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Irina Angerer
Veröffentlicht
am 23.06.2020
LebenDiagnose POTS

Wie ich chronisch krank wurde

Veröffentlicht
am 23.06.2020
Unsere Autorin hatte einen ganz normalen Atemwegsinfekt. „Halb so schlimm“, dachte sie damals. Nun sitzt sie bereits seit einem Jahr im Rollstuhl.
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Nach dem Virus kam bei Irina Angerer die Erschöpfung: Postvirale chronische Erkrankungen treffen viele Menschen.

Ich hatte hunderte von ersten Sätzen im Kopf, aber keiner wird dem gerecht, was ich fühle. Ich will euch meine Geschichte erzählen. Die einer 24-jährigen ehemaligen Studentin, die vor knapp einem Jahr sehr krank geworden ist und ihr altes Leben hinter sich lassen musste. Die von einem Tag auf den anderen ihre Wohnung in Wien aufgeben, ihre Freund*innen und ihren Freund zurücklassen und ihr Studium abbrechen musste. Wie beginnt man eine Geschichte, die man nie schreiben wollte? Hier ein Versuch:

Es war der 21. Juli vergangenen Jahres, als ich aufgewacht bin und sofort wusste: Ich bin ernsthaft krank. Die Wochen davor hatte ich etwas Husten und fühlte mich etwas schwach. Halb so schlimm, dachte ich damals noch. Später sollte sich das ändern. In diesem Jahr schien für mich alles gut zu laufen, nein, geradezu perfekt eigentlich. Ich habe einige Prüfungen geschrieben, war anschließend mit meiner Familie am Meer und hatte – ohne zu übertreiben und auch wenn es mehr als klischeehaft klingt – die beste Zeit meines bisherigen Lebens.

An diesem Morgen aber – es war sehr heiß und ich lag im Bett in meiner Wohnung in Wien, 4. Stock, Altbau – spürte ich, wie sich etwas verändert hatte in meinem Körper. Fast so, als wäre ein Schalter umgelegt worden. Meine Arme und Beine fühlten sich so schwer an wie Blei, ich verspürte ein schmerzhaftes Ziehen in den Oberschenkeln und ich schaffte es erst nach drei Versuchen, mich ins Badezimmer nebenan zu schleppen. Es war, als würde mich etwas zu Boden drücken. Als wäre sämtliche Kraft aus meinen Armen und Beinen einfach über Nacht verschwunden. Als ich es nach einiger Zeit schaffte, aufzustehen, war mir schwindelig und ich hatte Schwierigkeiten, mich in meinem kleinen Zimmer zu orientieren. Ein Gefühl, dass ich bisher nicht kannte. In der Dusche bin ich fast zusammengebrochen. Kraftlos habe ich mich in ein Handtuch gewickelt und mich langsam auf den Badezimmerboden hingesetzt. Ohne lange zu überlegen, habe ich WhatsApp auf dem Handy geöffnet und meinen Eltern geschrieben: „Irgendetwas stimmt nicht mit mir“.

Ich war erleichtert darüber, dass nichts gefunden wurde, und gleichzeitig mindestens genauso enttäuscht. Woher kamen dann diese Symptome?

Einen Tag später stand ich vor der Praxis meines Lungenfacharztes. Ich hatte den Atemwegsinfekt in Verdacht, den ich bis vor kurzem hatte. Vielleicht stimmte etwas mit den Medikamenten nicht, die ich dafür bekommen habe? Vielleicht hatte ich eine Lungenentzündung verschleppt? „Ihre Blutwerte schauen gut aus und die Lunge ist auch in Ordnung. An den Medikamenten kann es nicht liegen“, sagte mein Arzt, nachdem er mich untersucht hatte. Ich war erleichtert darüber, dass nichts gefunden wurde, und gleichzeitig mindestens genauso enttäuscht. Woher kamen dann diese Symptome? „Aber mir ist aufgefallen, dass sie etwas zittern, vielleicht sollten sie mal bei einem Neurologen vorbeischauen“, riet er mir schulterzuckend zum Abschied. Ich bedankte mich höflich und brach noch vor der Arztpraxis in Tränen aus.

Für längere Strecken muss Irina nach wie vor auf den Rollstuhl zurückgreifen.

