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Veröffentlicht
am 27.03.2024
Leben

Kein Bock auf Mitleid

Veröffentlicht
am 27.03.2024
Blutüberströmte Kinder unter den Trümmern eines Hauses, verzweifelte Familien auf der Flucht, ein Panzer voller bewaffneter Soldaten. Mit dem erneuten Aufflammen des Nahostkonflikts gehören schockierende Bilder und Nachrichten in den letzten Monaten mehr denn je zum Medienalltag. Doch viele Menschen können und wollen nichts mehr von Konflikten, Zerstörung und Elend hören. Sie schalten ab – den Fernseher, den Computer und ihre Gefühle. Sie sind „mitleidsmüde“.
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Mitleidsmüdigkeit („compassion fatigue“) bezeichnet in der Psychologie einen Zustand emotionaler Erschöpfung durch Stress. Betroffene sind über einen längeren Zeitraum dem Leid anderer ausgesetzt und entwickeln ein Gefühl der Hilflosigkeit und Ohnmacht. In den meisten Fällen äußert sich „compassion fatigue“ in einem Gefühl der Entfremdung von anderen Menschen und der Welt sowie in Schwierigkeiten, Mitgefühl zu empfinden. Betroffene sind leichter reizbar oder irritiert und können in Diskussionen weniger objektiv sein. Häufig treten auch Konzentrationsschwierigkeiten oder psychosomatische Beschwerden wie Kopfschmerzen, Bauchschmerzen oder Übelkeit auf. In manchen Fällen können sogar depressionsähnliche Symptome auftreten, die Betroffenen fühlen sich innerlich taub oder sehen keinen Sinn mehr im Leben. Ursprünglich wurde die Mitleidsermüdung im Zusammenhang mit Gesundheitsberufen beschrieben.

Mittlerweile sind sich Wissenschaftler:innen jedoch einig, dass es sich um ein häufigeres Phänomen handelt. Zwar sind Menschen, die in ihrem Berufsalltag mit dem Leid anderer konfrontiert sind, häufiger betroffen, aber auch die Familiengeschichte, die Lebenssituation oder der Medienkonsum spielen eine Rolle. In einer Zeit, in der Nachrichten rund um die Uhr verfügbar sind, fällt es manchen schwer, sich eine Auszeit vom Weltgeschehen zu gönnen. In der Medienforschung wird Mitleidsmüdigkeit häufig als Folge einer Übersättigung mit negativen Nachrichten beschrieben.

„Überflutet von Bildern, die uns früher schockiert und empört haben, verlieren wir unsere Reaktionsfähigkeit. Mitgefühl, das bis an die Grenzen ausgereizt wird, führt zu Taubheit.“

Susan Sontag

Die Schriftstellerin Susan Sontag schreibt in ihrem 2003 erschienenen Buch „Regarding the Pain of Others“: „Überflutet von Bildern, die uns früher schockiert und empört haben, verlieren wir unsere Reaktionsfähigkeit. Mitgefühl, das bis an die Grenzen ausgereizt wird, führt zu Taubheit.“ Tatsächlich ist es ein natürlicher kognitiver Prozess, dass ein Reiz, dem man über einen längeren Zeitraum wiederholt ausgesetzt ist, als weniger aufregend empfunden wird. Eine große Menge negativer Informationen führt daher zwangsläufig zu emotionaler Abstumpfung. Die Medien greifen dementsprechend zu gefühlt immer schockierenderen Nachrichten, um die Leser:innen emotional zu erreichen – ein Teufelskreis. Aus evolutionspsychologischer Sicht ist es von Vorteil, nicht zu viel Mitleid zu empfinden. Denn nur eine gewisse emotionale Distanz ermöglicht es, einen kühlen Kopf zu bewahren und über Hilfe nachzudenken.

Was tun?
Doch was können Journalist:innen tun, um Mitleidsmüdigkeit bei ihrem Publikum vorzubeugen? Laut Medienwissenschaftlerin Susan Moeller ist es wichtig, sich nicht nur auf große, negative Ereignisse zu konzentrieren, sondern auch individuelle Geschichten zu erzählen. Da oft nur besonders schlimme Ereignisse in die Medien gelangen, entsteht ein verzerrtes Bild der Welt. Durch einen Fokus auf das Positive kann man den Leser:innen hingegen das Gefühl geben, dass es Hoffnung gibt. Auch für Betroffene gibt es Strategien, Mitleidsmüdigkeit zu bewältigen: Zunächst sollte man sich eine Auszeit von Nachrichten und sozialen Medien gönnen und sich Zeit für Aktivitäten nehmen, die man als erfüllend und sinnvoll empfindet. Auch Achtsamkeitsübungen können helfen, den Fokus auf positive Aspekte und auf die Bereiche des Lebens zu lenken, in denen man Kontrolle und Einfluss hat.

Wenn die Verzweiflung zu groß wird und die Symptome anhalten, sollte man sich aber auch nicht scheuen, professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen.

Zudem ist es ratsam, sich Hilfe bei Freund:innen, Familienangehörigen oder anderen Betroffenen zu suchen, sich auszutauschen und gemeinsam Bewältigungsstrategien zu entwickeln. Wer sich allein fühlt, kann sich auch Organisationen oder Gruppen anschließen, die konkrete Ziele und Pläne haben. Wenn die Verzweiflung zu groß wird und die Symptome anhalten, sollte man sich aber auch nicht scheuen, professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen. Der Friedensnobelpreisträger Elie Wiesel sagte einmal: „Das Gegenteil von Liebe ist nicht Hass, sondern Gleichgültigkeit. (…) Und das Gegenteil von Leben ist nicht der Tod, sondern die Gleichgültigkeit zwischen Leben und Tod.“ In diesem Sinne gilt es, trotz Mitleidsmüdigkeit und negativen Nachrichten, die Gleichgültigkeit nicht Überhand nehmen zu lassen und gemeinsam nach Lösungen zu suchen.

Text: Anna Palmann

Dieser Text erschien erstmals in der Straßenzeitung zebra. (01.03.2024 – 01.04.2024 | 93)

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