Werde Unterstützer:in und fördere unabhängigen Journalismus
Am liebsten arbeitet Toni Mair unter der Eggen sonntags. Dann sei es schön ruhig in Bruneck. Keine Autos auf der Straße, kein Stress. „Die Leute haben Zeit und alles ist gemütlich“, meint er. Wenn Toni dann anfängt, seine Lebensgeschichte zu erzählen, hört man aber auf zu glauben, dass ihm Gemütlichkeit wirklich liegt.
Es war 1922, als das erste Mal vom urigen Handziehkarren vor der alten Habsburg im Zentrum von Bruneck etwas verkauft wurde. Und es dauerte nicht lange, bis Ferdinand Mair unter der Eggen das erste Mal zum Aushelfen dort war. Dreißig Jahre später gehörte der Karren ihm, dem „Köschtnbroto Ferdl“, der nebenher auch noch Maurer, Schneider, Metzger und ab und an auch Gastronom war. Jeden Tag zog er das schwere Ding von seinem Heimatort in St. Lorenzen zehn Kilometer per Hand in die Stadt. Drei Stunden dauerte dann allein der Auf- und Abbau. Doch dem Ferdl machte weder Schnee oder Wind noch der Regen etwas aus, zeichneten ihn doch Freude, Leidenschaft und Fleiß aus. Eigenschaften, die man heutzutage auch seinem Sohn Toni nachsagt.
Als letztes von neun Kindern trat Toni bereits mit 15 Jahren in die Fußstapfen des Vaters. Zehn Kilometer musste er den Karren zwar nicht mehr schieben, als er ihn seinem Vater um 10 Millionen Lire abgekauft hat, der langwierige Auf- und Abbau blieben ihm aber trotzdem nicht erspart. „Und am Ende hats mich gleich derwuschen wie meinen Vati und ich musste den Karren jeden Tag von Stegen in die Stadt und wieder zurückziehen“, erzählt Toni und massiert sich mit seinen rußigen Händen die Stirn. Dafür, dass der 47-Jährige so viel über neue Projekte kopft, sieht diese noch ziemlich straff aus. Der Schädel darunter sei auch ein ziemlich sturer, das gibt Toni selbst zu.
In zehn Jahren war er an die 30 Mal beim Alt-Landeshauptmann in der Sprechstunde, um schließlich vor 20 Jahren den ersten fixen Kiosk aufbauen zu dürfen. „Ein Projekt, das nur durch die Zusage vom Luis zustande gekommen ist“, sagt Toni. Idee und Konzipierung des Standes stammten schon damals von Toni selbst. Und auch den modernen Kiosk, der heute am Brunecker Graben steht, hat er geplant. „20 Jahre lang habe ich immer wieder überlegt, gezeichnet, aufgeschrieben, verbessert und wieder gezeichnet“, sagt Toni und streicht stolz über die dunkle Oberfläche der Ladenfläche. 2016 hat er sich den Traum vom neuen Kiosk gemeinsam mit einheimischen Handwerkern erfüllt. Alles hier ist genauestens ausgetüftelt, jedes noch so kleine Detail durchdacht. Toni arbeitet viel mit Holz, dunklen Farben und gerostetem COR-TEN Stahl. Wer seine vielen Ideen schließlich immer wieder in die Tat umsetzt, ist Ingrid Schwärzer. Von Geländern, Türrahmen und Gipfelkreuzen hatte die gelernte Schlosserin erstmal genug, als sie sich eine Auszeit vom Familienbetrieb gegönnt und bei Toni im Kiosk angefangen hat. „Aber wenn ich von Toni frei kriege, muss ich trotzdem wieder ran ans Eisen“, meint Ingrid, lacht und stellt sich einen Tee auf.
Es ist kalt in den Straßen von Bruneck. Trotzdem verbringen die beiden an die 14 Stunden pro Tag hier. Von Anfang Juni bis zum 6. Januar sieben Tage die Woche. „Außerhalb der Saison arbeite ich dann als Koch“, erzählt Toni. Weil er sich in der Schweiz als Kochartist ausbilden hat lassen und aus allerhand Obst und Gemüse die verrücktesten Kreationen schnitzt, ist er gleich in die Gourmet-Schiene abgerutscht. Während er hinter der Theke lehnt und erzählt, brodeln im Hintergrund selbstgemachter Glühwein, Punsch und Apfelglühmix. Auf einem silbernen Flachbildschirm läuft eine Diashow mit verschiedenen Fotos aus Tonis Leben. Auch ein kleiner, aus einem Kürbis geschnitzter Fisch ist dabei.
Als junger Bursch hat Toni die Kunstschule in Gröden absolviert. Künstler sei er trotzdem keiner. Aber Geschäftsmann eigentlich auch nicht. „Ich fackle nicht lange. Wenn es etwas zu tun gibt, packe ich an und mache es einfach. An die große Glocke hänge ich aber nichts“, meint er. Dann erscheint das nächste Foto am Bildschirm. Toni, als Teufel verkleidet, beim Feuerspeien. Und dann wieder eines: Toni mit Pilotenhelm in einem Flugzeug. Das erste Mal ohne rußiges Gesicht. Seine zwei Flugscheine hat er im Alter von 25 Jahren gemacht. „Heute sieht man mich nur noch ab und an, außerhalb der Saison, in den Lüften.“ Dann erneut ein Bildwechsel. Toni mit einer kleinen Tafel, auf der ein Slogan geschrieben steht: „Mehr Bürgernähe, Transparenz und Ehrlichkeit für Bruneck“. Seit 2014 sitzt der Keschtn und Tuifl Toni nämlich auch im Brunecker Gemeinderat. Er wollte die immense Gemeindebürokratie abbauen und den Anliegen seiner Mitbürger schnell und unkompliziert entgegenkommen. „Mein Problem ist, dass ich immer helfen will“, meint Toni und grinst.