Von da an begann ein sogenannter „Arztmarathon“. Wobei das Wort „Arztmarathon“ in diesem Fall schon sehr ironisch ist, da ich zu dem Zeitpunkt kaum mehr die kurze Strecke von meinem Bett in die Küche geschafft habe. Meine „Marathon“-Etappen waren so zahlreich, wie kräftezehrend: Lungenfacharzt, Hausärztin, Neurologe eins, Kardiologe, Neurologin zwei – und niemand hatte eine Erklärung für meine Symptome, auch alle weiteren Untersuchungen ergaben genau nichts. Die Ärzt*innen rieten mir, mich zu schonen: „Wird schon noch der Virus sein.“ Erst hieß es drei Tage Bettruhe, dann eine Woche, daraus wurden schließlich drei. Mit der Zeit wurden die Symptome schlimmer und die Angst größer. Ich wusste einfach, dass irgendetwas total aus dem Gleichgewicht geraten war. Schließlich schaffte ich es nicht mal mehr, die Treppen meiner Wohnung – in der ich doch nun schon drei Jahre lebte – runter und hoch zu gehen ohne zusammenzubrechen. Immer wieder fragten mich Freund*innen, ob es denn nicht auch „etwas mit der Psyche“ sein könnte. Die Fragen waren genauso gut gemeint, wie sie weh taten.

Es war ein Sonntag im August, gefühlt ganz Wien war von der drückenden Hitze der Stadt auf die Donauinsel geflüchtet, und ich zurück nach Südtirol. Meine Eltern hatten mich abgeholt, um mich zu ihnen zu bringen, schließlich schaffte ich es nicht mehr in meine Wohnung hoch. Damals konnte ich gerade noch eigenständig auf die Toilette gehen und alle drei Tage einmal kurz duschen, aber keine fünf Minuten mehr stehen. So fand ich mich liegend auf dem Beifahrersitz im Auto meiner Eltern wieder und blickte noch ein letztes mal aus dem Fenster auf die vorbeiziehenden Gebäude Wiens. Eine Erinnerung, die es bis heute geschafft hat, sich so lebendig, wie keine zuvor, in mein Gedächtnis einzubrennen. Eine, die sich dort festgekrallt hat und nur darauf wartet, wieder hochzukommen, um meine Ängste zu nähren, immer dann, wenn ich sie am wenigsten brauche. Denn noch niemals zuvor habe ich mich so hilflos gefühlt, wie an diesem Tag.

Jenseits des Brenners

In Südtirol wurde ich dann stationär im Krankenhaus aufgenommen, wo ich von Kopf bis Fuß – in meinem Fall mehr Kopf – untersucht wurde. Ich hatte eine Magnetresonanztomographie, wurde auf fast alle bekannten Tropenviren untersucht und mir wurde sogar Nervenwasser entnommen. Die Untersuchungen hatte ich Neurologen Numero drei zu verdanken – der letzte meines „Marathons“ in Wien. Dieser hatte nämlich bemerkt, dass mein Kreislauf verrückt spielt, sobald ich aufrecht stehe. Um das zu testen, wurde ein sogenannter „Schellongtest“ durchgeführt. Ein Test, bei dem der*die Patientin nach einiger Zeit im Liegen mit dem Rücken zur Wand gestellt wird und in regelmäßigen Abständen Puls sowie Blutdruck gemessen wird. Zwar blieben auch die weiteren Untersuchungen in Südtirol ohne Ergebnisse, mein auffälliger Kreislauf wurde aber auch dort bemerkt. Und zum ersten Mal stand eine erste mögliche Diagnose im Raum: „Posturales Tachykardiesyndrom“, kurz „POTS“.

Bei POTS funktioniert das autonome Nervensystem nicht so, wie es soll. Sogar so einfache Tätigkeiten, wie aufrecht zu stehen, werden zur Herausforderung. Der Körper schafft es nicht, den Kreislauf der Situation anzupassen. Das Blut versackt in den Beinen, das Herz beginnt unverhältnismäßig schnell zu schlagen, oft fallen die Betroffenen in Ohnmacht. Die Liste der Symptome ist lang. Angefangen von Herzrasen, Schwindelgefühl und Fatigue über Schlafprobleme, starkem oder geringem Schwitzen, Verdauungs- und Blasenproblemen, bis hin zu blau angelaufenen Armen und Beinen, Übelkeit, Tinnitus und Schmerzen. Betroffene haben starke Beschwerden, die sie in ihrem Alltag und in ihrem Berufsleben stark einschränken. Etwa 25 Prozent können sogar überhaupt nicht mehr arbeiten. Einige Betroffene brauchen einen Rollator oder einen Rollstuhl, um das Haus verlassen zu können.

Eigentlich kannte ich nur noch zwei Gefühle. Zum einen wollte ich so sehr leben, wie ich es nie zuvor wollte. Zum anderen, noch nie so wenig.

