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Umgeben von Bildern, Staffeleien, verschiedenen Farben und Skulpturen betreten wir das Atelier. Was sofort ins Auge sticht, ist die breite, vollständig bemalte Wand – in allen möglichen Farben. Die freundliche Atmosphäre hier im Raum ist gleich bemerkbar. Trotz der Ernsthaftigkeit des Themas verspürt man die positive Energie, die einen hier umhüllt.
Kunst ist seit jeher ein wichtiges Mittel, um Gedanken und Gefühle mit Hilfe von Farben und Formen auszudrücken. Die Kunsttherapie dient dabei als therapeutisches Mittel, um Menschen zu helfen, sich im schöpferischen Prozess selbst zu heilen. Doch dabei geht es nicht nur um den künstlerischen Ausdruck, sondern vor allem darum, einen Zugang zur eigenen inneren Welt zu finden. Die Kunsttherapie hat ihren Ursprung im 20. Jahrhundert, wo Kunst erstmals mit der Psychotherapie verbunden wurde. Schon der bekannte Psychologe Carl Jung erkannte, dass Kunst helfen kann, das Unbewusste zu verstehen. In den 1940er-Jahren begannen Therapeut:innen wie Margaret Naumburg, Kunst gezielt zur Heilung einzusetzen.
Heute wird Kunsttherapie weltweit praktiziert – unter anderem in den USA, Australien und auch hier in Europa – allerdings mit unterschiedlichen Ausprägungen und Schwerpunkten. In einigen Ländern gibt es bereits auf Kunsttherapie spezialisierte Praxen, in anderen steckt die Entwicklung noch in den Kinderschuhen. Doch die Anerkennung wächst stetig. Manche Studien zeigen, dass über 80 Prozent der Patient:innen von einer Verbesserung ihres Wohlbefindens berichten. Kunsttherapie wird weltweit auch immer häufiger in Schulen genutzt, um die emotionale Entwicklung von Kindern zu unterstützen.
In der Kunsttherapie hat jeder Mensch die Möglichkeit, sich selbst zu entdecken, ohne gezwungen zu sein, die eigenen Probleme in Worte zu fassen. Stattdessen wird der kreative Ausdruck – sei es durch Malerei, Musik, Tanz, Schauspiel oder andere Formen der Kunst – als Mittel und Sprache genutzt. Besonders wirksam ist diese Methode für Menschen, die Schwierigkeiten haben, ihre Gedanken und Emotionen verbal auszudrücken. Sie können ihre Erfahrungen in Bildern, Tönen oder Bewegungen darstellen und so eine neue Perspektive auf Probleme und Herausforderungen gewinnen. Die Einsatzbereiche der Kunsttherapie sind breit gefächert: Sie kann in verschiedenen Altersgruppen und bei unterschiedlichen psychischen Erkrankungen eingesetzt werden. So hilft sie etwa bei der Behandlung von Depressionen, Essstörungen, Angststörungen sowie bei somatischen Störungen und Schizophrenie. Kunsttherapie wirkt heilend, fördert das Selbstbewusstsein und hilft, das eigene Ich und die eigenen Bedürfnisse besser wahrzunehmen. Sie unterstützt dabei, negative Gedankengänge zu erkennen und zu stoppen und hilft den Menschen, eigene Fähigkeiten und Grenzen besser zu verstehen.
Besonders in therapeutischen Prozessen, die mit traumatischen Erfahrungen oder posttraumatischen Belastungsstörungen zu tun haben, wird Kunsttherapie oft als sehr hilfreich empfunden. So wurde sie beispielsweise nach dem Krieg im ehemaligen Jugoslawien in den 1990er-Jahren eingesetzt, um Zivilist:innen und Soldat:innen zu behandeln und deren Traumata zu verarbeiten. Indem traumatische Bilder oder Flashbacks kreativ aufgegriffen werden, können sie in einem sicheren Rahmen verarbeitet werden. Sie werden festgehalten und konkretisiert und anschließend gemeinsam mit dem Therapeuten oder der Therapeutin reflektiert. Dabei spielt die künstlerische Fähigkeit der Patient:innen keine Rolle – entscheidend ist allein der Ausdruck und die Entstehung der Kunst.
Aber zurück ins Atelier: Bei unserem Besuch in Bozen verschafft uns das Gespräch mit der Kunsttherapeutin Ulrike Hofmann einen lebendigen Einblick in ihre tägliche Arbeit – und zeigt, welche Kraft kreative Prozesse im therapeutischen Kontext entfalten können.
zebra.: Was ist Kunsttherapie und wie unterscheidet sie sich von anderen Therapieformen?
