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Marion Gamper
Veröffentlicht
am 07.05.2025
LebenLeben mit Synästhesie

Farben hören, Töne schmecken

Veröffentlicht
am 07.05.2025
Was für die meisten Menschen unvorstellbar ist, ist für Synästhetiker:innen wie unsere Autorin Alltag: Buchstaben leuchten in Farben, Töne haben Geschmack, Gefühle eine Form. Die neurologische Besonderheit der Synästhesie eröffnet eine faszinierende Welt der vernetzten Sinne.
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ChatGPT Image 6. Mai 2025, 16_05_41

Für mich sind der Wochentag Freitag, die Zahl 7 und die Farbe Rosa ein untrennbares Trio mit einem bunten Zirkuswagen. Buchstaben, Wörter, Zahlen, Klänge und sogar Personen sind für mich keine bloßen Zeichen – sie sind lebendige Farbexplosionen, die meine Wahrnehmung zu einem bunten Kaleidoskop machen. Diese Fähigkeit, bei einem bestimmten Sinnesreiz einen anderen Sinneseindruck zu erzeugen, nennt man Synästhesie.

Mein älterer Bruder, ebenfalls ein Synästhetiker, war meine erste Bezugsperson in dieser farbenfrohen Welt. Bis zur Grundschule war ich mir nicht bewusst, dass die meisten Menschen nicht in einem Regenbogen aus Tönen und Schattierungen leben, während sie auf blasse Schwarz-Weiß-Darstellungen starren. Für mich war es ganz normal, dass das A in strahlendem Rot leuchtet und das B in einem sanften Hellbraun schimmert.

Irgendwann begann ich mich zu fragen, ob es wirklich „das ständige Farbensehen“ gibt. Ich fand ein Buch über Synästhesie und war erleichtert zu erfahren, dass ich nicht verrückt bin. Im Buch „Jeder blaue Buchstabe duftet nach Zimt“ von Patricia Duffy wird die Synästhesie beschrieben als etwas, das für die meisten Menschen ein Rätsel bleibt. Hysterisch? Verrückt? Nein, das sind wir nicht! Wir sind die Menschen mit den bunten Sinnen.

Hysterisch? Verrückt? Nein, das sind wir nicht! Wir sind die Menschen mit den bunten Sinnen.

Synästhesie bedeutet „mitempfinden, zugleich wahrnehmen“. Wenn ich also einen Klang höre, sehe ich gleichzeitig Farben – und manchmal schmecken sie sogar nach frisch gebackenem Brot. Der Neurologe Richard Cytowic beschreibt das so: „Wenn einer der fünf Sinne stimuliert wird, spricht das zusätzlich einen anderen Sinn an. Das führt zu verrückten Sinneserlebnissen, die für ,Normalsichtige‘ oft unverständlich sind.“

Das Tolle an der Synästhesie? Sie ist kein Makel, sondern ein neurobiologisches Phänomen, das einige von uns als Laune der Natur geschenkt bekommen haben. Ich gehöre zu den glücklichen vier Prozent der Bevölkerung, die diese Fähigkeit besitzen.

Mediziner:innen und Forscher:innen vermuten, dass Synästhesie vererbt wird. 43 Prozent der Befragten in einer Studie gaben an, dass mindestens ein weiterer Synästhetiker:in in ihrer Familie ist. Bei uns ist das definitiv der Fall. Ich weiß, dass die anderen 96 Prozent oft ratlos sind, wenn ich erkläre, dass Wörter auf Plakaten in „falschen“ Farben gedruckt sind und ich deshalb innerlich in einen „Farbenkrieg“ gerate.

Auch Gerüche, Gefühle und Schmerzen haben Farben oder Formen. Margeriten riechen ockergelb, Kopfschmerzen erscheinen in drückendem Rot und Wut ist bedrohlich schwarz und gezackt.

Und dann ist da noch mein Ehemann. Sein Gemütszustand hat direkten Einfluss auf meine Wahrnehmung. Wenn er in einem trüben Dunkelbraun nach Hause kommt, läuten bei mir die Alarmglocken: „Ohoh, schlechte Laune!“ Wenn er hingegen glücklich ist, strahlt er in einem schönen Blau. Aber wie erklärt man das jemandem, der nicht in meiner bunten Welt lebt?

