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Veröffentlicht
am 13.03.2015
LeuteEingesperrt

Der Geruch von Freiheit

Veröffentlicht
am 13.03.2015
Wie schafft es Agnes S. raus aus diesem grauenhaften Gefängnis? Die Situation in den Zellen und unter den Mithäftlingen spitzt sich indessen zu.
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Die Berge Südtirols, für Agnes S. der Inbegriff für Freiheit. Das Bild malte sie während ihr Haftzeit.

Juli 2010. Von zu Hause erreicht mich ein Schreiben, das besagt, dass der Verantwortliche des Gemeindewahlamtes verfügt hat, mich wegen Verlust des Wahlrechtes aus den Wählerlisten zu streichen. Für fünf Jahre soll dieses Verbot andauern.
Was soll das nach so langer Zeit?, frage ich mich. Reicht es nicht, was ich Tag für Tag an Strafe ertragen muss? Ich habe keine neue Straftat begangen. Bis jetzt durften wir Inhaftierten bei allen anfallenden Wahlen zu den Urnen, die auch innerhalb der Gefängnismauern aufgestellt werden. Ich erinnere mich an meinen Vater, der uns früher als Bürgermeister unserer Gemeinde immer nahelegte, vom Wahlrecht Gebrauch zu machen, was ich gewissenhaft befolgte. Auch erinnere ich mich an seine unendliche Geduld bei jeder Situation. Ich sah ihn kaum einmal verärgert. Er war sehr geschickt, und wenn etwas kaputt war, bastelte er so lange herum, bis es wieder funktionierte. Er konnte gut mit Menschen umgehen, hatte ein erstaunliches Feingefühl. Er starb als ich 26 war. Ich stelle mir vor, was er in meiner Situation machen würde. Würde er geduldig alles hinnehmen oder würde er sich wehren und rebellieren? Die Strafe, die sie mir aufgehalst haben, ist eindeutig unangemessen, geht es mir durch den Kopf. Ich habe schon längst abgebüßt, was ich verbrochen habe. Das steht alles in keinem Verhältnis mehr. „Warum wehrst du dich nicht, du müsstest doch längst zu Hause sein“, sagen meine Kolleginnen immer wieder zu mir. „Irgendwann werde ich schon nach Hause kommen“ antworte ich dann gelassen. „Du bist ja gerne hier“ spötteln sie dann, weil ich trotzdem meistens gut aufgelegt bin und versuche alle aufzuheitern. „Ich habe zwei schlimmere Gefängnisse hinter mir, die Drogen und die Therapiegemeinschaft!“, gebe ich ihnen noch zur Antwort. Ich weiß, dass mein Anwalt, den ich vor zwei Jahren wieder gewechselt habe, auch keinen Finger für mich rührt. Wie soll ich mich dann wehren? Er hat weder um Strafverkürzung, noch um sonst irgendetwas angesucht. Es gäbe viele Alternativen.

„Ich kann nicht Abschied nehmen“
Es ist mir bewusst, dass meine Verhaftung meine Gelegenheit war, vom Drogenkonsum loszukommen. Ich bin dafür dankbar. Auch eine Bandscheibenoperation ist mir erspart geblieben. Es gefällt mir, wie mein Körper sich selbst heilt. Ich kann fast alle Bewegungen wieder problemlos machen. Dazu habe ich noch ordentlich Italienisch gelernt. Ich frage mich, was wäre, wenn ich nicht hier wäre? Ich möchte auf keinen Fall in die Drogenszene zurückfallen. Aber ich will auch nicht noch eine Ewigkeit hier bleiben. Von zu Hause erreichen mich immer wieder Todesanzeigen von jungen Leuten, die ich gut kannte, auf den Bergen Verunglückte, ein Selbstmord in unserem See, ein Drogenabhängiger, der sich von einer Brücke in den Tod stürzt, ein anderer kommt in Thailand ums Leben usw. Irgendwie kommt mir vor, als herrschte da „draußen“ der Krieg. Ich kann es kaum glauben. Warum sterben so viele meiner Bekannten in so kurzer Zeit, auch Verwandte in der Schweiz? Ich möchte sie doch alle lebendig wiedersehen. Es tut mir so leid, dass ich von ihnen nicht mal Abschied nehmen und kein Wort mit ihren Angehörigen austauschen kann, kein extra Telefonat machen, einfach nichts. Dieses tägliche Gefühl eingesperrt zu sein, ist dann wieder so grauenhaft und unmenschlich.

