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Seit einem Jahr hat Annabell* ihre Mutter auf allen Kanälen blockiert. Wenn sie sich zufällig in der Stadt begegnen und sich flüchtig ihre Blicke treffen, grüßen sie sich nicht und gehen ohne ein Wort aneinander vorbei. „Wir hatten nie ein gutes Verhältnis. „Es kam immer wieder zu heftigen Streitigkeiten“, antwortet Annabell auf die Frage, warum sie keinen Kontakt mehr zu ihrer Mutter will. Sie sei sehr uneinsichtig, könne ihre eigenen Fehler nicht erkennen und schiebe die Schuld gern anderen zu, begründet die Tochter ihre Entscheidung. „Außerdem spricht sie schlecht über mich, um sich vor anderen – sei es in der Familie oder im Freundeskreis – besser darzustellen.“
Die heute 29-jährige Wipptalerin hatte keine einfache Kindheit. Weil es ihr wegen ihren Mitschüler:innen nicht gut gegangen ist, hat sie schließlich die Schule gewechselt. Daraufhin bezeichnete ihre Mutter sie als „faul und dumm“ und dass sie mit dieser Einstellung „nia a Orbeit finden“ würde. Als Annabell ihre Mutter bat, ihr dabei zu helfen, psychologische Hilfe zu bekommen, war ihre Antwort darauf: „Nur Verrückte gehen zum Psychologen. Du musst da drüber stehen und hart an dir arbeiten.“ Sie erinnert sich an einen Tag, als sie es vor lauter Traurigkeit nicht aus dem Bett geschafft habe. „Sie hat mich Schlampe genannt und mir gesagt, dass ich für immer alleine bleiben werde, wenn ich mich so verhalte.“
Oft sind es jahrelange Grenzüberschreitungen, die dazu führen. Nur durch einen Abbruch kann ein bestimmtes Wohlbefinden eintreten und das eigene Leben in die Hand genommen werden.
Martina MazzaBereits in der Vergangenheit hat Annabell schon mehrmals versucht, den Kontakt zu ihrer Mutter abzubrechen. Wirklich geschafft hatte sie es erst, als aufgrund eines Berufswechsels eine räumliche Trennung erfolgte: „Ich bin sehr sensibel und komme mit Konflikten nur schwer zurecht. Da ich aufgrund meiner Jugend psychisch vorbelastet bin und generell schlecht mit solchen Situationen umgehen kann, war es für mich eine Art Rettung, eine Arbeitsstelle weiter weg von zuhause zu finden – sodass ich sie gar nicht mehr sehen muss.“Annabell hat den Kontakt zu ihrer Mutter abgebrochen, ohne es ihr vorher anzukündigen, wie sie sagt. Es musste nicht ausgesprochen werden: „Es hat sich einfach so ergeben.“
„Oft sind es jahrelange Grenzüberschreitungen”
Die Familienberatungsstelle Lilith in Meran begleitet Jugendliche und Erwachsene wie Annabell, die den radikalen Schritt gehen und den Kontakt mit einem oder gleich beiden Elternteilen abgebrochen haben. „Kontaktabbrüche innerhalb einer Familie sind immer einschneidend und haben Einfluss auf das tägliche Leben und das gesamte Familiengefüge“, erklärt Direktorin Martina Mazza. „Oft sind es jahrelange Grenzüberschreitungen, die dazu führen. Und nur durch einen Abbruch kann ein bestimmtes Wohlbefinden eintreten und das eigene Leben in die Hand genommen werden. Es ist in einigen Situationen die einzige Möglichkeit, sich abzugrenzen und ein selbstbestimmtes Leben zu führen.“
Obwohl der Kontaktabbruch zu den eigenen Eltern weit verbreitet ist, ist dieser Schritt bis heute mit Stigmata und Scham behaftet. In den sozialen Medien sprechen erwachsene Kinder über das Phänomen „Going no contact“. Auf den Plattformen TikTok oder Instagram finden sich unter dieser Suche mehrere tausende von Erlebnisberichten dazu. Viele beschreiben ein Leben mit weniger Angst und mehr Selbstachtung, andere geben Ratschläge dazu, wie man den Kontakt zu seinen Eltern abbrechen kann. Oder bitten in Reddit-Foren andere um Rat und berichten über ihre schwierigen Familienverhältnisse. Ob Kontaktabbrüche zwischen Kindern und Eltern heute häufiger stattfinden als früher, kann nicht sicher gesagt werden.
Beziehungen können neu gesehen und gelesen werden.
