würde 99 Prozent der heutigen Alpinisten ausklammern. Denn den Leuten fällt zum Glück das Herz in die Hose, wenn sie die Wildnis vor sich sehen. Die Berge müssen wild bleiben: Das ist die Lösung und sie ist weder sozial noch unsozial, sondern sie spricht die Natur an. Und die Natur muss man respektieren.
Lange Zeit wurde auch der Berg als Feind gesehen. Doch der Berg ist absichtslos, völlig absichtslos. Er kann gar kein Feind sein.
Sie selbst waren nicht nur allein, sondern auch in kleinen Gruppen am Berg unterwegs. Ist der Alpinismus eine Einzeltätigkeit oder doch eine Teambeschäftigung, wo Kameradschaft wichtig ist?
Das Bergsteigen findet allein statt, zu viert oder zu sechst – aber nicht mehr in großen Gruppen wie früher. Das war in den
1930er-Jahren üblich, als eine Art Vorbereitung oder Propaganda für den Krieg. Die Soldaten sollten Kameradschaft üben, bis an die Grenzen gehen und bereit sein, das Leben bis zum Tod einzusetzen. Die Leute wurden darauf eingeschworen. Das ist auch heute noch so, jetzt zwischen Russland und der Ukraine. Und die Europäer – auch die Deutschen – sehen ein, dass sie sich verteidigen können müssen und vielleicht wieder die Wehrpflicht einführen wollen. Das „Nie-Wieder-Krieg“ – ein Schlagwort, das ich damals bei den 68ern erlebt habe – ist heute mächtig aufgeweicht.
Willo Welzenbach, der beste deutsche Bergsteiger, hat den kriegerischen Jargon schon in der Zeit des Nationalsozialismus
hinterfragt. Er wurde von den deutschen Alpenvereinen bekriegt, weil er gesagt hat, dass Kameradschaft zwar wichtig sei, aber dass das Bergsteigen nicht nur daraus bestehe. 1934 ist er am Nanga Parbat in einem Sturm schlimm zugrunde gegangen.
Von ihm ist eine Schachtel übriggeblieben, voller Material. Und daraus habe ich ein Buch namens „Der Eispapst“ gemacht. Es zeigt, wie diejenigen, die „Kameradschaft ist alles“ gesagt haben, ihn niedermachten, wo sie nur konnten. Beim Bergsteigen führen wir einen Wettkampf – aber nicht gegen die Natur, sondern mit ihr. Wenn du nicht umkommen willst, musst du Augen und Nase offenhalten und bist ununterbrochen in höchster Aufmerksamkeit. Aber diese Aufmerksamkeit gilt der Natur und nicht einem Feind. Lange Zeit wurde auch der Berg als Feind gesehen. Doch der Berg ist absichtslos, völlig absichtslos. Er kann gar kein Feind sein.
Auch heute werden sportliche Leistungen oft als kollektive Errungenschaft betrachtet, die Nationen stolz vor sich hertragen können. Sehen Sie das kritisch?
Ich glaube, der erste großen „Krieg“ – unter Anführungszeichen bitte! – den ich in Südtirol geführt habe, war nach der
Besteigung des Everest. Da hat der Landesrat für Fremdenverkehr eine Lobeshymne auf mich gesungen, vor Hunderten oder Tausenden Menschen in Villnöß. Er hat gesagt: „Das hat der Reinhold für Südtirol getan und er hat die Südtiroler Fahne am Gipfel gehisst.“ In meiner Dankesrede habe ich erwidert: „Ich habe gar keine Fahne gehisst, denn ich bin für mich hochgestiegen. Und wenn schon, dann ist das Taschentuch meine Fahne.“ Und da habe ich mein Taschentuch herausgezogen. Wie es dann losging in der Dolomiten: „Heimatverräter“, „Nestbeschmutzer“. Ein ganzes Jahr lang haben sie gehetzt.
Das Alter ist eine Tatsache. Aber das Altern ist ein Prozess, der vermutlich für einen sportlichen Menschen, der viel gegangen oder gestiegen ist, schwerer zu meistern ist als für andere, die ein bürgerliches, sitzendes Leben geführt haben.
Der Filmemacher Werner Herzog, mit dem Sie zusammengearbeitet haben, erzählt in seinem Buch „Die Eroberung des Nutzlosen“ davon, wie er für eine Filmszene ein Schiff über einen Berg im Regenwald zog. Laut seinem Tagebuch tat er dies nicht für einen höheren Zweck, sondern weil er es musste, weil er ein Sklave seiner Träume war. War das bei Ihren Unterfangen ähnlich?
