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Frisch aus Bormio sind sie grad zurück, Kathrin Oberhauser und ihre Mutter Marlene. Und zwar mit einigem an Gold im Gepäck. Dreimal ist Kathrin mit der Nummer 555 auf ihren Skiern bei den Special Olympics angetreten und dreimal stand sie ganz oben auf dem Siegertreppchen. Für Kathrin ist das nichts Neues: dort steht sie seit Jahren regelmäßig, mal im Bade-, dann im Skianzug. Jetzt ist sie wieder zu Hause und hält Hundedame Mela am Halsband zurück, während sie schüchtern, aber freundlich, die Tür öffnet.
In den letzten Wochen ist Kathrin einige Rennen gefahren, vor Bormio trat sie Mitte Januar bei der FISDIR (Federazione Italiana Disabilità Intellettiva Relazionale) Italienmeisterschaft an. Im Gegensatz zu den Special Olympics messen sich dort nur die Besten. Und Kathrin ist die Beste der Besten: Die sechs Medaillen, die sie auf den Tisch hievt, schimmern golden in der Nachmittagssonne. Die beiden Silbernen lässt sie erstmal auf ihrem Schoß liegen. „Die brauchst du nicht zu verstecken“, sagt ihre Mutter Marlene, „der zweite Platz ist keiner, für den man sich schämt!“ Kathrin schiebt die beiden Silbermedaillen verschmitzt zu den Goldenen. Am Ende von unserem Gespräch wird sie den Medaillenstrauß wieder sorgfältig entwirren und mit der dazugehörigen Startnummer – damit sie weiß, welche Medaille zu welchem Wettkampf gehört – in die kleinen, unauffälligen Plastiktüten packen. Mit ihren Trophäen ist Kathrin bescheiden, die werden nicht an die Wand genagelt. Dafür wäre auch gar kein Platz mehr: Das Medaillenmeer, das sich allein in den letzten vier Wochen bei den Oberhausers angesammelt hat, ist beachtlich. Seit ihrem ersten Wettkampf 2008 hat Kathrin insgesamt schwindelerregende 45 Mal Gold und vier Mal Silber in den beiden Disziplinen Schwimmen und Skifahren geholt.
Im Wasser ist Kathrin den anderen um Längen voraus. Und das in einem Leben, in dem sie gewohnt ist, mit den anderen nicht mithalten zu können. Im Alltag ist Kathrin auf die Hilfe anderer angewiesen, auf der Piste und im Schwimmbecken kann ihr keiner das Wasser reichen.
„Das Wasser hat Kathrin immer schon fasziniert“, erzählt Marlene. Als Kind stand sie einmal mitten im Winter mit Mäntelchen und Winterschuhen im Brixner Lido. Kathrin sprang ins Wasser, bevor sie schwimmen konnte und als sie es dann konnte, war sie erst fünf Jahre alt. Kathrins wasserblaue Augen funkeln vergnügt, als ihre Mutter die Geschichte erzählt. Mehr als Familienausflüge und sporadische Freizeitbeschäftigung war der Sport in Kathrins früher Kindheit allerdings nicht. Dann ging der Sportlehrer der Mittelschule mit der Klasse schwimmen und Kathrin bewegte sich im Wasser mit der Selbstverständlichkeit, die ihr im Alltag manchmal so schwerfällt. Er riet den Eltern, Kathrin zum Schwimmtraining anzumelden. Und Kathrin begann zu schwimmen. „Ein Geschenk!“, sagt Marlene. Denn im Wasser ist Kathrin den anderen um Längen voraus. Und das in einem Leben, in dem sie gewohnt ist, mit den anderen nicht mithalten zu können. Im Alltag ist Kathrin auf die Hilfe anderer angewiesen, auf der Piste und im Schwimmbecken kann ihr keiner das Wasser reichen. Hier gibt sie den Takt vor, hier ist sie in ihrem Element, hier spielt sie ganz vorne mit. Hier kommt sie nicht nur gut zurecht, sondern ist sogar besser als alle anderen.