40 Jahre lang hat Tonis Vater Kastanien gebraten und seinem Sohn alle Geheimnisse offenbart. Ausgelernt habe er jedoch bis heute noch nie. Bevor die Kastanien im großen, schwarzen Kessel auf heißen Kohlen gebraten werden und Toni sie mit kohlschwarzen Händen in kleine Papiertüten verpackt, müssen sie ruhen. Fünf Tage werden die Früchte nach der Ernte in Wasser eingelegt. „Sobald die Fermentation einsetzt, trocknen wir sie und suchen sie dann aus“, erklärt Toni. Verpasst man den richtigen Zeitpunkt, schimmeln die Edelkastanien entweder sofort oder auch später noch. Hunderte von Kilogramm musste Toni schon wegwerfen, weil er immer wieder Versuche gestartet hat, um den genauen Abseih-Zeitpunkt herauszufinden. „Jedes Jahr ist verschieden, das weiß ich jetzt“, meint der Pusterer und rührt die Kastanien einmal schnell um. Lerngeld nennt Toni so etwas. Bevor man es nicht ausprobiert hat, kann man es schließlich auch nicht wissen. „Ich beschäftige mich aber nur mit dem, was mich freut, und mit meinen Ideen“, erklärt der Keschtn-Toni seinen Schlüssel zum Erfolg.
Umso mehr Zeit man mit Toni verbringt, desto mehr Talente und Leidenschaften entdeckt man. Schließlich nimmt er einen Schlüsselbund aus der Schublade hinter ihm und führt einmal um den Kiosk herum. Hinter einer großen Tür verbirgt sich dort ein Aufzug, der mit einem Knopfdruck ins Untergeschoss führt. Dort befinden sich nicht nur das schicke Lager, Kühlzellen und Produktionsräume für den Kiosk, sondern auch ein verspiegelter Ausstellungsraum. Ein Dutzend fein polierte Original Berkel Aufschnitt-Maschinen stehen darin. Gemeinsam mit einem Freund kauft Toni diese in schlechten Zustand auf, restauriert sie, stellt eine Zertifizierung aus und verkauft sie weiter. Die teuersten in seiner Sammlung sind an die 90.000 Euro Wert.
Ein Knopfdruck reicht und Toni steht wieder in seinem Kiosk. „Alles hier hat seine Logik“, meint der Tüftler. Dann fängt er an zu gestikulieren und erzählt von gekühltem Biomüll, Gasflammen zum Heizen und verschiebbaren Regalen. Räumt er seinen Kiosk zusammen, steht er auf 20 Quadratmetern, umhüllt von einer Glaswand. Ist er offen, sind es 35 Quadratmeter Fläche. „Das Prinzip ist das einer Zieharmonika“, erklärt Toni weiter, „ein komplett neues Kiosk-Konzept“. Vom Obststand über Küche bis hin zur Bar kann der Pusterer seinen Stand mit wenigen Handgriffen zu all dem umbauen, was er daraus machen will.
Einmal im Jahr ist Toni als Betreiber des ältesten Standes auch auf dem Stegener Markt vertreten. Dafür hat er sich ebenso einen neuen Kiosk konzipiert. „Man muss immer mit der Zeit mitgehen, sich entwickeln“, meint er. 32 Meter lang, 100 Sitzplätze und 15 Quadratmeter Verkaufsfläche für Obst und Kastanien hat Toni nun zu bieten. Im Kiosk am Graben gibt es neben Obst und Kastanien im Sommer auch frische Pilze aus Südtiroler Wäldern. Um die komplizierten Kriterien für den Verkauf von heimischen Pilzen zu umgehen, hat Toni kurzerhand selbst die Ausbildung zum Prüfer abgelegt. „Ich lasse mir von den Typen nichts gefallen“, meint er und geht kopfschüttelnd wieder hinter seine Theke. Auch Speck von seinen eigenen Schweinen wird hier verkauft, im Winter Heißgetränke und im Sommer „Tirschtlan“ – frisch von einigen Bäuerinnen direkt am Stand zubereitet. Toni lässt sich immer wieder etwas Neues einfallen, um die Südtiroler Produkte an seine Kunden zu bringen. Dabei würden ihm immer wieder Steine in den Weg gelegt. Der Neid sei ein großes Problem in Südtirol. „Aber es gibt auch diejenigen, die mich schätzen“, meint Toni. Immer wieder kommen während des Gesprächs Menschen vorbei, die irgendetwas von Toni brauchen. Immer wieder hört man ein schnelles „Hoi Toni!“ sogar von der anderen Straßenseite. Toni grüßt zurück und kümmert sich in aller Ruhe um jedes einzelne Anliegen. So viel Zeit muss schließlich sein.
Support BARFUSS!
Werde Unterstützer:in und fördere unabhängigen Journalismus:
https://www.barfuss.it/support