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Veröffentlicht
am 12.12.2016
LebenStraßenzeitung zebra.

Parallelwelt unter Ölzweigen

Veröffentlicht
am 12.12.2016
Sie kommen als billige Arbeitskräfte zur Olivenernte und leben auf engstem Raum in einer Zeltstadt: Wie Erntehelfer in Italien ausgebeutet werden.
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„Ti sembra di immergerti nell’Africa“, sagt Patrizia, die neben uns im Auto sitzt. Wir biegen in eine Seitenstraße ein: Links und rechts ist sie von Gestrüpp und Müll gesäumt. Ab und zu zeigt sich ein streunender Hund, ansonsten regt sich nichts. Es ist Mitte August und wir befinden uns am Stadtrand von Campobello di Mazara auf Sizilien. Seit nunmehr 20 Jahren kommen zwischen September und Dezember über tausend Menschen, die ursprünglich aus verschiedenen afrikanischen Ländern nach Italien immigrierten, hierher zur Olivenernte.

Während der Erntezeit leben die billigen Arbeitskräfte auf engstem Raum in Zelten und improvisierten Hütten – in einer Zeltstadt. Für Campobello sind die Erntehelfer zu einem Wirtschaftsfaktor geworden: Sie liefern für die Betriebe die benötigte Arbeitskraft und gleichzeitig kaufen sie in den Geschäften der Stadt das, was sie während ihres Aufenthaltes brauchen. Patrizia hat im Jahr 2012 gemeinsam mit anderen Freiwilligen das Kollektiv „LibertArea“ gegründet, das sich gemeinsam mit der Anti-Mafia-Organisation „Libera“ als erstes für die arbeitenden Migranten eingesetzt hat.

„Es war schrecklich hier, es gab keine Sanitäranlagen, kein fließendes Wasser und die Stadtgemeinschaft hat diese Menschen jahrelang einfach ignoriert“, sagt sie und deutet durch das Autofenster auf einen Olivenhain. Erst als 2013 ein junger Senegalese bei der Explosion einer Gasflasche ums Leben kam, richtete sich das Interesse der Öffentlichkeit auf die Situation der Erntehelfer. Auf ständiges Drängen von „LibertArea“ wurde 2014 das Gelände einer konfiszierten Ölfabrik für die Zelte der Arbeiter zur Verfügung gestellt. Als Andenken an den verstorbenen Senegalesen wurde das Camp „Ciao Ousmane“ genannt. Dort gibt es heute rudimentäre Sanitäranlagen, Zugang zu Strom und Unterstützung durch Freiwillige. Einige Stunden täglich ist das Rote Kreuz vor Ort und bietet Erstversorgung.

Am Ende der Straße stehen zwei halb verfallene Häuser. Aus der Ferne können wir Menschen erkennen. Vor einem der Häuser befindet sich eine Art Matratzenlager, daneben steht ein Gaskocher. Als wir aus dem Auto steigen, kommen ein paar Männer auf uns zu. Einer von ihnen spricht uns an: Er heißt Moussa und kommt aus dem Senegal. Von ihm erfahren wir, dass derzeit um die 30 Männer aus verschiedenen afrikanischen Ländern hier leben. Sie hatten nach der letzten Olivenernte beschlossen, in Campobello zu bleiben. Ab und zu finden sie auch außerhalb der Erntezeit Arbeit in der Landwirtschaft. „Entrate!“, lädt Moussa ein. Im Haus ist es dämmrig. Die Einrichtung besteht aus einer Ansammlung von noch brauchbarem Sperrmüll. „Wollt ihr zum Essen bleiben?“, fragt Moussa und grinst. In der Hand hält er eine Packung Hähnchenkeulen. Die Männer leben hier seit Monaten ohne fließendes Wasser, ohne Strom, ohne Toilette. Zur Bevölkerung Campobellos hat keiner von ihnen Kontakt, ab und zu kommen ein paar Freiwillige mit Lebensmittelspenden vorbei.