„Es ist mir bewusst, dass meine Verhaftung meine Gelegenheit war, vom Drogenkonsum loszukommen.“

Ich bin froh, wenn der Sommer vorbei ist, das ist die schwierigste Zeit hier. Die Hitze und die langen Tage erwecken ein unglaubliches Verlangen nach draußen. Alle Kurse sind stillgelegt. Es gibt wenig Aufsichtspersonal, sodass auch unser Turnraum geschlossen bleibt. Alle sind im Urlaub. Aggressionen stauen sich in den Zellen an. Das einzige, was nie ausfällt, ist die Sonntagsmesse und mein Harmoniumspiel, worauf ich mich jedes Mal freue. Ich nütze die täglichen drei Stunden im Hof an der frischen Luft und lasse mich ablenken durch das alles übertönende Dröhnen der Flugzeuge, die immer wieder wie Riesen vom nahe gelegenen Flughafen über uns hinwegfliegen. Irgendwann wird auch mein Flugzeug kommen. Ich träume von meinen früheren, täglichen Abendspaziergängen unter dem Sternenhimmel, während ich mich wieder in die Malerei vertiefe. Ab August werde ich endlich vom Stress befreit, zu dritt in einer Zelle auf elf Quadratmetern zu leben. Neun Monate lang hat das gedauert. Es ist schrecklich auf so engem Raum. Eine Zeit lang schlief ich im Stockbett, wo ich oft Platzangst bekam.

Die neue Zellengenossin
Jetzt sind wir wieder zu zweit, eine Zigeunerin und ich. Ich hoffe, mit ihr gut auszukommen. Es ist jedes Mal eine Herausforderung, wenn die Zellnachbarinnen wechseln. Jede hat andere Sitten und Lebensweisen, andere Interessen und Gewohnheiten. Die eine ist übertrieben sauber, so dass man nichts anrühren dürfte, die andere ist ein Schmutzfink. Eine will die Zelle finster und das Fenster geschlossen und den ganzen Tag den Fernseher laufen lassen. Eine andere redet die ganze Zeit, oder sie redet gar nichts. Nicht jede ist kompromissbereit. Nichtraucherinnen dürfen mit ihresgleichen die Zelle teilen, wenn sie wollen. Die meisten hier sind Raucherinnen, so auch die Zigeunerin. Ich drehe ihr die Zigaretten mit Old Holdborn, dem einzigen Tabak, den es hier gibt. Fertige Zigaretten können wir uns selten leisten. Sie ist knapp 40, schaut aus wie 60, ist von kleiner Statur mit langen lockigen Haaren und hat nur noch wenige Zähne im Mund. Zu Hause hat sie ihren Mann und elf Kinder, davon die meisten schon groß. Sie ist auch schon Großmutter. Weil sie etwas gestohlen hat, muss sie zwei bis drei Jahre absitzen. Manchmal hat sie richtige Wutausbrüche. Einmal schmeißt sie den frisch zubereiteten Kaffee samt der Mokkamaschine durch die Zelle, dann wirft sie den Behälter mit unserem Besteck darin einer Aufseherin entgegen. Ein anderes Mal wirft sie ihre Teller in den Flur hinaus. Wenn die Aufseherinnen mit Rufen und Schreien nicht kommen, so kommen sie bestimmt, wenn ein Teller auf den Betonboden scheppert. Das hat eine Wirkung, als würde man Alarm auslösen. Ab und zu bekommt sie von der Inspektorin eine Sondererlaubnis im Flur auf und ab zu spazieren, weil sie in der Zelle einfach verrückt wird. Einmal liegt sie am Boden, scheinbar bewusstlos. Alle eilen herbei, so auch die Oberaufseherin. Als sie kurz die Augen aufmacht und diese erblickt, steht sie wieder auf, so als wäre nichts gewesen. Ich bewundere sie dann, wie sie mit ihrer Art zu Handeln immer wieder die Aufmerksamkeit der anderen erregt und erreicht, was sie will. Und dann lacht sie. Sie glaubt, dass sie früher frei kommt, wenn sie rebelliert.

„Abends, wenn es im Flur still ist, keine Aufseherin mehr zu sehen ist und alle Zellen für die Nachtruhe gesperrt sind, dann schubsen wir die selbstgemachten Leckereien schön eingepackt von Zelle zu Zelle über den glatt polierten Betonboden des Flurs.“


Dann kann sie wieder unglaublich herzlich und anhänglich sein. Sie kann weder lesen noch schreiben, so bettelt sie mich schmeichelnd, damit ich ihr die Briefe vorlese und schreibe. Ich mache das gerne. Sie trinkt jede Menge Kaffee. Sie mag sehr gerne Kuchen und Apfelstrudel, den ich auf dem Campingkocher zubereite. Und sie backt darauf Brot für uns. Dann verschenken wir immer ein paar Stücke an die anderen Zellen. Abends, wenn es im Flur still ist, keine Aufseherin mehr zu sehen ist und alle Zellen für die Nachtruhe gesperrt sind, dann schubsen wir die selbstgemachten Leckereien schön eingepackt von Zelle zu Zelle über den glatt polierten Betonboden des Flurs. Wenn wir das Ziel nicht gut treffen, wird mit einem Besenstil nachgeholfen.