Der Sport hat Kathrin verändert: Erfolg bedeutet für die junge Frau weit mehr als die Medaillen, die vor ihr auf dem Tisch liegen. Es ist nicht das Gold, das glänzt, es ist eine neue Teilhabe am gesellschaftlichen Leben, die neue Rolle, die Wertschätzung bringt und den Ehrgeiz anspornt. Es sind die Trainer*innen und das Team, die Reisen und die Erfahrungen, das Trainieren und die Bewegung, die Stück für Stück Kathrins Selbstbewusstsein stärken und Vertrauen ins eigene Können geben. 2007 schrieb die Lebenshilfe die Landesmeisterschaften im Schwimmen aus und Kathrin nahm erstmals teil. „Wir dachten damals, wir probieren es mal, es ist ja nichts verloren und immer eine Erfahrung wert“, erinnert sich Marlene. Verloren hat Kathrin nicht, sondern auf Anhieb gewonnen. Und zwar Gold. Dann ging es Schlag auf Schlag: Ein Jahr später trat sie bei der FISDIR an und holte wieder Gold, einmal im Brustschwimmen und einmal im Kraulen. Seit fast neun Jahren ist Kathrin nun im Team der Nationalmannschaft und schwimmt auf der Höhe des Erfolgs. Nebenbei hat sie in ihrem Heimbecken in der Brixner Acquarena im Rahmen der FISDIR Italienmeisterschaft vor einem Jahr den Italienrekord im Rückenschwimmen aufgestellt. Für die 50 Meter hat sie 42 Sekunden und 49 Hundertstel gebraucht – das hat vor ihr noch kein Sportler mit einer mentalen Beeinträchtigung geschafft.
Sämtliche Sportler*innen mit mentaler Beeinträchtigung wurden für einen Zeitraum von zwölf Jahren von den Paralympics ausgeschlossen.
Das Skifahren hingegen hat Kathrin erst vor drei Jahren angefangen, mit einer Gruppe aus Sterzing um Trainer Matthias Haller. Auch hier war ihre Karriere ähnlich steil wie die Berghänge, die sie jetzt hinunterrauscht. Aus Freizeitspaß wurde Wettkampfernst und Kathrin fand sich ruckzuck in der Nationalmannschaft wieder. Mit ihrer Goldplatzierung bei der FISDIR Italienmeisterschaft hat sie ein Ticket für die Weltmeisterschaft in der Tasche. Ende März wird sie nach Frankreich fahren. Was ihr da bevorsteht, kann keiner wirklich abschätzen: Denn während bei körperlichen Beeinträchtigungen akribisch nach Art der Behinderung unterschieden wird, gibt es für mentale Beeinträchtigungen im Sport kein Klassifizierungssystem. Das führte in der Vergangenheit dazu, dass auch Menschen, die eigentlich keine Beeinträchtigungen haben, an den Start gingen: Wenige Tage nach den Paralympics 2000 in Sydney musste etwa die Goldmedaille im Basketball zurückgegeben werden. Spanien war mit einem Kader angetreten, in dem nur zwei von zwölf Spielern tatsächlich mental beeinträchtigt waren. Ein kenianischer Läufer war bereits während der Spiele disqualifiziert worden, weil sein Sieg über 5.000 m in unter 15 Minuten allzu deutlich werden ließ, dass er nicht blind sein konnte. Bezahlt haben für das falsche Spiel die, die nichts dafür können: Sämtliche Sportler*innen mit mentaler Beeinträchtigung wurden für einen Zeitraum von zwölf Jahren von den Paralympics ausgeschlossen.
Wenn jeder einzelne Teilnehmer einzigartig ist, fällt das Klassifizieren eben schwer.
Klassifizierungen im Wettkampfsport, vor allem im Behindertensport, sind notwendig, damit die Leistungen der so unterschiedlichen Sportler*innen untereinander vergleichbar sind und allein Fitness, Kraft, Ausdauer und taktisches Geschick über Sieg oder Niederlage entscheiden – und eben nicht, ob man jetzt ein Bein weniger hat oder in lebenspraktischen Bereichen nicht ganz so unabhängig ist. Dass dies nicht so einfach ist und zu andauernden Diskussionen führt, sieht man bei den paralympischen Spielen: 2004 gab es 519 Wettbewerbe in 20 Sportarten, 2008 nur noch 472 und 2012 wieder 503. Wenn jeder einzelne Teilnehmer einzigartig ist, fällt das Klassifizieren eben schwer.