Moussa und die meisten anderen Erntehelfer haben nicht erst vor Kurzem ihre Heimat verlassen: Sie leben schon seit Jahren in Italien, viele haben eine reguläre Aufenthaltsgenehmigung. Sie sprechen Italienisch, arbeiten und haben ihre Wohnungen und Familien in anderen Städten des Landes. Die Landwirtschaft ist einer der wenigen Sektoren, in dem diese Menschen relativ schnell Arbeit finden. Dafür nehmen sie Ausbeutung und ständiges Umherziehen während der Saison in Kauf. Laut Gesetz müssten Grundbesitzer ihren Erntehelfern eine Unterkunft bieten, doch in den seltensten Fällen wird das gemacht. So entstand die Zeltstadt von Campobello und in Folge das Camp „Ciao Ousmane“.

Eine Zeltstadt entsteht

Es ist Anfang September. In wenigen Wochen werden die ersten Erntehelfer ihr Lager im Camp „Ciao Ousmane“ aufschlagen. Noch wurde es nicht geöffnet. Als wir Moussa und die anderen Männer besuchen, hat sich die Umgebung wieder deutlich verändert: Zwischen den beiden Häusern stehen nun zwei Zeltpavillons, ein dritter wird gerade aufgebaut. Es sind viel mehr Menschen vor Ort. Die meisten von ihnen sind erst in den vergangenen Tagen angekommen und haben irgendwo im Gestrüpp ihre Zelte aufgebaut – genauso wie vor drei Jahren, als es noch kein Camp „Ciao Ousmane“ gab.

In einem der Pavillons köchelt Fleisch in einem großen Topf. Anlässlich des Festes zu Ehren eines religiösen Führers der Mouriden, haben die Arbeiter Geld zusammengelegt und zwei Schafe gekauft. Gemeinsam wollen sie beten und essen und so ein Stück Normalität in ihren Alltag in Campobello bringen. Viele dieser Männer kommen schon seit Jahren zur Ernte. Sie beklagen, dass das Camp noch nicht offen ist. Sie wissen, dass in den nächsten Tagen mehr Menschen kommen werden. „Wir haben kein Wasser, keinen Strom, kein Klo – nichts!“, sagt Moussa. Er ist besorgt: „Vorher war es okay für uns hier im Haus, wir hatten zwar weder Strom noch Wasser, aber bei 30 Menschen schafft man das irgendwie. Jetzt wird es katastrophal.“

Überall spürt man den Frust und die Angst davor, dass sich die Missstände der Anfangszeit wiederholen könnten. „Es ist, als sei unser ganzer Einsatz für das Camp in den vergangenen Jahren umsonst gewesen. Die Unterstützung von institutioneller Seite lässt auf sich warten“, sagt Angelo, einer der Freiwilligen. Die Enttäuschung steht ihm ins Gesicht geschrieben. Er schüttelt den Kopf und wischt sich mit dem Handrücken den Staub von den Wangen.

In einem der zahlreichen Zelte wohnt Kaba aus Nigeria. Er streckt seinen Kopf aus einem orangefarbenen Zweimannzelt und sieht uns mit wachen Augen an: „Ich bin zum ersten Mal hier“, sagt er. „In Apulien habe ich ein Geschäft, im Sommer verkaufe ich Souvenirs. Im Winter verdiene ich damit aber nichts. Wenn ich gewusst hätte, wie es hier ist, wäre ich nicht gekommen“, sagt er mit zittriger Stimme. Er ahnt, dass es noch schlimmer werden wird.

Täglich kommen nun 30 bis 40 Erntehelfer dazu. Schon nach wenigen Tagen ist die Zahl der Zelte dermaßen gestiegen, dass man die Zeltstadt nicht mehr überblicken kann. Um die Zelte zu stabilisieren, nutzen die Erntehelfer Steine oder Sperrmüll, den sie aus der Umgebung herbeitragen. Der Müll häuft sich, die hygienischen Bedingungen sind besorgniserregend. Es riecht nach Verbranntem. Die zwei Feuerstellen unter den Pavillons reichen längst nicht mehr aus. Zwischen den Zelten kochen die Menschen nun auf Gaskochern oder über offenem Feuer. Gegen Abend schalten die Männer ihre kleinen Stromaggregate ein. Die beiden Hauptzelte werden beleuchtet. Die Handys können dort aufgeladen werden.