Ulrike Hofmann: Die Kunsttherapie ist nicht verbal. Man muss nicht unbedingt sprechen, sondern es geht mehr um die Werke, die Bilder oder das Dreidimensionale. Es ist ein Zugang zum Unbewussten, also gestaltet man intuitiv – je nachdem, wo man emotional steht. Durch die Bildsprache kann man sehr viel über sich selbst lernen. So erkennt man, wo man sich gerade befindet und was man gerade braucht.
Wie sind Sie auf diesen Job gekommen?
Ich war früher Lehrerin, bin da aber sehr an meine Grenzen gekommen. Zuerst habe ich von Arno Stern gehört. Er hat in der Nachkriegszeit angefangen mit Waisenkindern zu malen, da es sonst nicht viel gegeben hat. Er hatte auch einen Malort, wie ich ihn hier habe – mit Paletten vor der Wand, wo die Farben draufstehen und eine große Fläche, auf der man malen kann. Er hat ein neues Malkonzept – das freie Malen – entwickelt, bei dem man keine Vorlage und kein Thema bekommt und in den Prozess ganz eintauchen kann. Ich habe die Ausbildung in Paris gemacht und dann bin ich zurückgekommen und habe diesen Malort eröffnet. Dann habe ich gedacht, dass mir noch etwas fehlt – und so habe ich das Studium der Kunsttherapie absolviert.
Muss man als Patient:in auch künstlerisch begabt oder kreativ sein?
Nein, überhaupt nicht. Ich habe auch in der Psychiatrie gearbeitet, wo ganz unterschiedliche Menschen sind. Das baut man dann so auf, dass jeder mithilfe des Materials kommunizieren und sich ausdrücken kann. Es braucht keine Vorkenntnisse, man muss nicht künstlerisch begabt oder kreativ sein. Ich meine, das Künstlerische ist ja etwas Natürliches, das haben wir alle ein bisschen in uns. Und meine Aufgabe ist es, dass jeder seinen Weg findet, um sich auszudrücken.
Welche Techniken gibt es und was sagen diese aus?
Es gibt sehr viele verschiedene Techniken, wie zum Beispiel flüssige oder feste Formen, Dreidimensionales, Kollagen, Ton, Pappmache, und so weiter. Pappmache wirkt gut bei einer Essstörung, da es ein sehr leichtes Material ist, aber trotzdem immer noch der Bezug zu Materie und Masse besteht. Sollte sich ein Mensch mehr öffnen oder lockern, dann gebe ich ihm ein flüssiges Material oder Farbe. Wenn sie mehr Konsistenz brauchen, dann gebe ich ihnen vor allem feste Materialien wie zum Beispiel Kreiden und Wachsfarben oder Dreidimensionales wie zum Beispiel Ton. Da diese Materialien sehr körperlich sind, schaffen sie Zusammenhalt, Stabilität und Ausgleich.
Wer kommt zu Ihnen und mit welchen Problemen?
Kinder, Jugendliche und Erwachsene kommen in die Therapie, aber hauptsächlich arbeite ich mit Erwachsenen. Momentan kommen viele Jugendliche mit Essstörungen sowie traumatisierte und depressive Menschen, die sich einfach kreativ ausdrücken und sich selbst tiefer kennenlernen wollen. Auch Frauen, die häusliche Gewalt erfahren haben, oder Menschen, die im Gefängnis waren, kommen zu mir.
Wie ist der Ablauf einer solchen Kunsttherapie?
Man kommt und sagt: Okay, mir geht es einfach nicht gut. Man muss auch nicht immer darüber reden. Dann zeige ich das Material und die Leute entscheiden, worauf sie Lust haben und was sie anspricht. Sie dürfen dabei die unterschiedlichen Materialien ausprobieren. Dann geht man in die Richtung, die sie wählen, aber man arbeitet auch immer mit mehreren verschiedenen Materialien. Dabei begleite ich sie und helfe auch, wenn es nötig ist. Am Ende reflektieren wir das Werk zusammen und ich erfahre, wie es ihnen während der Arbeiten ergangen ist.
Wie merken Sie, dass es heilend und nicht stressig für die Patient:innen ist?
Das merkt man sofort! Es ist oftmals schon vorgekommen, dass ich ihnen etwas zudecken oder wegnehmen musste. Dann gebe ich ihnen einen neuen Auftrag. Denn oftmals kommt man in einen Wirbel oder Strudel rein, wo dann ein Trauma oder alte Erinnerungen wieder aufkommen.