Martina MazzaLaut Becca Bland sprechen jüngere Generationen einfach offener über ihre Erfahrungen und Gefühle. Die britische Journalistin berichtete 2012 im Guardian, wie sie sich von ihren Eltern löste: „I didn’t walk away from my own situation at a younger age than I did, for fear of being judged“. Nachdem sich daraufhin zahlreiche Menschen bei ihr meldeten, die auch den Kontakt mit ihrer Familie abbrechen möchten, gründete sie die „Stand Alone Community“ und wurde zu einer bekannten Stimme des Phänomens. Ihre Organisation führt Forschungsprojekte durch, bietet Selbsthilfegruppen an und steht Menschen zur Seite, die den Kontakt mit einem oder mehreren Familienmitgliedern abbrechen wollen. Laut Bland gebe es eine Kluft zwischen den Generationen, wie sie im Magazin The New Yorker das Phänomen erklärt. Ältere Menschen würden häufiger eine Pflicht gegenüber der Familie empfinden. Und die Beziehungen selbst dann nicht abbrechen, wenn sie ihnen schadet. Sie selbst hätten ja ein weitaus schlimmeres Verhalten der Eltern tolerieren müssen, wie sie sagt. Im Gegensatz dazu sehen jüngere Generationen familiäre Beziehungen nicht als verpflichtend an. Laut Bland haben diese „das Gefühl, dass sie gesunde Beziehungen brauchen und nicht einfach irgendeine Beziehung.“
Kontaktabbruch als Ausweg
Laut Mazza müsse es aber gar nicht erst zu diesem Schritt kommen: „Oft kann eine frühzeitige therapeutische Begleitung verhindern, dass der Kontakt endgültig abgebrochen wird. Beziehungen können neu gesehen und gelesen werden. Aus sehr schlechten Beziehungen zwischen Eltern und Kindern können Beziehungen entstehen, die nicht so zehrend sind, dass sie ganz abgebrochen werden müssen.“ Die Psychotherapeut:innen der Familienberatungsstelle helfen dabei, eine gesunde Distanz aufzubauen sowie im Falle eines Kontaktabbruchs – insofern die Bedingungen gegeben sind – wieder einen Weg zurück zu finden. Es sei wichtig, sich seiner Rolle bewusst zu werden und seinen Platz in dem Familiengefüge zu finden, erklärt die Expertin. „Diesen Kontakt wiederherzustellen, muss keineswegs bedeuten, dass man sich von heute auf morgen ständig trifft, sondern, dass man einen Weg findet, der einem gut tut.“
Eine Frage, die Lea*, einer Klientin der Beratungsstelle, oft gestellt wurde: „Aber warum sprichst du nicht mit deinen Eltern, sie sind immer noch deine Mutter und dein Vater?“Sie erzählt, wie sie den Schmerz fühlte, der diese Entscheidung mit sich bringt. Und darüber, wie sie sich für die Situation schämte. Der Blick der Außenwelt war häufig auf ihre Eltern gerichtet, wie Lea berichtet: „Weg von mir und von meinem emotionalen und psychologischen Erleben.“ Sie habe erst lernen müssen, ehrlich und mutig sagen zu können, dass das Mädchen in ihr, aus tiefsten Herzen und manchmal verzweifelt möchte, dass die Situation anders sei und es möglich wäre, mit ihren Eltern zu interagieren. „Aber dafür gibt es jetzt noch keine gute Basis, ich muss mich schützen“, fügt die heute 40-Jährige hinzu.
Jahrelang habe ich darum gekämpft, meine Mutter von ihrer Sucht zu befreien. Und meinen Vater vor ihr und sie vor meinem Vater zu schützen
Lea*Die Gründe sind vielseitig
Laut Mazza können die Gründe für einen Kontaktabbruch mit einem oder beiden Elternteilen vielseitig sein: neben Suchtproblemen von Erwachsenen oder Kindern, Gewaltsituationen, konfliktreiche Trennungen über unterschiedliche kulturelle Vorstellungen und religiöse Gründe bis hin zu Erbschaftsangelegenheiten. Eine Lebensphase, in der man für diese Entscheidung empfänglich ist, sei das Jugendalter. Solche Kontaktbrüche können da von einigen Tagen bis zu mehreren Wochen gehen. „In dieser Zeit der eigenen Identitätsfindung kann so ein drastischer Einschnitt oft notwendig sein, um sich von den Eltern abzunabeln“, erklärt Mazza. Oft liegen solchen Entscheidungen Missverständnisse oder das Nichtanerkennen von anderen Lebensmodellen zugrunde.
Schon als Kind wurde Lea mit psychiatrischen Erkrankungen und verschiedenen Suchtproblemen konfrontiert. Sie machte Erfahrungen mit direkter und miterlebter physischer Gewalt, psychischem, emotionalem und verbalem Missbrauch und wurde vernachlässigt. „Jahrelang habe ich darum gekämpft, meine Mutter von ihrer Sucht zu befreien. Und meinen Vater vor ihr und sie vor meinem Vater zu schützen“, sagt Lea. Dieser Kampf wurde im Laufe der Jahre so zermürbend, erschöpfend und tiefgreifend, dass sie sich schützen musste. Um zu überleben und um sich nicht ganz zu verlieren, wie sie betont. Erst als Erwachsene konnte Lea verstehen, dass jeder Mensch das tut, was er kann und mit den Mitteln, die ihm zur Verfügung stehen: „Jetzt, da sie älter und sehr krank sind, findet eine sehr langsame und schrittweise – oft tränenreiche – Annäherung statt.“ Dies schaffe Lea aber nicht allein, wie sie sagt. Psychotherapien und Selbsthilfegruppen für Familienangehörige von Suchtkranken unterstützen sie bei diesem Schritt.
Annabell hingegen möchte keinen Kontakt mehr zu ihrer Mutter haben. Sie wirkt sehr sicher in ihrer Entscheidung. Ihren Vater und ihre Schwester sieht sie etwa einmal im Monat. Das Verhältnis zu ihnen sei recht gut, wie sie sagt. Bisher haben weder Annabell noch ihre Mutter einen Versuch gestartet, sich wieder aneinander anzunähern und die Beziehung zu verbessern. Annabell sagt, sie habe den Schritt, den Kontakt komplett abzubrechen, nie bereut: „Mir ging es danach sofort besser. Ich bin bis heute sehr glücklich mit dieser Entscheidung und würde sie keinesfalls rückgängig machen: „Für mich war es eine große Erleichterung.“
*Namen von der Redaktion geändert
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