Die Stimmung trübt sich

Es ist Abend und die Landwirte aus der Umgebung sind gekommen, um sich nach Erntehelfern umzusehen. Mit Autos oder Traktoren fahren sie bis zur Zeltstadt und suchen sich die Männer aus. Schnell bildet sich um sie herum eine Traube von Menschen: Jeder will seine Arbeitskraft verkaufen und sich für den kommenden Tag ein paar Euro sichern. Es wird laut verhandelt und gestritten. Nicht alle sind erfolgreich, viele werden auch morgen nichts verdienen. Im ersten Jahr des Bestehens von „Ciao Ousmane“ startete die Organisation „LibertArea“ gemeinsam mit einigen Rechtsanwält*innen eine Kampagne, um die Erntehelfer über ihre Rechte aufzuklären. Daraufhin schlossen sich die Arbeiter zusammen und forderten von ihren Arbeitgebern reguläre Verträge. Die Bezahlung der Erntehelfer ist nach wie vor alles andere als fair: Gute Arbeiter werden in Tagespauschalen zu 30 bis 40 Euro bezahlt, andere verdienen 3 bis 4 Euro pro Kiste geernteter Oliven.

„Die Polizei kommt, kontrolliert unsere Ausweise und lässt uns unter diesen unmenschlichen Bedingungen zurück. Ich würde kein Tier so behandeln.“

„Mein Vertrag beläuft sich auf einige Stunden, aber das Datum wird erst im Falle einer Kontrolle eingesetzt“, erklärt Osaze, einer der Arbeiter. Neben einigen Freiwilligen und den Landwirten kommen auch die Carabinieri gelegentlich vorbei. „Ich habe dem Maresciallo erzählt, wie die Bedingungen hier sind. Er hat es mit eigenen Augen gesehen. Als wir ihn baten, den Bürgermeister um die Öffnung des Camps zu bitten, sagte er nur, dass das nicht seine Aufgabe sei“, sagt Osaze. Der junge Mann ist schon seit einigen Wochen hier, die Freiwilligen kennen ihn und quatschen und scherzen öfters mit ihm. Jetzt ist seine Miene ernst, er ist frustriert: „Die Polizei kommt, kontrolliert unsere Ausweise und lässt uns unter diesen unmenschlichen Bedingungen zurück. Ich würde kein Tier so behandeln.“

Die Carabinieri kommen nicht nur, um die Ausweise der Arbeiter zu kontrollieren. In der Vergangenheit ereigneten sich Vorfälle, bei denen Arbeiter bedroht und verletzt wurden. Der bisher schlimmste passierte im letzten Jahr: Eines Abends näherte sich dem Camp ein dunkles, schnelles Auto und jemand warf eine Flasche mit ätzender Säure aus dem fahrenden Wagen. Beinahe wäre ein Arbeiter schwer verletzt worden. Damals verlief alles noch einmal glimpflich, doch die Verunsicherung blieb für viele Wochen bestehen. In diesem Jahr erschwert die schwache Ernte die Situation zusätzlich: Erst wenige Männer haben eine regelmäßige Arbeit gefunden. Die Stimmung unter den Bewohnern der Zeltstadt ist schlecht. Immer häufiger sitzen die Arbeiter im Kreis und diskutieren heftig. Auch beim Aufbau der Zelte kommt es zu Meinungsverschiedenheiten, um die wenigen freien Plätze wird lautstark gestritten. Der Platz wird knapp, die Verzweiflung wächst.

Im Camp „Ciao Ousmane“

Anfang Oktober besuchen wir das Gelände der alten Olivenölfabrik, wenige Tage bevor dort das Camp „Ciao Ousmane“ geöffnet wird. Das Areal um das zweistöckige Gebäude ist asphaltiert und von hohen Zäunen umgeben. Das schwere Eisentor ist noch geschlossen und bis auf ein paar Straßenhunde ist niemand hier. Auf dem Gelände türmt sich Sperrmüll: alte Kühlschränke, Kinderwägen, Möbel. Sie wurden von der Gemeinde den Sommer über hier deponiert.

