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Frau Kompatscher, Sie sind selbst Mutter und arbeiten mit Eltern. Was hat Sie dazu gebracht, sich mit den Schattenseiten der Mutterschaft zu beschäftigen?
Monika Kompatscher: Ich hatte selbst keinen leichten Start in die Mutterschaft. Anfangs ging es nur ums Funktionieren: Kind, Haushalt und später auch Job irgendwie unter einen Hut zu bringen. Aber je mehr ich mich mit mir selbst und gesellschaftlichen Zusammenhängen auseinandersetzte, desto mehr wurde mir klar: Vielen Frauen geht es ähnlich. Unzählige Gespräche mit Müttern und Eltern bestätigten mich in der Entscheidung, mich auch professionell diesen brennenden Themen zu widmen.
Betroffene Frauen bereuen nicht ihre Kinder, sondern die Realität, in der sie sich als Mütter plötzlich wiederfinden.
Was genau versteht man unter „Regretting Motherhood“ – und was nicht?
„Regretting Motherhood“ bezeichnet das Bedauern darüber, Mutter geworden zu sein – nicht aus fehlender Liebe zum Kind, sondern wegen der emotionalen, sozialen und strukturellen Überforderung durch die Mutterrolle. Der Begriff wurde 2015 durch die israelische Soziologin Orna Donath geprägt, die in ihrer Studie erstmals Frauen anonym zu diesem Tabu befragte. Ihre Forschung machte deutlich, dass Mutterschaft nicht für alle Frauen erfüllend ist und dass gesellschaftliche Ideale oft wenig mit der Realität zu tun haben. Ein großes Missverständnis ist, dass diese Mütter ihre Kinder nicht lieben. Denn das Gegenteil ist der Fall: Betroffene Frauen bereuen nicht ihre Kinder, sondern die Realität, in der sie sich als Mütter plötzlich wiederfinden. Es geht um Erwartungen – eigene und gesellschaftliche –, die kaum jemand hinterfragt, bevor die Kinder kommen. Und plötzlich sitzen die Frauen in einer Rolle, die viel zu eng ist und oft kommen dann Gedanken wie: „Wenn ich das vorher gewusst hätte, hätte ich mich womöglich anders entschieden.“
Was erzählen Mütter in Ihrer Praxis konkret? Gibt es typische Auslöser für solche Gefühle?
Oft ist es der Moment, in dem sie merken: Ich erkenne mich selbst nicht mehr. Sie fühlen sich fremdbestimmt, erschöpft, allein verantwortlich – für alles. Viele beschreiben das Gefühl, zu verschwinden. Der eigene Körper, die Zeit, selbst die Gedanken kreisen nur noch um das Kind. Und gleichzeitig sollen sie strahlen, geduldig sein und dankbar. Das erzeugt einen inneren Widerspruch und sehr viel Druck. Mental Load ist da ein zentraler Begriff: Diese unsichtbare Denkarbeit, die unermüdlich im Hintergrund läuft und die erschöpft – emotional und geistig.
Wann wird Frauen eigentlich bewusst, dass sie überfordert sind oder ihre Mutterschaft vielleicht sogar bereuen?
Oft erst, wenn der größte Stress abflaut. Vorher geht es nur ums Funktionieren, dann, oft beim Eintritt in den Job, kommt das Organisieren dazu und das „Neu-Ausstreiten“ von Zuständigkeiten. Das führt wiederum oft zu Konflikten in der Partnerschaft. Und zu diesem Zeitpunkt fangen viele Frauen an zu reflektieren: Warum ist das alles so schwer? Warum fühle ich mich so allein gelassen? Warum schaffe ich das alles nicht? Viele Frauen kommen aber auch gar nicht dazu, sich diese Fragen zu stellen und es tauchen stattdessen körperliche und psychische Beschwerden auf.
Wie zeigen sich diese im Alltag?
Es gibt viele Signale: Erschöpfung, Reizbarkeit, Schlafstörungen, ein Gefühl von Leere oder Schuld. Manche berichten von Tränen, die plötzlich kommen, ohne klaren Anlass. Andere spüren einfach: Ich bin dauer-angespannt. Und nicht wenige ziehen sich innerlich zurück: aus der Partnerschaft, dem Freundeskreis, manchmal auch von sich selbst. Dieses „Funktionieren-Müssen“ wird irgendwann zur Mauer.
