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Matthias Schwarz
Veröffentlicht
am 03.04.2023
LebenUnterwegs in Saudi Arabien

Wandel um jeden Preis

Veröffentlicht
am 03.04.2023
Bis vor Kurzem galt Saudi Arabien als eines der konservativsten Länder der Welt. Seit 2019 ist es möglich als Individualtourist dorthin zu reisen. Unser Autor hat das Land besucht und berichtet über eine Gesellschaft im Wandel.
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Blick auf die neu errichtete King Abdullah Economic City. Derzeit leben nicht geplante zwei Millionen Einwohner:innen in der Stadt, sondern nur rund 10.000.

„Ich verstehe sie einfach nicht“, sagt Farhad. Er ist Anfang 30 und arbeitet als Dozent an der Universität einer Kleinstadt, nicht weit von der Hauptstadt entfernt. Seit einigen Jahren hat er weibliche Arbeitskolleginnen. Die Kommunikation und Zusammenarbeit findet er oft schwierig. Er, sowie die meisten anderen Saudis, ist den Umgang mit Frauen außerhalb der eigenen Familie nicht gewohnt. Wie auch? Das Bildungssystem ist strikt geschlechtergetrennt. Farhad selbst unterrichtet Frauen ausschließlich online und bei ausgeschalteter Kamera. Restaurants und Bars haben vielfach getrennte Räumlichkeiten für Familien und alleinstehende Männer. Bis vor Kurzem kontrollierte die Religionspolizei die strenge Einhaltung dieser Vorschriften.

Mittlerweile ist die Religionspolizei entmachtet. Vieles ändert sich gerade in diesem Land. Geschäfte und Restaurants müssen nicht mehr während der Gebetszeiten schließen. Es werden Kinos eröffnet. Der Schleier ist nicht mehr verpflichtend. Frauen dürfen Autofahren. In Riyad und anderen Großstädten spürt man den Wind des Wandels. Auf dem Land ist es anders. Die Frauen tragen dort noch den Gesichtsschleier und werden lieber von ihren zum Teil minderjährigen Söhnen chauffiert. Farhad selbst steht gemischten Schulen skeptisch gegenüber. Er hat Angst seine Tochter den unberechenbaren Trieben der männlichen Schüler und Lehrer auszusetzen. 

Diese gesellschaftliche Öffnung ist Teil der Vision 2030, die vom Kronprinz Mohamed bin Salman lanciert wurde. Das Ziel dieses Reformprogramms ist es, die Wirtschaft des Königreichs zu diversifizieren und die Privatwirtschaft zu stärken. Derzeit  macht der Ölsektor noch ca. 40 Prozent des BIP aus und bis zu 75 Prozent der Saudis arbeiten im öffentlichen Dienst. Um das zu ändern, braucht es die wirtschaftliche und gesellschaftliche Teilhabe der Frauen.

Kronprinz Mohamed bin Salman

Das Zugpferd dieser Vision ist die Errichtung der Stadt Neom. Aus dem Nichts soll am Roten Meer, in der Region Tabuk eine nachhaltige Megastadt entstehen. Die Stadt soll in Zukunft Forschende und Unternehmer:innen aus der ganzen Welt anziehen. Der Schwerpunkt wird dabei auf zukunftsträchtige Branchen gelegt, wo etwa auf Data Science oder AI. Dafür werden 500 Milliarden US-Dollar investiert. Das Gebiet, auf dem gebaut wird, ist mehr als drei Mal so groß wie Südtirol. Von Nachhaltigkeit ist derzeit noch wenig zu spüren. Überall reihen sich die LKWs. Die Luft ist verpestet durch die Auspuffgase und den Staub der Baustellen. Viele der LKWs sind alt und kommen aus Europa, wo sie ausgemustert wurden. Einige haben noch ihre alten Kfz-Zeichen aus Spanien oder anderen Ländern. Das saudische Kfz-Zeichen wurde einfach drüber montiert. Gefahren werden diese LKWs zumeist von schlecht bezahlten Migranten aus Asien, die in zum Teil menschenunwürdigen Zuständen leben und arbeiten. In der Privatwirtschaft in Saudi Arabien sind 76 Prozent der Beschäftigten Ausländer. Die Saudis ziehen den besser bezahlten öffentlichen Sektor vor. Das soll sich in Zukunft ändern durch verpflichtende Quoten zur Einstellung von Saudis und erhöhte Kosten bei der Einstellung von Ausländern.

