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Veröffentlicht
am 02.09.2025
LebenStraßenzeitung zebra.

Unter uns: Leben im Untergrund

Veröffentlicht
am 02.09.2025
Tief unter der Erdoberfläche existieren Welten, die kaum jemand kennt: Orte des Rückzugs, des Überlebens, der Unsichtbarkeit. Ob in Bukarests Kanälen, Pekings Bunkeranlagen oder unter Australiens Wüstenboden: Der Untergrund ist bewohnt – aus Not, Zwang oder Pragmatismus. zebra. wirft einen Blick auf drei verborgene Realitäten.
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Foto principale (C) Georg Hofer (1)
Christina und ihre kleine Schwester verbrachten ihre Jugend in den Kanälen der rumänischen Hauptstadt.

Als der Südtiroler Fotograf Georg  Hofer im November 2015 in einen Kanal des städtischen Fernheizwerks in Bukarest hinabklettert, schlägt ihm feuchte, heiße Luft entgegen. Der beißende Geruch, das Flackern einer Glühbirne, das ständige Tropfen von Wasser. „Es war eine beklemmende Situation und ein Abstieg ins Ungewisse“, erinnert sich der Brixner. Unten angekommen eröffnet sich ihm ein weitläufiges System aus Gängen und niedrigen Kammern. Darin befinden sich dürftige Matratzenlager, übereinandergestapelte Kisten, Kartons, ein Fernseher – alles umgeben von den glühend heißen Rohren, die Bukarests Wohnungen mit Fernwärme versorgen. Und mittendrin: Ratten, Kakerlaken, Müll.

In dieser Szenerie trifft der Fotograf auf Christina und ihre kleine Schwester. Die beiden freuen sich über den Besuch und die mitgebrachten Lebensmittel. Die Mädchen sind Teil einer Gruppe Jugendlicher, die sich in diesem Kanal eingerichtet hat. Er schützt sie vor der klirrenden Kälte des rumänischen Winters. Ihr Anführer ist ein junger Mann, der sich selbst den Namen Bruce gegeben hat. Einige der Kinder schnüffeln an Plastiktüten, in die sie eine Art Lack geträufelt haben. Die giftigen Dämpfe lindern ihr Hungergefühl und verringern das Kälteempfinden. An die Oberfläche kommen sie nur, um zu betteln oder um sich auf andere Weise irgendwie durchzuschlagen.

Viele der ehemaligen Heimkinder standen plötzlich buchstäblich auf der Straße. Ein Teil von ihnen und ihre Nachkommen leben bis heute im Untergrund: in Kanälen, an Bahnhöfen oder in vernachlässigten Stadtvierteln.

Bukarests Untergrund erzählt von einer Vergangenheit, die bis heute nachwirkt: Unter dem kommunistischen Diktator Nicolae Ceaușescu wurde Verhütung ebenso verboten wie Abtreibung. Die Geburtenrate stieg, viele Familien konnten ihre Kinder kaum versorgen. Der Staat versprach Fürsorge, doch in den überfüllten Waisenheimen herrschten Vernachlässigung, Gewalt und katastrophale hygienische Bedingungen. Nach dem Ende der Diktatur 1989 brach das soziale Netz zusammen. Viele der ehemaligen Heimkinder standen plötzlich buchstäblich auf der Straße. Ein Teil von ihnen und ihre Nachkommen leben bis heute im Untergrund: in Kanälen, an Bahnhöfen oder in vernachlässigten Stadtvierteln.

Von Peking bis Bukarest: Der Untergrund vieler Städte wird von Menschen am Rande der Gesellschaft bewohnt.