Konkrete Begriffe schaffen einen Raum, in dem offen über Überforderung, Ambivalenz und Tabus gesprochen werden kann – und damit auch Raum für Veränderung.
Viele Frauen sagen: „Ich hätte das alles gerne früher gewusst.“ Warum wird so wenig offen über diese Erfahrungen gesprochen?
Weil wir Mütter idealisieren. Weil wir die Vorstellung haben, dass Kinder das größte Glück sein müssen. Und wer etwas anderes sagt, wird schnell verurteilt. Diese Erwartungshaltung verhindert offene Gespräche. Außerdem fehlen oft die Worte. Wenn man völlig erschöpft ist, denkt man nicht: „Ich bin strukturell überfordert.“ Man denkt: „Mit mir stimmt etwas nicht.“ Oder „Alle anderen schaffen es doch auch.“ Das ist fatal. Deshalb brauchen wir nicht nur Austausch, sondern auch Begriffe. Sprache macht sichtbar, was sonst verschwiegen bleibt. Solange es keine Begriffe für etwas gibt, bleiben bestimmte Erfahrungen unsichtbar oder werden als persönliches Scheitern statt als strukturelles Problem verstanden. Konkrete Begriffe schaffen einen Raum, in dem offen über Überforderung, Ambivalenz und Tabus gesprochen werden kann – und damit auch Raum für Veränderung.
Die Begriffe „Mental Load“ oder „Regretting Motherhood“ sind noch jung. Das bedeutet allerdings nicht, dass es diese Phänomene vorher nicht gab, oder?
Früher waren Rollen klarer verteilt. Die gesellschaftlichen Erwartungen an Mütter waren zwar auch hoch, aber anders definiert. Heute haben Frauen theoretisch mehr Wahlfreiheit – aber praktisch oft nicht die Rahmenbedingungen, diese auch zu leben.
Wie können betroffene Mütter aus diesem Zustand herauskommen?
Der erste Schritt ist es, darüber zu sprechen. Sei es mit einer Freundin, einer Beraterin, im Internet. Allein zu merken: Ich bin nicht allein! Das kann sehr entlastend sein. Dann folgen konkrete Veränderungen wie mehr Selbstfürsorge, mehr Klarheit über Grenzen, vielleicht eine Umverteilung von Aufgaben. Und es braucht Räume, in denen diese Prozesse unterstützt werden. Wir brauchen familienfreundliche Strukturen, gesellschaftliche Offenheit und keine Stigmatisierung.
Welche Rolle spielen dabei die Partner?
Eine zentrale. Viele Frauen sagen: Ich könnte das schaffen, wenn ich es nicht allein stemmen müsste. Aber in vielen Partnerschaften sind die alten Rollenbilder noch tief verankert. Männer „helfen“, statt von sich aus mitzudenken. Und sobald es an die unsichtbare Planungsarbeit geht – wer besorgt das Geschenk für den Kindergeburtstag, wer macht den Impftermin? – sind es meist die Mütter. Dabei wäre echte Gleichberechtigung genau hier gefragt.
Was hindert Väter daran, sich stärker einzubringen?
Manche wollen, wissen aber nicht wie. Andere haben nie gelernt, Verantwortung emotional mitzutragen. Und dann sind da noch gesellschaftliche Zuschreibungen: Wer als Mann seine Arbeitszeit reduziert, gilt schnell als „weniger ehrgeizig“. Gleichzeitig fehlt in vielen Familien das offene Gespräch: Wer macht eigentlich was und warum? Ohne diese Auseinandersetzung entsteht leicht Frust. Und irgendwann auch Sprachlosigkeit.
Solidarität kann entlasten. Druck macht einsam.
Und was müsste sich gesellschaftlich verändern, damit Elternschaft wirklich partnerschaftlich wird?
Wir brauchen konkrete Maßnahmen. Es reicht nicht, über Vereinbarkeit zu sprechen, wenn es keine Betreuungsplätze gibt. Es braucht echte Wahlfreiheit für Mütter und Väter. Elternzeitmodelle, die beide einbinden, ohne finanzielle Einbußen. Ganz klar sind hier auch Arbeitgeber:innen gefragt: flexiblere Arbeitsmodelle, eine Aufwertung von Care-Arbeit und ein kultureller Wandel, der Fürsorge nicht abwertet. Wir alle sollten auch aufhören, Frauen allein für die familiäre Stimmungslage verantwortlich zu machen.