Adnan ist einer der saudischen Beschäftigten am Projekt Neom. Er ist Ingenieur in einer der zahlreichen Baustellen von Neom. Gleichzeitig ist er auch Betroffener. Das Dorf in dem seine Familie wohnte, muss dem Projekt weichen. Ihnen wurde Geld angeboten und sie sind in eine andere Stadt übersiedelt. Bei einem Besuch in dem Fischerdorf von Adnan ist es fast leer. Von vielen Häusern stehen nur noch die Mauern. Ein Fisch-Imbiss ist noch geöffnet, genauso wie der örtliche Tante-Emma-Laden. Außerdem harrt die Grenzpolizei noch in ihrer Kaserne aus. Laut einem Bauarbeiter werden die Gebäude in den nächsten Monaten abgerissen. Beschwerden von den Bewohnern kennt der Arbeiter keine. Sonst könnte es ihnen ergehen wie Abdul Rahim al-Huwaiti in al-Khuraybah. Er hat sich geweigert, sein Haus aufzugeben. Kurze Zeit später wurde er von Sicherheitskräften getötet. Die genauen Umstände sind unklar. Die Behörden behaupten, es gab einen Schusswechsel. Laut Aktivist:innen wurde er aufgrund seines Widerstandes getötet. Andere Bewohner:innen, die sich geweigert haben, ihre Heimat aufzugeben, wurden verhaftet. Im Zuge des Baus von Neom werden schätzungsweise 20.000 Menschen zwangsumgesiedelt.

Im Zuge des Baus von Neom werden schätzungsweise 20.000 Menschen zwangsumgesiedelt

An dem von oben verordneten Wandel beteiligen sich auch Südtiroler. Das Projekt Care’s ist vor Kurzem eine Zusammenarbeit mit Neom eingegangen. Care’s ist ein Zusammenschluss von Köchen aus mehreren Ländern, die sich für mehr Regionalität, Saisonalität und Nachhaltigkeit in der Gastronomie einsetzen. Für Neom soll das Projekt Care’s eine eigenen Geschmack kreieren. Einer der Gründer und Gesichter des Projekts ist der Südtiroler Sternekoch Norbert Niederkofler.

Der Autor hätte von Niederkofler gerne gewusst, wie sich sein Einsatz für die Umwelt und Soziales mit den gravierenden Menschenrechtsverletzungen rund um das Megaprojekt Neom vereinbaren lässt. Doch sein Pressebüro hat nur mit einer generischen Pressemitteilung geantwortet. Einen Zusammenhang zwischen den Fragen des Autors zu Menschenrechtsverletzungen und der Zusammenarbeit von Care‘s mit dem Neom-Lebensmittelsektor wollte das Pressebüro nicht erkennen, Niederkofler selbst meldete sich nicht zu Wort.

Autor Matthias Schwarz war als Radreisender auch einige Zeit in Saudi Arabien unterwegs.

Neom ist nicht das erste Megaprojekt, das Saudi Arabien an die ökonomische und technologische Weltspitze katapultieren soll. Jüngstes Beispiel ist das Economic Cities Programm des früheren Königs Abdullah, das den Anspruch hatte die saudische Wirtschaft wettbewerbsfähiger zu machen. Von sechs geplanten Städten wurde nur eine gebaut, die King Abdullah Economic City. Ursprünglich gedacht für eine Bevölkerung von zwei Millionen, leben derzeit nur rund 10.000 Menschen dort. Das Ziel ausländisches Fremdkapital anzuziehen, gestaltet sich schwierig.

Bei einem Scheitern des aktuellen Reformprogramms wäre wohl der Wohlstand der Bevölkerung von Saudi Arabien gefährdet. Zu den abnehmenden Öleinnahmen gesellt sich in Saudi Arabien eine Explosion der Bevölkerungszahlen. Diese Kombination könnte die Stabilität des Königreichs in der Zukunft ins Wanken bringen. Auf der anderen Seite muss die Führungsriege rund um den Kronprinzen aufpassen, die vielen Konservativen durch zu progressive Reformen nicht vor den Kopf zu stoßen. Neom ist ein Neologismus aus den Wörtern neo, griechisch für neu und Mustaqbal, arabisch für Zukunft. Es bleibt abzuwarten, ob es Mohamed bin Salman gelingt die Zukunft nach seinen Wünschen zu formen.  

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