„Hier wird das Restaurant der Tunesier stehen, dort die Zelte der Sudanesen”, erklärt Patrizia, während sie durch das noch leere Camp führt. Jedes Jahr entstehen auf dem Gelände mehrere „Restaurants”, die aus Brettern zusammengezimmert werden und in denen die Erntehelfer nach der Arbeit Speisen aus ihren Herkunftsländern essen können. Daneben gibt es auch einige kleine „Geschäfte“, die von den Migranten betrieben werden. Dort können die Arbeiter gebrauchte Schuhe, Kleider und einige Lebensmittel kaufen. Während der Ernte entwickelt sich so eine eigene kleine Mikroökonomie.

Am Rande des Areals steht eine längliche Holzbaracke ohne Dach. Im Inneren reihen sich Plumpsklos aneinander, entlang der Wand gegenüber hängt ein langer Schlauch mit kleinen Öffnungen für Wasser. Schmale Abtrennungen aus zusammengenagelten Brettern sind mit zerschlissenen Planen verhängt: die Duschen. Auf dem Boden liegt Plastikmüll. Momentan funktionieren weder die Toilettenspülungen noch die Kaltwasser-Duschen. „Diese ‚sanitären Anlagen‘ hat die Gemeinde vor einigen Jahren zum stolzen Preis von 20.000 Euro bauen lassen“, sagt Patrizia. Sie schüttelt den Kopf und geht weiter. Im hinteren Teil des Geländes gibt es eine überdachte Fläche. Dort entzünden die Erntehelfer für gewöhnlich ihre Kochfeuer. Der Platz ist mit vermoderten Matratzen vollgestopft, aus einem kaputten Schlauch fließt Wasser.

Das Hauptgebäude der Fabrik besteht aus einem zweistöckigen Haus. Dort wird das Ambulatorium des Roten Kreuzes installiert, sobald das Camp geöffnet hat. Auch die Schlafplätze der beiden freiwilligen Betreuer, die rund um die Uhr im Camp sind, befinden sich im Haus. Auf dem oberen Balkon des Gebäudes hängen Kinderkleider auf einer Wäscheleine. An der Mauer neben der Eingangstür ist ein Graffiti: eine schwarze Friedenstaube. Wir klopfen. Eine hochschwangere Frau öffnet die Tür: „Seid ihr von der Gemeinde?“, fragt sie. In ihren Augen blitzt Angst auf. „Bitte schickt uns nicht weg, wir können sonst nirgends hin!“, fleht sie.

Die Frau heißt Rosa. Sie wurde vor mehreren Monaten mit ihren beiden kleinen Kindern von der Gemeinde hierher gebracht. Die Familie konnte sich keine Wohnung mehr leisten. Seitdem hat sich niemand mehr um sie gekümmert. Sie weiß, dass demnächst die Erntehelfer kommen werden und befürchtet, bald auf die Straße gesetzt zu werden. Nur mit Mühe können wir ihr klar machen, dass wir nicht hier sind, um sie zu vertreiben. Besorgt deutet sie auf ihre Kinder, die zwischen alten Batterien, Metallsplittern und Drähten im Müll spielen: Auch sie hat man weit weg von den Augen der Öffentlichkeit deponiert und vergessen.

Von Verena Walter und Simon Lauer

Der Text erschien erstmals in der 23. Ausgabe von „zebra.”, Dezember 2016.

Verena Walther und Simon Lauer studieren Kulturanthropologie/Europäische Ethnologie in Innsbruck und Göttingen. Im vergangenen Herbst waren sie zu Recherchezwecken in Campobello di Mazara und haben dort die Situation der Erntehelfer verfolgt. Die Lage vor Ort hat sie sehr beeindruckt. Für zebra. haben sie darüber diese Reportage verfasst. Ein Tagebuch der Reise und weitere Informationen zum Thema gibt es auf ihrem Blog.

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