Der Titel dieses Buchs ist nicht von Herzog. Er geht auf Lionel Terray zurück (Anm. d. Red.: französischer Extrembergsteiger). Den Herzog kenne ich aber sehr gut. Wir haben gemeinsam eine Expedition gemacht, bei der er gefilmt hat. Dabei ist 1984 der Film „Der Leuchtende Berg“ entstanden, den man gesehen haben muss. Herzog hat die Auseinandersetzung mit dem Tod beim Bergsteigen wie kein anderer auf Filmmaterialien gebannt. Ich glaube deshalb, dass wir auf einer sehr ähnlichen Wellenlänge liegen.
Was habt ihr gemeinsam?
(überlegt) Der Absurdität des Lebens etwas entgegenzustellen.
Einen Sinn?
Sinn, ja. Das ist das, was dabei herauskommt. Wenn ich etwas tue, was keinen Nutzen bringt – „Eroberung des Nutzlosen“, wie Herzog sagt – und dabei auch noch umkommen könnte, dann wird das Ganze absurd. Und da gibt es nur einen Ausweg: Man muss dem Absurden einen Sinn entgegenstellen. Sinn und Nützlichkeit sind dabei zwei völlig verschiedene Werte. Etwas kann unnütz sein und für mich trotzdem Sinn haben, und zwar mehr als alles andere auf der Welt. Das hängt allein von uns ab. Wir geben dem Leben einen Sinn. Er fällt nicht vom Himmel. Und da widersprechen wir natürlich den Religionen, die einen Sinn postulieren, der vom Himmel fällt.
Ein Museum blickt in die Vergangenheit zurück. Das hier ist ein Ort der Begegnung, wo in die Zukunft hinein diskutiert wird.
Sie haben vieles gemacht, was Ihnen Sinn gab: vom Klettern bis zur Wüstendurchquerung. Es ist aber die Realität des Alterns, dass man mit der Zeit körperlich immer weniger tun kann. Wie gehen Sie als Mensch, der in der Bewegung Sinn gefunden hat, damit um?
Ich bin damit einverstanden. Fertig. Der Prozess ist das Problem, nicht das Alter. Das Alter ist eine Tatsache. Aber das Altern ist ein Prozess, der vermutlich für einen sportlichen Menschen, der viel gegangen oder gestiegen ist, schwerer zu meistern ist als für andere, die ein bürgerliches, sitzendes Leben geführt haben. Ich selbst hatte mehrere Lebensphasen, die immer zehn bis zwölf Jahre dauerten: Ich war Felskletterer mit Haut und Haaren. Als ich meine Zehen verlor und nicht mehr gut klettern konnte, wurde ich Höhenbergsteiger. Später interessierte ich mich für die heiligen Berge und erzählte Geschichten darüber.
Dann wurde ich langsam zum Historiker und habe die großen Museen aufgebaut. Bis zum letzten Jahr brachte ich mich mit Büchern und Auseinandersetzungen ein, werde dies aber immer weniger tun, weil es von meiner Seite nicht mehr viel zu sagen gibt. Ich möchte mich nicht wiederholen. Und jetzt bin ich mit meiner Frau völlig in dieses Projekt vertieft.
Worum wird es hier gehen, wenn die Ausstellung fertig ist?
Dieses Haus heißt Haus, weil es kein Museum ist. Ein Museum blickt in die Vergangenheit zurück. Das hier ist ein Ort der
Begegnung, wo in die Zukunft hinein diskutiert wird. Wir werden viele Stühle aufstellen, sodass man sitzen und sich unterhalten kann, oder einfach nachdenken und schauen. Und es gibt einen Raum der Stille. Die Werte Stille, Erhabenheit und Zeitlosigkeit sind hier zentral. Denn Zeitlosigkeit gehört dazu, wenn etwas Millionen von Jahren gebraucht hat, um zu entstehen. Wer durch die Antarktis läuft, wird nach drei oder vier Wochen erfahren, dass sich Unendlichkeit und Zeitlosigkeit schneiden. Unendlich viel Zeit und null Zeit sind das Gleiche. Und auch das hat mit dem Sterben zu tun.
Interview: Matthias Fleischmann
Dieser Text erschien erstmals in der Straßenzeitung zebra. (01.07.2025 – 01.09.2025 | 108).
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