Vor zehn Jahren war Georg Hofer mit dem Südtiroler Verein „Kinder in Not“ unterwegs, um dessen Arbeit mit obdachlosen und armutsbetroffenen Jugendlichen zu dokumentieren. Heute sind die Kinder vom Nordbahnhof weitgehend verschwunden. Auf Druck der EU und internationaler NGOs hat die rumänische Regierung eingegriffen und zahlreiche Kanaleingänge verriegelt oder mit Beton versiegelt. „Doch das Problem besteht weiterhin und wurde vielfach lediglich verschoben, nicht aber gelöst“, erklärt Elsa Wolfsgruber aus Bruneck, die Gründerin des Vereins. Sie ist noch immer vor Ort tätig, realisiert mit ihrem Team den Bau von Unterkünften, gibt Schulessen aus und finanziert Bildungsangebote in Bukarest und im Grenzgebiet zur Ukraine und Moldawien.

Rumänien hat inzwischen einige Fortschritte gemacht: Die Zahl der Kinder in staatlichen Heimen wurde gesenkt, Initiativen zur Reintegration wurden gestartet. Und doch bleibt der Bedarf groß. Laut UNICEF sind nach wie vor über vierzig Prozent der Kinder im Land von Armut, sozialer Ausgrenzung und Stigmatisierung bedroht. Viele von ihnen – auch frühere Kanalkinder – leben heute in Slums am Stadtrand oder in Dörfern ohne Infrastruktur. Tragfähige Perspektiven fehlen. Genauso wie klare politische Entscheidungen und langfristige Initiativen vonseiten des Staates.

Und so entstehen mit der Zeit sogenannte „Rattenlöcher“: kleine, fensterlose Kammern mit kaum mehr als einem Bett, einem Lichtschalter und einem Ventilator.

Wohnraum im Bunker
Szenenwechsel: Unter den Straßen Pekings, hinter rostigen Eisentüren und schmalen Treppenabgängen erstreckt sich ein unsichtbares Netz aus alten Schutzbunkern. Die Relikte aus den 1960er- und 70er-Jahren wurden einst für einen möglichen Atomkrieg errichtet. In den Jahrzehnten nach ihrem Bau aber verlieren sie ihren ursprünglichen Zweck und stattdessen ziehen Menschen ein, die sich die rasch steigenden Mieten der rasant wachsenden chinesischen Hauptstadt nicht leisten können. Es sind vor allem Wanderarbeiter:innen, junge Menschen vom Land und Studierende, die ihr Glück in der Großstadt suchen und von Baustellenjobs oder schlecht bezahlten Aushilfstätigkeiten angelockt werden.

Pekings Wohnraum aber bleibt für sie unerschwinglich. Und so entstehen mit der Zeit sogenannte „Rattenlöcher“: kleine, fensterlose Kammern mit kaum mehr als einem Bett, einem Lichtschalter und einem Ventilator. Die Bedingungen sind prekär: feuchte Wände, muffige Luft, Gemeinschaftstoiletten und -küchen. Und trotzdem leben dort nicht nur Einzelne, sondern Tausende. Die Vermietenden, oft zwischengeschaltete Hausverwalter:innen oder informelle Mittelsleute, teilen die Bunker in Parzellen auf und kassieren Mieten, die für die meisten gerade noch bezahlbar sind. Die Stadtregierung sieht lange weg – wohl auch deshalb, weil es an Alternativen fehlt.

In einigen zentralen Anlagen bilden sich mit der Zeit Mikro-Gemeinschaften heraus. Es entstehen kleine Friseurläden, improvisierte Geschäfte für Lebensmittel und sogar einfache Suppenküchen. Die Atmosphäre ist zweckmäßig, auf Überleben ausgerichtet. Wer hier lebt, hält sich über Wasser, lernt Nachbar:innen kennen, organisiert sich. Doch ein Gefühl von Beständigkeit oder Sicherheit bleibt aus. Die andauernde Bedrohung durch mögliche Kontrollen und Räumungen schwebt über allem. Denn Mitte der 2010er-Jahre verschärfen sich die Maßnahmen. Die Stadt Peking beginnt damit, die Unterkünfte systematisch zu räumen. Vor allem nach einem Großbrand in einem illegal bewohnten Gebäude im Jahr 2017 steigt der Druck. Bunker werden versiegelt, Ausgänge zugeschweißt, Mietverhältnisse aufgelöst.

