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Lucia Baumgartner
Veröffentlicht
am 18.12.2023
LebenSpielsucht

„Gian mor suchten…“

Veröffentlicht
am 18.12.2023
Die Zahl der computerspielsüchtigen Kinder und Jugendliche schießt in die Höhe. Wann spricht man aber überhaupt von Sucht? Und wer hat Schuld, wenn sich das Kind nicht mehr anderweitig ablenken kann?
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Die Gaming-Industrie boomt. Und mit ihr die Fälle von Computerspielsucht. Davon weiß auch Oskar Giovanelli, Psychologe und Psychotherapeut beim Suchtdienst YoungHands, zu berichten. Jeden Tag versucht er Jugendliche, welche mit verschiedenen Suchtphänomenen kämpfen, wieder auf die richtige Bahn zu lenken. Auch Robin (Name wurde geändert) sitzt immer wieder mal auf der blauen Couch in der Duca D‘Aosta Straße in Bozen bei YoungHands. Ein Richter hat beschlossen, dass sein Computer verschwinden muss.

„Was es aber am Ende mit mir gemacht hat, war es nicht wert“
Als Robin das erste Mal mit dem Nintendo seiner Schwester spielt, ist er fünf Jahre alt. Später kauft ihm seine Mutter Computerspiele, weil sie denkt, dass er sich damit die Zeit besser vertreiben kann. Sein Computer steht im Zimmer, stolz berichtet er, dass er „einer der besten 100 Gamer in Europa“ ist. Am liebsten spielt er Adventure-Games, Horror-Spiele, Shooter oder Spiele, bei denen er gegen seine Freunde im Netz antreten kann. Normalerweise hat Robin sechs bis acht Stunden am Tag vor seinem Computer verbracht, manchmal auch mehr. Als er nicht mehr die Schule besuchte, wurde ihm aufgrund eines richterlichen Beschlusses der Computer weggenommen. In der Anfangsphase stand ihm seine Freundin, die er durch das Gamen kennengelernt hat, zur Seite und konnte ihn eine Zeit lang gut ablenken. „Bereits nach kurzer Zeit wollte ich aber wissen, wo mein Computer war“, meint der 17-Jährige. Robin hat beim Spielen sehr oft das Gefühl genossen, überlegener und besser als andere Spieler:innen zu sein. Er konnte beim Computerspielen vor seinen alltäglichen Problemen flüchten, wurde wieder locker und fühlte sich besser. Er weiß inzwischen, dass er sich eine andere Beschäftigung suchen sollte, damit er sich in der Freizeit auch dann vom Computer ablenken kann, wenn seine Freundin einmal nicht da ist. Doch Robin ist süchtig. Süchtig nach dem Spiel. Und einfach mal so den Stecker ziehen, geht nicht mehr. Daher besucht er immer wieder einmal Oskar Giovanelli, seinen Psychotherapeuten.

Während der Corona-Pandemie ist das Computerspielen explodiert. Viele junge Menschen sind in die virtuelle Welt geflüchtet und haben den Weg in die Realität zurück nicht mehr gefunden.

Lukas Gasser

Flucht in eine virtuelle Welt
Das Ambulatorium YoungHandswurde 2019 von Sandra Gurschler und Oskar Giovanelli ins Leben gerufen. Seitdem betreut ein fünfköpfiges Team, bestehend aus zwei Psycholog:innen, zwei Erzieher:innen und einer Sozialassistentin, junge Menschen im Alter von 12 bis 25 Jahren mit verschiedenen Suchverhalten. Die internen Zahlen des Suchtdienstes zeigen: Dieses Team hat alle Hände voll zu tun. Seit der Gründung hat sich die Zahl der Patient:innen verdreifacht: 39 waren es zu Beginn, drei Jahre später, im Jahr 2022, stieg die Zahl auf 122. Im Jahr 2023 ist die Zahl der Betroffenen konstant geblieben. Lukas Gasser ist Sozialpädagoge bei YoungHands und meint: „48 Prozent dieser 122 Patient:innen sind Gamer. Ich sage bewusst Gamer, weil Gaming eher ein Jungs-Phänomen ist. Während der Corona-Pandemie ist das Computerspielen explodiert. Viele junge Menschen sind in die virtuelle Welt geflüchtet und haben den Weg in die Realität zurück nicht mehr gefunden.“ Die andere Hälfte der Betroffenen, welche ins Ambulatorium kommt, kämpft mit anderen Suchtphänomenen wie Alkohol, Drogen oder Social Media.

