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Veröffentlicht
am 02.08.2024
LebenStraßenzeitung zebra.

Schiffbrüchiges Europa

Veröffentlicht
am 02.08.2024
Jedes Jahr sterben tausende Menschen im Mittelmeer bei dem Versuch, die Küsten der Europäischen Union zu erreichen. Doch die EU und ihre Mitgliedsstaaten setzen weiterhin auf Abschreckung, wälzen die Verantwortung auf Drittstaaten ab und behindern die Such- und Rettungsdienste von Nichtregierungsorganisationen.
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(c) Alessio Giordano_1 (1)
Bei einem Schiffsunglück vor der Küste von Cutro kamen 2023 mehr als 90 Menschen ums Leben.

Am 17. Juni entdeckten französische Tourist:innen, deren Segelboot in der Nähe der kalabrischen Küste im Ionischen Meer segelte, ein fast zur Gänze gesunkenes Boot. Zwölf Migrant:innen klammerten sich mit letzter Kraft an Teile des sinkenden Wracks. Sie waren ein Bruchteil der mehr als 70 Männer, Frauen und Minderjährigen, die wenige Tage zuvor, am 10. Juni, von Bodrum (Türkei) aus zur mehrtägigen Überfahrt in Richtung italienische Küste aufgebrochen waren. Elf der zwölf Menschen an Bord überlebten die anschließende Seenotrettung. 24 Personen gelten als vermisst. 41 Menschen wurden von Flugzeugen, die das Meer von oben absuchten, leblos aus dem Wasser geborgen.

Der Schiffsbruch fügt sich in die Reihe dramatischer Ereignisse im Mittelmeer, die durch die fehlenden Möglichkeiten für eine sichere und geregelte Migration, sowie durch die Grenzpolitik der EU und ihrer Mitgliedsstaaten begünstigt werden. Mit der Schaffung des Schengen-Raums in den 1990er-Jahren wurden die Möglichkeiten der legalen Einreise aus Drittstaaten in die EU eingeschränkt und der Grenzschutz an den EU-Außengrenzen verstärkt. Die Mittelmeerrouten, die von Nordafrika und der Türkei über das Meer nach Italien, Spanien, Malta, Griechenland, Zypern und Bulgarien führen, sind seitdem nicht die einzigen, aber die sichtbarsten und tödlichsten Migrationsrouten.

Mehr als 30.000 gelten als im Mittelmeer ertrunken oder verschollen.

Nach dem Schiffsunglück vor der italienischen Insel Lampedusa im Jahr 2013, bei dem mindestens 368 Menschen ums Leben kamen, die über die zentrale Mittelmeerroute die italienische Küste erreichen wollten, hat das Missing Migrants Project (MMP) begonnen, Überquerungsversuche, Todesfälle und Vermisste zu dokumentieren und eine Datensammlung aufzubauen. Seitdem wurden mehr als 30.000 Menschen gezählt, die auf dem Weg nach Europa starben oder verschwanden. Eine Zahl, die in der Realität weit höher liegen dürfte, denn viele Schiffbrüche werden gar nicht registriert: „Schiffbrüchige Boote verschwinden ohne Überlebende im Mittelmeer und werden somit nicht dokumentiert“, so das MMP. Allein an der libyschen Küste, einem der wichtigsten Abfahrtsländer, wurden Körperteile von Hunderten von Menschen gefunden, die mit keinem registrierten Unglück in Verbindung gebracht werden konnten. Das MMP schätzt die Dunkelziffer auf bis zu 12.000 Menschen.

Allein 2023 sind im Schnitt acht Menschen am Tag im Mittelmeer verstorben oder verschollen. Eine Zahl, die seit Beginn der Datenaufzeichnung exponentiell ansteigt und vor allem die zentrale Mittelmeerroute von der nordafrikanischen Küste nach Italien und Malta betrifft. Diese gilt heute als die tödlichste Migrationsroute der Welt, sowohl wegen der Länge der Überfahrt als auch wegen der immer gefährlicheren Schmugglerrouten, der Lücken im Such- und Rettungssystem und der Einschränkungen der lebensrettenden Arbeit von Nichtregierungsorganisationen.

Auch wenn es schwierig ist, eine direkte Kausalität für den Anstieg der Todesfälle nachzuweisen, machen Menschenrechtsorganisationen politische Entscheidungen der EU und ihrer Mitgliedstaaten für die hohe Zahl der Todesfälle verantwortlich.