Synästhetiker:innen sind ganz normale Menschen aus allen Gesellschaftsschichten und Berufen, die jedoch ein besonderes Potenzial besitzen, das ihnen ihre neuronale Strukturierung ermöglicht.

Der Psychiater Markus Zedler bezeichnet Synästhesie als einen Luxus, „eine Spielart der Evolution, die es dem Bewusstsein erlaubt, durch die Verknüpfung der Sinne und die Koppelung mit Gefühlen mehr Informationen zu generieren.“

Synästhetiker:innen sind ganz normale Menschen aus allen Gesellschaftsschichten und Berufen, die jedoch ein besonderes Potenzial besitzen, das ihnen ihre neuronale Strukturierung ermöglicht. Nicht selten werden ihnen die Eigenschaften: hochsensibel, außerordentlich kreativ und sogar hochbegabt zugeschrieben.

Obwohl ich mich selbst als kreativ bezeichnen würde, trifft die Bezeichnung „Hochbegabung“ eher auf strahlende Ikonen wie Nikola Tesla, Marilyn Monroe, Wassily Kandinsky oder Lady Gaga zu. Lady Gaga sagte in einem Interview: „Ich sehe Töne, wie eine Wand aus Farbe!“ Franz Liszt feuerte sein Orchester mit folgenden Worten an: „Dieser Ton ist dunkelviolett, meine Herren, und nicht rosa, glauben Sie mir!“

Typische Beispiele für synästhetische Wahrnehmungen sind faszinierend und vielfältig. Beim farbigen Hören verwandeln sich Töne in lebendige Farben, die vor dem inneren Auge erscheinen. Buchstaben und Zahlen haben nicht nur eine Bedeutung, sondern sind auch ständig mit bestimmten Farben verknüpft.

Ein Wort kann zudem nach etwas schmecken oder einen bestimmten Geruch hervorrufen, der wiederum eine Farbe mit sich bringt. Diese einzigartigen Verknüpfungen ermöglichen es Synästhetiker:innen, die Welt auf eine Weise zu erleben, die für die meisten Menschen unvorstellbar ist.

Beispielsweise können sie Vokabeln durch Farben, Formen oder Geschmäcker leichter lernen und sich erinnern.

Laut Sean A. Day, dem Präsidenten der American Synesthesia Association, tritt Synästhesie in vielen unterschiedlichen Formen auf: Buchstaben, Zahlen oder Geräusche werden mit Farben verbunden, die Zeit wird räumlich wahrgenommen, und auch Personen können farblich empfunden werden. 

Mehrere Studien belegen, dass Synästhetiker:innen ein besseres Erinnerungsvermögen besitzen, da ihre synästhetischen Verknüpfungen die Gedächtnisleistung fördern. Je vernetzter das Gehirn, desto besser das Langzeitgedächtnis. Beispielsweise können sie Vokabeln durch Farben, Formen oder Geschmäcker leichter lernen und sich erinnern. Zudem haben viele Betroffene eine ausgeprägte Intuition, die ihnen hilft, unbewusst Informationen zu verknüpfen und Entscheidungen zu treffen. Darüber hinaus benötigen Personen mit Zeit-Raum-Synästhesie oft keinen Kalender, da sie ihre Termine in einem mentalen Raum speichern können und die Tage einfach heranholen, wenn sie sie brauchen.

Synästhesie-Forscher Lawrence Marks sagt: „Synästhesie schaffe eine ,Alice-im-Wunderland-Welt‘, in der Informationen aus einer Sinnesabteilung ohne Sinn und Zweck in eine andere überwechseln.“

Einige Dichter des 19. Jahrhunderts waren so fasziniert von Synästhesie, dass sie versuchten, sie zu kultivieren, indem sie Haschisch rauchten. Synästhesie ist aber keine Halluzination, sondern eine eingebaute Eselsbrücke, die im Alltag hilft. Wenn du das nächste Mal einen bunten Buchstaben siehst, denk an mich.

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