Ein Shampoobriefchen extra
Endlich ist September und es gibt eine geregelte Arbeit für mich. Darauf habe ich seit drei Jahren gewartet. Für einen Monat für drei Stunden am Tag bin ich im Magazin angestellt. Das freut mich. Ich arbeite gerne, egal was. Das Magazin befindet sich gegenüber unserer Küche im Parterre, neben unserer kleinen Kapelle. Auch der Kinosaal und der Turnraum befinden sich daneben. Ich bin gespannt, welche Tätigkeiten mich erwarten. Im Parterre ist viel Bewegung. Ich begegne allen, die durch die Eingangstür ein- und ausgehen, den Neuankömmlingen und denen, die entlassen werden, dem ganzen Aufsichtspersonal, den freiwilligen Helfern, Erziehern, Psychologen, Therapeuten, Krankenpflegern, den Geistlichen usw. Ich muss für die neu Inhaftierten die Plastiktüten mit dem Geschirr, der Zahnpasta und –bürste, Seife, den Shampoobriefchen, dem Klopapier und den Leintüchern vorbereiten. Es ist ein sehr seltsames Gefühl, das Geschirr in die Hände zu nehmen, welches die Frauen für ihren ersten Gebrauch in ihrer Zelle bekommen. Ich sehe noch vor mir, wie ich vor drei Jahren diese Teller betrachtete, sie mit kaltem Wasser spülte und das Fett mit Seife löste, weil sie mir kein Abspülmittel gegeben hatten. Ich spüre noch heute, wie kalt es war und wie nackt und ausgeraubt ich mich fühlte. Das weiche Aluminiumbesteck mit den Plastikgriffen bog ich mit meinen Händen. Ich würde diese Arbeit am liebsten verweigern, diese Frauen tun mir so leid. Ich lege dann ein paar Shampoobriefchen mehr dazu und eine Rolle Klopapier. Ich muss sie mit dem Nötigsten versorgen, so auch mit Reinigungsmaterial und Geschirrspülmittel. Da ich mich an der Quelle des Klopapiers befinde und die Bestellungen aufgeben muss, bestelle ich alles, was nur einmal möglich ist. Von Zelle zu Zelle muss ich die Mittel verteilen. Das erste Mal durchquere ich die Abteilung „B“, in der sich die Neuankömmlinge und jene, die in Untersuchungshaft sind, befinden. Die Wolldecken für den Winter muss ich austeilen und alle zwei Wochen saubere Leintücher in die Zellen bringen.

„Raus aus diesem Haus, nur ein paar Schritte, etwa zwanzig Meter, ein herrliches Gefühl, ein anderes Licht, ich kann den freien Himmel und ein paar Hecken kurz betrachten, endlich grüne Farben.“


Das schönste an dieser Arbeit ist, dass ich jeden Morgen die Abfallsäcke entsorgen muss. Es gibt keine Mülltrennung. Ich muss die schwarzen großen Müllsäcke auf dem Rollwagen ins Freie transportieren. Eine Wärterin öffnet mir die Ausgangstür des Frauengefängnisses. Raus aus diesem Haus, nur ein paar Schritte, etwa zwanzig Meter, ein herrliches Gefühl, ein anderes Licht, ich kann den freien Himmel und ein paar Hecken kurz betrachten, endlich grüne Farben … und die Straße, die rausführt. Sie führt durch zwei weitere Ringmauern zum Ausgangstor dieser riesigen Anstalt. Es riecht nach Freiheit! Ich ziehe den Rollwagen langsam, ich lasse mir Zeit. Sack für Sack werfe ich langsam in die Müllcontainer, um ein paar Minuten dieses Gefühl zu spüren. Ich spiele mit dem Gedanken, mich selbst in einem Sack zu verstecken, um aus dieser Anstalt rauszukommen. Die Wärterin wartet auf mich, bis ich den leeren Rollwagen wieder durch die Eingangstür ziehe, damit sie zusperren kann.
November naht und so meine Hoffnung auf ein paar Tage frei. Mein Erzieher und das Gefängnisteam haben mich als tauglich erklärt, die Ausgänge in Anspruch zu nehmen. Es fehlt nur noch das „Ja“-Wort des Richters, dann kann ich pro Jahr für insgesamt 45 Tage nach Hause fahren. Das ist so wie ein Preis, den man gewinnt, wenn man sich gut aufführt. Weihnachten naht und ich hoffe und hoffe. Aber nichts passiert. Warten und warten. Auch mit dem Unistudium geht nichts weiter. Kein Wunder! Das Gefängnis ist für vierhundert Inhaftierte errichtet worden und wir sind insgesamt 1200 Häftlinge. Das vierte Mal Weihnachten hinter Gittern. Ich hoffe auf Neujahr. Jedoch kommt keine Antwort vom Richter.

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