Auch wenn es schwierig ist, eine direkte Kausalität für den Anstieg der Todesfälle nachzuweisen, machen Menschenrechtsorganisationen politische Entscheidungen der EU und ihrer Mitgliedstaaten für die hohe Zahl der Todesfälle verantwortlich. So wurden zum einen die Such- und Rettungsdienste der einzelnen Mitgliedsstaaten, allen voran die italienische Operation „Mare Nostrum“, die nach dem Bootsunglück vor Lampedusa 2013 das Meer patrouillierte, erfolgreich humanitäre Hilfe leistete und Schleppernetze aufdeckte, eingestellt: Die hohen Kosten der Operation, innenpolitischer Druck gegen Migrationsbewegungen und die Verweigerung finanzieller Unterstützung durch andere EU-Staaten führten dazu, dass „Mare Nostrum“ durch Operationen im Auftrag der Europäischen Agentur für die Grenz- und Küstenwache (Frontex) ersetzt wurde.

Im Gegensatz zu „Mare Nostrum“ zielen diese Operationen nicht darauf ab, so viele Menschen wie möglich zu suchen und zu retten, sondern bedienen sich einer Rhetorik, nach der Such- und Rettungsaktionen Migrationsbewegungen fördern und Schlepperbanden nützen würden. Obwohl es keine wissenschaftlichen Belege dafür gibt, dass Such- und Rettungsdienste illegale Migration begünstigen, wurden die Such- und Rettungsdienste der EU und der italienischen Küstenwache eingeschränkt und weitgehend durch die polizeiliche Überwachung von Schleuserrouten ersetzt. Diese haben zwar im Extremfall die Möglichkeit, Menschen in Seenot zu helfen (nach Angaben des italienischen Innenministeriums wurden 2023 ein Viertel der Rettungseinsätze von den Ordnungskräften durchgeführt), verfolgen aber eine andere Zielsetzung. Neben der Beschränkung der Such- und Rettungsdienste durch die EU und ihre Mitgliedstaaten zielen die politischen Entscheidungen der letzten Jahre darauf ab, die Migration durch die Zusammenarbeit mit den Regierungen der Abfahrtsländer zu stoppen.

Die Schlepperrouten werden gefährlicher und immer mehr Menschen werden unter gravierenden Menschenrechtsverletzungen von Tunesien über die libysche Grenze abgeschoben.

So hat die italienische Regierung mit Unterstützung der Europäischen Union 2017 ein Abkommen mit Libyen und 2023 ein weiteres mit der tunesischen Regierung geschlossen. Mit den dafür bereitgestellten Geldern sollen die Länder ihre Küsten besser überwachen und so die Migrationsbewegungen zwar nicht an ihrem Ursprung, aber vor Erreichen der internationalen Gewässer stoppen. Tatsächlich ist die Zahl der Menschen, die an den italienischen Küsten ankommen, seit dem kürzlich unterzeichneten Abkommen deutlich zurückgegangen (mehr als die Hälfte startete die Mittelmeerüberquerung 2023 in Tunesien). Laut Menschenrechtsorganisationen wie „Amnesty International“ sind die Gefahren für Migrant:innen damit aber nicht zurückgegangen, im Gegenteil: Die Schlepperrouten werden gefährlicher und immer mehr Menschen werden unter gravierenden Menschenrechtsverletzungen von Tunesien über die libysche Grenze abgeschoben.

Zu guter (?) Letzt wurden seit 2015 auch die Such- und Rettungsdienste von Nichtregierungsorganisationen stark eingeschränkt. Mehrere EU-Mitgliedstaaten, darunter Italien, gehen juristisch gegen NGOs vor, denen vorgeworfen wird, illegale Migration zu begünstigen. Zudem werden praktische Hürden aufgebaut, die die Arbeit der humanitären Organisationen behindern: So sieht das nach dem dramatischen Schiffsunglück im Februar 2023 erarbeitete Dekret, das als „decreto Cutro“ bekannt wurde, vor, dass NGOs nach einer Rettung auf See direkt und ohne Zwischenstopp den ihnen zugewiesenen Hafen ansteuern müssen. Das bedeutet, dass sie auf dem Weg dorthin keine weiteren Rettungseinsätze durchführen dürfen. Die Entscheidung, welchen Hafen die Schiffe anlaufen müssen, liegt in den Händen der Regierung, die in den letzten Monaten weit entfernte Häfen wie Ravenna oder Genua zugewiesen hat. Laut einem Bericht von „SOS Humanity“ wurden durch das Dekret und die Auswahl der Häfen allein im letzten Jahr 374 Tage verschwendet, die für die Rettung von Menschenleben hätten genutzt werden können.

Text: Valentina Gianera

Dieser Text erschien erstmals in der Straßenzeitung zebra. (01.08.2024 – 01.09.2024 | 98)

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