Welche Rolle spielt das soziale Umfeld in dieser Situation?
Eine riesige. Es macht einen Unterschied, ob ich Freundinnen habe, die ehrlich sagen: „Mir geht es gleich.“ Oder ob ich ständig das Gefühl bekomme, mich zusammenreißen zu müssen. Auch Schwiegereltern, Kolleg:innen, Hebammen, Nachbar:innen – sie alle tragen dazu bei, wie gesehen oder bewertet sich eine Mutter fühlt. Solidarität kann entlasten. Druck macht einsam.
Druck erzeugen heute auch die Medien und soziale Netzwerke.
Ja, sie prägen unsere Bilder von Mutterschaft und oft sind diese Bilder einseitig. Auf Instagram sehen wir strahlende Mütter mit Latte Macchiato und Baby im Tragetuch. Aber kaum jemand zeigt die Einsamkeit um vier Uhr morgens oder die Wut und die Verzweiflung, wenn alles zu viel wird. Diese Inszenierungen erzeugen Druck und sie führen dazu, dass viele Frauen glauben, nur sie selbst seien überfordert. Dabei ist das Gegenteil wahr: Es sind zu viele, die schweigen.
Es ist okay, sich unsicher zu sein. Das zeigt, dass man Verantwortung ernst nimmt.
Es gibt aber auch die bestärkenden Frauen und Eltern in den Sozialen Medien, die Sie persönlich inspiriert haben.
Ja genau, dahingehend hat es auch jede selbst in der Hand, gezielt jenen Menschen zu folgen, die ermutigen, Tabus ansprechen und ein ungeschöntes Bild von den Herausforderungen der Elternschaft zeigen. Da gibt es viele Profile und auch Podcasts, die Mut machen und uns darin bestärken können: Wir sind nicht allein. Nicht wir Mütter sind das Problem, sondern die gesellschaftlichen Zuschreibungen und Strukturen, die oft weit von der Realität und den Bedürfnissen von Familien entfernt sind.
Was würden Sie einer Frau sagen, die noch keine Mutter ist, aber sich Sorgen macht, ob sie es irgendwann bereuen könnte?
Ich würde sagen: Informiere dich gut und plane, so gut es geht. Sprich mit Frauen, die ehrlich erzählen. Stell dir vor, wie dein Alltag aussehen würde. Welche Unterstützung hättest du? Welche Kompromisse bist du bereit, einzugehen? Und: Sprecht und plant als Paar. Wer trägt was? Wie ist die finanzielle Situation? Welche Erwartungen gibt es und was passiert, wenn jemand ausfällt? Je ehrlicher die Vorbereitung, desto klarer wird auch die Entscheidung. Es ist okay, sich unsicher zu sein. Das zeigt, dass man Verantwortung ernst nimmt.
Gibt es auch etwas, das Sie sich selbst durch diese Erfahrungen beigebracht haben?
Ich habe begonnen, mich mit mir auseinanderzusetzen. Mit der Mutterrolle und dem Anteil der Gesellschaft. Vorher Verschüttetes durfte wieder zum Vorschein kommen. Heute kann ich manchmal gelassener sein, habe ein Bewusstsein für meine Grenzen entwickelt und ich versuche, mit mir milder zu sein. Es ist ein ständiger Prozess. Auch meiner ist noch nicht abgeschlossen.
Und was möchten Sie anderen Frauen mit auf den Weg geben?
Dass Ambivalenz erlaubt ist. Dass man gleichzeitig lieben und überfordert sein kann. Dass niemand perfekt ist und niemand es sein muss. Ich wünsche mir, dass wir uns gegenseitig mehr Raum geben für Ehrlichkeit und dass wir solidarischer und verständnisvoller sind – mit uns selbst und mit anderen.
Monika Kompatscher ist Counsellor, Psychologin und Mutter. Nach dem Psychologiestudium war sie 15 Jahre im Human Resources von Unternehmen tätig und schloss 2023 die Ausbildung zur Counsellor Professional ab. Seitdem arbeitet sie hauptsächlich mit Müttern und Eltern in eigener Praxis in Vahrn, hält regelmäßig Vorträge und spricht in Podcasts über Themen rund um die Herausforderungen von Elternschaft.
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