Heute, im Jahr 2025, sind bewohnte Bunker in den zentralen Bezirken Pekings kaum noch zu finden. Viele der früheren Bewohner:innen sind an die Stadtgrenzen oder in sogenannte „Villages in the City“ gezogen – teils informelle Siedlungen am Stadtrand mit beengten, oft ebenfalls unwürdigen Bedingungen. Die Zahl der Menschen, die in Untergrundbunkern leben, hat sich zwar deutlich verringert, doch das Thema bleibt relevant. Der Kampf um bezahlbaren Wohnraum in der auch weiterhin wachsenden Stadt ist nicht beendet und der Marginalisierung von Zugewanderten und prekär Beschäftigten wird weder von der Stadtregierung noch von der Gesellschaft erfolgreich entgegengewirkt.

Hier ist das Leben unter Tage kein Zeichen von Armut, sondern eine pragmatische Antwort auf extreme Hitze.

Tief unter der Hitze
Eine andere Realität im Untergrund findet sich in der staubigen Weite der australischen Wüste. Hier liegt die Stadt Coober Pedy. Etwa die Hälfte der Bevölkerung der für ihre kostbaren Opale bekannten Stadt lebt unter der Erde. Hier ist das Leben unter Tage kein Zeichen von Armut, sondern eine pragmatische Antwort auf extreme Hitze. Temperaturen über vierzig Grad machen den Alltag an der Oberfläche zur Herausforderung. Deshalb haben viele Bewohner:innen im Laufe der Jahrzehnte ihre Häuser in den weichen Sandstein gegraben. Diese sogenannten „Dugouts“ bieten Schutz vor Hitze, Staub und Sturm. Die Eingänge zu den unterirdischen Häusern wirken unscheinbar, oft gibt es nur eine kleine Tür in einer sandigen Böschung. Dahinter liegen kühlere, helle Räume mit Fenstern, die in kleine Innenhöfe führen. Das Klima unter der Erde ist beständig und erlaubt einen Alltag, der sonst kaum vorstellbar wäre. Familien leben hier oft über Generationen, richten sich mit Möbeln ein, hängen Bilder an die Wände und kochen gemeinsam.

Coober Pedy ist ein lebendiger Ort mit Schulen, Geschäften und Restaurants – viele von ihnen ebenfalls unter der Erde. Besucher:innen übernachten in unterirdischen Hotels oder sitzen in Cafés. Längst ist nicht mehr nur der Opalabbau der wirtschaftliche Antrieb der Stadt, sondern zunehmend auch der Tourismus, der von der einzigartigen Bauweise der Stadt angelockt wird. Trotz der idyllischen Vorstellung ist das Leben in Coober Pedy aber nicht ohne Herausforderungen. Arbeitsmöglichkeiten sind begrenzt, die Infrastruktur rudimentär. Viele junge Menschen verlassen die Stadt, um anderswo nach einem komfortableren Leben und neuen Perspektiven zu suchen. Im Jahr 2025 lebt die Stadt weiterhin mit und großteils auch von ihrer ungewöhnlichen Bauweise. Ihre Zukunft bleibt ungewiss.

Diese Momentaufnahmen sind nur drei Beispiele für viele verschiedene, oft unsichtbare, Lebensrealitäten, die unter der Erdoberfläche existieren. Menschen zogen und ziehen sich aus unterschiedlichen Gründen unter die Erdoberfläche zurück. Ihre Lebensweisen zeugen von der Anpassungsfähigkeit, die unsere Spezies in Extremsituationen entwickelt. Gleichzeitig offenbaren sie aber auch die großen strukturellen und geopolitischen Probleme der Gegenwart, die leider nicht allein durch individuelles Durchhaltevermögen gelöst werden können.

Text: Lisa Frei

Dieser Text erschien erstmals in der Straßenzeitung zebra. (01.09.2025 – 01.10.2025 | 109)

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