Wie hoch ist die Erfolgsquote?
Das weiß ich nicht so genau und das hängt auch immer davon ab, wie tief das Problem sitzt. Wenn es etwas Pathologisches ist, dann arbeitet man auch immer zusammen mit einem Psychotherapeuten oder Arzt. Die Kunsttherapie kann auch keine Wunder bewirken. Es geht hauptsächlich immer um den Moment, in dem die Patient:innen da sind. Hier schalten sie ab und sind gedanklich nicht mehr bei ihrer Krankheit und ihren Problemen, sondern beim kreativen Arbeiten im Hier und Jetzt. Dann verbringen sie diese Stunde entspannt.
Kann man das zu Hause auch ausprobieren?
Therapeutisch nicht, aber es bewirkt auch schon viel, wenn man mit Ton oder mit Farben einfach etwas für sich macht. Aber wenn man merkt, dass während der kreativen Arbeit eine Angst aufkommt, dann braucht man eine Unterstützung.
Sind Sie beim Zeichnen oder Malen neben Ihren Patient:innen? Geben Sie ihnen Halt? Wie helfen Sie ihnen? Wie merken Sie, ob es ihnen gut geht und sie sich wohlfühlen?
Eigentlich steckt alles in jedem selbst. Meine Aufgabe ist es, eine Stütze zu sein. Denn ich weiß auch nicht genau, was jedem Einzelnen fehlt oder was er braucht. Ich biete nur einen sicheren Rahmen und bemühe mich, die Bedingungen gut zu gestalten und zu organisieren. Ich begleite sie und erkenne dann, wenn sie eine Abwechslung oder eine Pause brauchen. Denn manchmal ist es besser, wenn die Person mal aufsteht und eine Runde macht. Ich zeige der Person auch zwischendurch etwas, wie etwa neue Techniken oder andere Vorschläge.
Schaut man das Bild zum Schluss zusammen an?
Ich frage im Nachhinein, wie es ihnen während des Malens gegangen ist. War es angenehm oder unangenehm? Wie war es für dich? War es stimmig oder nicht? Schaut man das Bild an, dann fällt einem vielleicht etwas auf. Wenn man eine Therapie in der Gruppe macht, geben wir auch Feedback, danach kann man sich ein bisschen austauschen. Jeder kann sagen, was er persönlich in den Bildern der anderen sieht, weil wir alle etwas anderes in einem Bild erkennen.
Was ist für Sie selbst der wertvollste Moment in der Kunsttherapie?
Wenn ich sehe, dass es ihnen gut geht, dass sie Spaß daran haben, und dass sie es gerne machen. Wenn sie oft traurig reinkommen und fröhlich wieder rausgehen, dann weiß ich, dass es gut geklappt hat.
Wie gehen Sie mit den Lasten und Problemen Ihrer Patient:innen um?
Natürlich stoßen diese Themen auch bei meinen eigenen an. Da braucht man eine Supervision. Also redet man mit Kollegen oder einem Supervisor, der genau dafür ausgebildet ist. Ich denke, es ist überhaupt in jedem Beruf sehr wichtig, sich auszutauschen und darüber zu reden.
Finden Sie, dass die Kunsttherapie in der Gesellschaft tabuisiert ist?
Ich denke, sie ist einfach noch nicht so bekannt. Wenn man eine Umfrage machen würde, dann wüssten viele gar nicht, was Kunsttherapie eigentlich ist. Aber das ändert sich so langsam.
Ulrike Hofmann ist Kunsttherapeutin und begleitet Menschen auf ihrem kreativen Weg in ein besseres Leben. In einer offenen und wertschätzenden Atmosphäre bietet sie Raum für Ausdruck und persönliche Entwicklung. Durch künstlerische Techniken können Gefühle sichtbar gemacht und neue Perspektiven entdeckt werden.
In Zusammenarbeit mit anderen Therapeut:innen, Pädagog:innen sowie Psycholog:innen gründete sie ein Netzwerk namens „Healing Arts Experience“, bei dem vom pädagogischen und therapeutischen Arbeiten erzählt und über die vielen Facetten der Kunsttherapie informiert wird. Zudem bietet die Organisation zahlreiche Möglichkeiten, die eigene Kreativität und Fantasie zu entfalten, in Form von Kunst, Musik und Schauspiel.
Autorinnen des Artikels und des Interviews: Laura Vander Plancken & Lorena Baldissera & Barbara Gamper. Der Text erschien erstmals in der Straßenzeitung zebra. (30.04.2025 – 02.06.2025 | 106)
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