Die steigende Tendenz der Problematik
Eine der häufigsten Fragen, mit der Giovanelli und sein Team konfrontiert wird, ist folgende: Wann ist ein Kind süchtig, wie lange darf es den Computer pro Tag nutzen? Der Psychotherapeut antwortet darauf meistens: „Leitln, ich habe hier Jugendliche sitzen, die 14 Stunden am Tag vor dem Computer sitzen und in Plastiksäcke scheißen, weil sie keine Zeit haben, aufs Klo zu gehen. Nur damit das Ausmaß klar wird.“ Dass überhaupt eine Computerspielsucht diagnostiziert werden kann, ist noch nicht lange so. Erst im Januar 2019 hat die Weltgesundheitsorganisation WHO die Computerspielsucht offiziell als psychische Erkrankung anerkannt. Giovanelli sagt: „Wir haben bereits bei der Gründung gemerkt, dass es eine steigende Tendenz bei dieser Problematik gibt. Da wir aber ein sanitärer Dienst und von klinischen Bildern abhängig sind, konnten wir erst ab jenem Zeitpunkt und mit klaren diagnostischen Kriterien von Computerspielsucht reden.“

Nur weil sich ein Kind drei Tage lang die Nächte um die Ohren schlägt und sich mit seinem Computer im Zimmer verschanzt, hat es noch lange keine Computer- oder Internetsucht.

Oskar Giovanelli

Was Giovanelli noch anmerkt, ist, dass Jugendliche vor dem 18. Lebensjahr generell nicht mit Suchtdiagnosen abgestempelt werden sollten: „Oft handelt es sich um pubertäre Phasen: Es kann sein, dass Jugendliche monatelang täglich Skateboard fahren und sich für nichts anderes mehr interessieren, genauso wie sie monatelang kiffen, und dann von einem Moment auf den anderen damit aufhören, weil sie das Interesse verlieren. Bei harten Drogen, wie zum Beispiel Heroin verhält es sich natürlich anders.“ Erst wenn ein bestimmtes Verhalten über zwölf Monate andauert und mindestens ein wichtiger, alltäglicher Lebensbereich wie zum Beispiel die Schule, die Familie, die Arbeit oder die Freunde vernachlässigt wird, kann man von Sucht sprechen. Diese allgemeinen Diagnosekriterien gelten auch für andere Süchte. Der Psychotherapeut nennt ein Beispiel: „Nur weil ein Mensch depressives Verhalten zeigt und eine Woche lang mies drauf ist, hat er noch lange keine Depression. Und nur weil sich ein Kind drei Tage lang die Nächte um die Ohren schlägt und sich mit seinem Computer im Zimmer verschanzt, hat es noch lange keine Computer- oder Internetsucht.“

Sucht als Symptom
Lukas Gasser führt an, dass es immer wichtig sei, die Fälle ganzheitlich und individuell zu betrachten: „Der Kontext ist wichtig. Wir fragen uns immer, warum die Jugendlichen ein Suchtverhalten zeigen, was der Grund dafür sein könnte, dass sie etwas stark konsumieren.“ Oskar Giovanelli ergänzt: „Allgemein im Suchtbereich haben 60 Prozent unserer Patient:innen einen psychiatrischen Hintergrund. Da gilt es sich jedes Mal zu fragen: Was steckt hinter der Sucht? Meist ist ein Suchtverhalten ein Symptom, das für etwas anderes steht. Ist also wirklich der Computer das Problem oder ist das Hauptproblem ein anderes?“ Sehr häufig sind es Depressionen, Angststörungen oder soziale Phobien, die Menschen in das Internet flüchten lassen. Auch ADHS kann ein Grund sein, da habe das Gaming allerdings die Funktion eines Filters, der eine Art Ausgleich schaffen kann.

Lukas Gasser & Oskar Giovanelli

So wie es zwölf Monate dauert, eine Sucht zu diagnostizieren, dauert es zwölf Monate, um als geheilt zu gelten. Gasser stellt fest: „Als geheilt gelten sie für mich, wenn sie wieder einen einfachen, normalen Alltag haben. Wenn sie am Morgen aufstehen, zur Schule oder zur Arbeit gehen, sich mit Freunden treffen, einer Freizeitaktivität nachgehen oder einem Verein beitreten.“