In einigen Wochen findet die Weltmeisterschaft statt. Team Kathrin bleibt gelassen: Was auch immer passieren wird – Dabeisein ist schon ein Gewinn. Dabeisein wird auf jeden Fall auch wieder Kathrins Löwe. Der faustgroße Glücksbringer, eine Reminiszenz an die Igelbälle der 90er, scheint seinen Job gut zu verstehen und begleitete Kathrin seit der Mittelschule. Bis er eines Tages aus der Schwimmtasche fiel und weg war. „Eine wahre Tragödie!“, erinnert sich Marlene. Alle haben Kathrins Glückslöwen gesucht, der aber blieb unauffindbar. Die Mittelschullehrerin war es dann, die einen neuen alten Löwen fand und Kathrin ein Päckchen schickte. Kathrin knetet den Löwen, die gelben Silikonschnüre sind geduldig und eine haptische Beruhigung in Kathrins ausgefülltem Leben. Denn Sportler mit einer Beeinträchtigung haben ungleich schwierigere Rahmenbedingungen als ihre nicht-beeinträchtigten Kolleg*innen: Sie werden nicht bei den Sportgruppen der Finanzpolizei oder der Carabinieri angestellt und sind auf private Sponsoren angewiesen – und hier hat der Behindertensport noch nicht denselben Stellenwert wie der „normale“ Sport. Kathrin hat keine Sponsoren. Geld und Zeit für Begleitung, Fahrten und Ausrüstung bringt die Familie auf. Zudem wird der Behindertensport immer professioneller: Ohne Trainingsprogramm, Mentaltrainer, Ernährungscoach wird die Luft weiter oben immer dünner. Noch hangelt sich Kathrin ohne diese Notwendigkeiten durch – und arbeitet zudem halbtags in der Küche eines Kindergartens. Nachmittags ruht sie sich ein bisschen aus, bevor es dann zum Training geht. Fünf Mal in der Woche trainiert sie das Schwimmen, einmal das Skifahren, insgesamt sechs Mal Training pro Woche. Da ist Kathrin diszipliniert, das lässt sie sich nicht nehmen. Denn Training ist nicht nur Anstrengung, Training ist für Kathrin in erster Linie ihre Freizeit, ihre Freundschaften, ihre Förderung. Es ist ihre Möglichkeit zum sozialen Austausch, um Neues zu lernen. Etwas, das für Kathrin sowie für viele andere Menschen mit mentaler Beeinträchtigung nach dem Ende der Schulzeit nicht mehr selbstverständlich ist.
Ein bisschen sei sie schon aufgeregt vor den Wettkämpfen, meint Kathrin. Dann isst sie ein Stück Schokolade. Gelassenheit und Ruhe sind unter Wettkampfbedingungen wohl für die Wenigsten selbstverständlich und für Kathrin manchmal eine besondere Herausforderung: Veränderte Bedingungen und neue Situationen können sie rasch aus dem Gleichgewicht bringen. Wird etwa kurz vor Start ihre Schwimmbahn geändert, kann sie das sehr irritieren. Skifahren hingegen ist kein ungefährlicher Sport: „Da ist man froh, wenn sie gut unten angekommen ist“, sagt Marlene. Und Marlene zittert immer mit, denn alleine kann Kathrin nicht zu den Wettkämpfen fahren. Kann Marlene mal nicht dabei sein – weil sie etwa keinen Urlaub nehmen kann – fährt eine Trainerin für Kathrins Rundumbetreuung mit. In Island, in Schweden, in Frankreich lassen sie ihr Goldmädchen nicht alleine. Die Betreuung der sportlichen Tochter mit den großen Talenten und den besonderen Bedürfnissen ist zeit- und kostenintensiv.
Siegertreppchen und Medaillenregen, viel mehr aber die Wertschätzung und die Aufmerksamkeit entlohnen Kathrin und ihre Familie für die sportlichen Anstrengungen. So wie bei der Sportlergala 2016, als Kathrin als einzige Sportlerin mit Beeinträchtigung ins Finale gewählt wurde. Die Bilder, die vor uns auf dem Tisch liegen, zeigen eine strahlende Kathrin in Abendrobe mit ihrer Schwester und ihrer Trainerin. „Sportler des Jahres“ steht auf der Trophäe, die sie in der Hand hält. „Das war schon ein Erlebnis, Kathrin im Finale zu sehen und die Videoausschnitte ihres Lebens auf der großen Leinwand“, sagt Marlene leise über ihre Tochter. Eine Tochter, die auf der Bühne steht und strahlt, die Gold gewinnt und der man doch auch helfen muss, die Tasche zu packen und den Weg zur Halle zu finden. Eine Tochter, die man nicht mit Fremden allein lassen kann und die sich in der italienischen Nationalmannschaft nicht auf Italienisch unterhalten kann. Eine Tochter, die trotz vieler Entbehrungen eiserne Disziplin und Ehrgeiz zeigt, eine Gewinnerin ist, weil sie – obwohl sie besonders ist – vor allem auch ganz besonders begabt ist.
Von Barbara Plagg
Der Text erschien erstmals in der 25. Ausgabe von „zebra.”, März 2017.
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