Erforscht ist das Syndrom kaum. Da es zu einem großen Teil junge Frauen betrifft, wurde es in der Vergangenheit oft fehldiagnostiziert und die Ursache in der Psyche gesucht. Wie mehrere Studien aufzeigen, werden Frauen mit ihren Beschwerden medizinisch weniger ernst genommen als Männer. Laut des Vereins POTS und andere Dysautonomien e. V. beginnt das Syndrom akut nach einem Infekt, einem Unfall oder einer Geburt, manchmal auch schleichend. Die Betroffenen werden oft falsch oder gar nicht diagnostiziert, allerdings ist es mit Millionen von Patient*innen weltweit nicht selten. Allein in Deutschland gibt es laut Expert*innen schätzungsweise über 500.000 Menschen mit POTS. Der Weg bis zur Diagnose ist oft lang. Im Durchschnitt braucht es sechs Jahre, bis das Syndrom richtig diagnostiziert wird, wie es auf der Seite des Vereins heißt.

Die nächsten vier Monate nach meinem Krankenhausaufenthalt war ich fast komplett bettlägrig. Auf Facebook fand ich zahlreiche Gruppen mit anderen Betroffenen aus ganz Österreich und Deutschland. Das hat mir sehr geholfen. Ich sah, dass ich nicht allein war mit meiner Krankheit. An guten Tagen schaffte ich es, mich zu duschen und die Haare zu waschen. An den schlechten Tagen mussten mir meine Eltern das Essen zum Bett bringen. Ab und an besuchten mich Freund*innen. An besseren Tagen versuchte ich mich mit Serien und Podcasts abzulenken. Den größten Teil des Tages verbrachte ich aber damit, die Decke in meinem alten Kinderzimmer anzustarren. Was ich in dieser Zeit gefühlt habe? Schwer zu sagen. Eigentlich kannte ich nur noch zwei Gefühle. Zum einen wollte ich so sehr leben, wie ich es nie zuvor wollte. Zum anderen, noch nie so wenig.

Im Januar – sechs Monate nach dem Infekt – stand die Diagnose nach einer weiteren Untersuchung im Krankenhaus Innsbruck fest: POTS wurde bestätigt. Endlich hatte ich einen Namen für die Symptome, die ich hatte. Und auch, wenn es, wie ich bald erfahren habe, weder eine wirklich wirksame Therapie für die Erkrankung gibt, noch ausreichend Forschung oder eine wirkliche Chance auf Heilung, bin ich froh darüber, dass ich vergleichsweise schnell eine Diagnose bekommen habe. Und darüber, dass ich mittlerweile wieder sitzen und diese Zeilen niederschreiben kann.

Ich dachte, dass es nach einem Virus nur zwei Optionen gibt: man wird gesund oder stirbt. Aber das stimmt nicht.

Derzeit verbringe ich 80 Prozent meiner Woche zu Hause. Für längere Strecken brauche ich nach wie vor einen Rollstuhl. An guten Tagen kann ich kochen, an schlechten Tagen nur liegen. Im Herbst plane ich, mein Studium wieder aufzunehmen, auch wenn in einem viel kleineren Rahmen als bisher. Mittlerweile wohne ich auch wieder in Wien, worüber ich unendlich glücklich bin.

Wenn ich über mich und über meine Erkrankung berichte, dann will ich kein Mitleid. Das bringt mir auch wenig. Um ehrlich zu sein, würde ich auch lieber über andere Themen schreiben, die mich weniger treffen und betreffen, die schöner sind und weniger persönlich. Aber es geht nicht nur um mich. Es gibt so viele Menschen auf der ganzen Welt, die nach einem Virus behindert werden – ganz plötzlich aus voller Gesundheit heraus. Menschen, die nach einem akuten Infekt Krankheiten bekommen wie POTS oder das chronische Erschöpfungssyndrom beziehungsweise Myalgische Enzephalomyelitis (ME). Menschen, die kaum mehr das Haus verlassen können, einfach von der Gesellschaft verschwinden, unsichtbar werden. Es geht darum, diesen Menschen eine Stimme zu geben. Und um Aufmerksamkeit zu schaffen, darüber, wie unbekannt und schlecht erforscht postvirale Erkrankungen sind. Es ist nicht nur wichtig, sondern auch notwendig. Denn gerade in Zeiten von Covid-19 braucht es dringend mehr Forschung und eine Therapie. Denn dieser Virus wird unausweichlich dafür sorgen, dass die Zahl postviraler Erkrankungen immer mehr werden wird. Und es kann jede*n treffen.

Ich habe diese Geschichte erzählt, weil ich bis vor einem Jahr dachte, dass es nach einem Virus nur zwei Optionen gibt: man wird gesund oder stirbt. Aber das stimmt nicht. Es gibt auch etwas dazwischen. Ich habe die Geschichte für euch geschrieben. Und auch ein bisschen für mich, um endlich alles niederschreiben zu können, was schon so lange in mir brennt. Und wie beendet man eine Geschichte, die man nie schreiben wollte? Keine Ahnung, meine ist noch nicht vorbei.

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