Konsumkontrolle und Selbstdisziplin
Das Wort Sucht beschreibt Giovanelli als problematisch: „Wir leben in einer Konsumgesellschaft, in der wir auch zum Konsumieren erzogen werden. Wenn man nicht konsumiert, heißt es gleich, die Wirtschaft gehe den Bach runter. Wenn Jugendliche aber anfangen, zu viel zu konsumieren, sind sie sofort die Bösen. Wie bringt man unseren Kindern und Jugendlichen also das richtige und gesunde Maß an Konsum bei?“ Der Psychotherapeut ist sich sicher, dass das neue Ziel der kontrollierte Konsum sein wird. Konsumieren ja, aber nicht zu viel und nicht zu wenig. Wie soll auch ein Jugendlicher nach einer Computerspielsucht ohne seinen Computer auskommen? In der digitalen Welt von heute scheint dies unmöglich. Es geht um Selbstdisziplin und darum, den eigenen Konsum zu kontrollieren. „Die Studien zeigen außerdem, dass die Rückfallquote bei einem Vergleich von zwei Alkoholiker:innen, wo der eine abstinent lebt und der eine seinen Konsum kontrollieren kann, gleich sind“, so der Psychotherapeut.   

Die große Frage der Schuld
Die Hälfte der Jugendlichen kommt freiwillig zur Beratung oder zur Therapie. Da sind es meist die Eltern, die anrufen und um Hilfe bitten. Die andere Hälfte wird vom Sozialsprengel, dem Jugendgericht oder andere Einrichtungen geschickt. „Die meisten Eltern, die kommen, haben Gewissensbisse“, sagt Giovanelli. Die Eltern meinen, alles falsch gemacht zu haben und denken, dass sie an der Sucht ihres Kindes schuld sind. Bei solchen Diskussionen gehe es aber nie darum, wer Schuld hat, sondern wer die Verantwortung trägt, so der Psychotherapeut. Schuldgefühle würden nämlich ein Verhalten generieren, das in einem Teufelskreis enden könnte: Die Eltern streiten sich mit ihrem Kind und zur Versöhnung gibt’s dann materielle Geschenke. Wenn der Sohn ein Gamer ist, könnte das ein neues Spiel oder der neueste Controller sein. Sie spielen automatisch mehr, schließlich sitzt es sich auf dem neuen Gamer-Stuhl auch noch richtig gut.

Der durchschnittliche Gamer, der hier auf der Couch sitzt, stammt aus der sozialen Mittel- bzw. Oberschicht und ist meistens Einzelkind. Die Computerspielsucht könnte also auch als ein Problem angesehen werden, das sich die Gesellschaft selbst anzüchtet.

Oskar Giovanelli

Die meisten Gamer stammen also aus einer sozialen Schicht, die es ihnen auch erlaubt, Gamer zu sein. Das gilt auch für die Patient:innen bei YoungHands: „Der durchschnittliche Gamer, der hier auf der Couch sitzt, stammt aus der sozialen Mittel- bzw. Oberschicht und ist meistens Einzelkind. Die Computerspielsucht könnte also auch als ein Problem angesehen werden, das sich die Gesellschaft selbst anzüchtet.“ Das Team hätte noch nie einen Jugendlichen wegen einer Verhaltenssucht in Behandlung gehabt, der fünf Geschwister und Eltern hat, die 1.400 Euro im Monat verdienen.

Keine Bindung trotz Verbindung
Wenn wir andere Menschen umarmen oder küssen, wird in unseren Körpern das Glückshormon Oxytocin ausgeschüttet. Wir brauchen dieses Hormon, um überleben zu können. Bei einer digitalen Kommunikation fehlt dieses Hormon. Menschen sind zwar verbunden, aber es gibt keine Bindung, daran können auch die Smilyes nichts ändern. Giovanelli sagt: „Wir brauchen soziale, analoge Kontakte, um keine sozialen Phobien zu entwickeln. Wenn wir uns zu sehr zurückziehen, sind wir nicht mehr imstande, eine normale, analoge Kommunikation zu führen. Wir gehen zugrunde.“ Junge Gamer wollen anderen oft zu verstehen geben, dass sie Freunde und soziale Kontakte haben, nur würden die eben in Amerika oder in Australien sitzen. „Sie meinen, dass dies echte Freund:innen sind. Das kann bis zu einem gewissen Punkt auch stimmen. Aber es braucht eindeutig auch die analoge Beziehung zu anderen Menschen“, erklärt Gasser. Die beiden sind sich sicher: Digitale Kommunikation ist aus der heutigen Welt nicht mehr wegzudenken. Aber wie so oft, macht es die Mischung aus.

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