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Teresa Putzer
Veröffentlicht
am 16.05.2023
LebenInterview mit Sabine Cagol

„Es reicht das Gefühl, dass man Hilfe braucht”

Veröffentlicht
am 16.05.2023
Wie kümmere ich mich um meine mentale Gesundheit? Psychologin und Psychotherapeutin Sabine Cagol beantwortet die Fragen unserer Leser:innen.
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Der BARFUSS-Kummerkasten geht in die nächste Runde: Eine Rubrik, in der die Fragen unserer Leser:innen im Mittelpunkt stehen. Wir widmen uns regelmäßig einem bestimmten Thema, zu dem wir auf Instagram eure Fragen, Anliegen und Gedanken sammeln und diese gemeinsam mit Expert:innen in der Form eines Interviews beantworten. Diesmal lautete die Frage: Wie kümmere ich mich um meine mentale Gesundheit?

Die Psychologin und Psychotherapeutin Sabine Cagol hat dabei geholfen, die Fragen rund um das Wohlergehen der eigenen Psyche zu beantworten. Sabine Cagol ist Systemische Beraterin und Therapeutin, Kinder- und Jugendlichen-Therapeutin sowie Systemischer Coach und Supervisorin, außerdem ist sie Präsidentin der Psycholg:innenkammer Bozen. Mit ihrer Arbeit versucht sie nicht nur Menschen zu helfen, sondern auch verlässliche Systeme aufzubauen und die psychologische Zusammenarbeit des Landes zu verbessern.

BARFUSS: Ihre Berufsbezeichnung macht bereits deutlich, wie breit gefächert das Berufsbild rund um die mentale Gesundheit ist. Unsere Leserschaft will daher wissen, bei wem man sich bei welchem Problem am besten meldet?
Sabine Cagol: Das ist tatsächlich nicht so einfach (lacht). Das ganze Netzwerk ist relativ komplex aufgebaut. Zu Beginn der Covid-Pandemie haben wir die Seite dubistnichtallein.it ins Leben gerufen, auf welcher wir versucht haben, Anlauf- und Informationsstellen in einer Liste zu sammeln. Das Zusammentragen dieser Informationen und die Strukturierung der unterschiedlichen Stellen in „Was, wer, wann, wofür?“ war eine einzige Katastrophe. Menschliche Bedürfnisse und Fragestellungen in standardisierten Abläufen abzufertigen ist (zum Glück) nicht einfach. Oft sind die gleichen Dienste in den verschiedenen Teilen des Landes auch historisch anders gewachsen. Wichtig ist hier zu wissen: Um Hilfe und Rat zu fragen ist nie falsch. Sollte man nicht an der richtigen Adresse landen, dann sollte man an jeder Stelle kompetente Beratung finden, wo die richtige Adresse ist.

Aber was ist genau der Unterschied zwischen Psycholog:in, Therapeut:in und Psychiater:in ist?
In der Theorie studieren Psycholog:innen fünf Jahre, absolvieren ein Praktikum und die Staatsprüfung und erlangt die Berufsbefähigung in Italien als Psycholog:in praktizieren zu können. Als Psychotherapeut:in fügt man dieser Karriere noch eine zusätzliche vierjährige Ausbildung hinzu. Psychiater:innen kommen hingegen aus der Medizin und spezifizieren sich nach dem allgemeinen Medizinstudium auf die Psyche der Menschen und können auch die Ausbildung zu Psychotherapeut:innen machen. Praktisch sind die Grenzen zwischen den Berufsfeldern nicht klar abgrenzbar bzw. können sich überschneiden.

Wieso?
Weil alle eng zusammenarbeiten. Oftmals können einzelne Bausteine nicht von einer Berufsfigur abgedeckt werden, weshalb es mehrere Personen benötigt, die zusammenarbeiten. Psycholog:innen führen in der Regel Tests durch und geben psychologische Beratung, während Psychotherapeut:innen den Fokus auf verschieden Therapieformen legen und man als Psychiater:in eine Medikation verschreiben kann. In der Realität überschneiden sich aber viele Arbeitsbereiche. Wenn zum Beispiel eine Patientin ein Medikament benötigt, kann ich innerhalb des therapeutischen Verlaufs eine:n Psychiater:in hinzuziehen, welche:r das Medikament verschreibt, während die Patientin aber weiterhin bei mir in psychologischer Behandlung bleibt. Da das System zumeist gut vernetzt ist und niemand von uns Patient:innen sinnlos „therapiert“, ist es unsere Pflicht Personen weiter zu überweisen, wenn sie bei uns nicht richtig sind. Das Wichtige ist also: Hilfe suchen, egal bei wem, egal wo.

Sabine Cagol

Wann sollte ich eine:n Therapeut:in aufsuchen?
Immer. Also immer wenn‘s irgendwo „zwickt“ und man das Gefühl hat, Hilfe zu brauchen. Es reicht das Gefühl, dass man Hilfe braucht. Dafür muss niemand genau wissen, wobei, wofür und welche Hilfe genau benötigt wird. Das alles kann zusammen mit einer Fachperson herausgefunden werden. Es gibt kein Problem, das zu „klein“ ist. Das Einzige, was nicht günstig ist, ist nichts zu tun, wenn jemand das Gefühl hat, es geht mir nicht gut und/oder meine Lebensqualität ist beeinträchtigt. Beim Rest gibt es kein Richtig oder Falsch. Hauptsache man meldet sich, besser früher als später.

Wie lange dauert eine Therapie?
Das ist von Fall zu Fall unterschiedlich. Wir wollen keine Menschen von der Therapie abhängig machen. Es geht also nicht darum, Menschen längst möglich in Therapie zu behalten, sondern ihnen helfen wieder selbstständig das Leben und die Hürden des Alltags zu bestreiten. Manchmal reichen dabei ein paar wenige Sitzungen. In anderen Fällen genügt eine Sitzung pro Monat. Wieder andere Situationen erfordern ein wöchentliches Gespräch, in Krisen auch mehrere Sitzungen die Woche.  Das wird alles im Erstgespräch geklärt.

Viele Diagnosen sind entlastend und ermöglichen die Sicht auf Hilfsmittel und Therapieansätze.

Was passiert beim Erstgespräch? Muss man sich darauf vorbereiten?
Normalerweise dauert ein Erstgespräch eineinhalb Stunden. Das klingt erstmal nach viel Zeit, aber normalerweise vergeht das Gespräch blitzschnell. Beim Erstgespräch geht es nur darum eine Idee zu bekommen, was der andere braucht. Was das genau ist, muss aber niemand vorher wissen. Unser Job ist es Fragen zu stellen, und zwar viele: Über die Person selbst, Familie, Hobby, Freunde, Angewohnheiten usw. Nicht alle Fragen können und müssen beantwortet werden. Es ist uns durchaus bewusst, dass es für viele Menschen eine große Herausforderung darstellt, gleich mit jemanden den man nicht kennt, so viel zu reden und über sich selbst zu sprechen. Innerhalb des Erstgesprächs erfolgt eine Einschätzung der Situation und ein Vorschlag für die weitere (gemeinsame) Arbeit.

Wie geht es dann weiter?
Nach dem Erstgespräch muss sich jede:r überlegen, ob man sich Besprochenes vorstellen kann, ob es der richtige Moment ist Dinge anzugehen und ob das Therapeut:innen-Patient:innen Verhältnis stimmig ist. Es ist total ok zu merken, dass das nicht so ist. Nicht jede:r kann mit jeden.

Eine Leserin hat uns geschrieben, dass sie Angst vor dem Moment hat, eine Diagnose zu bekommen…
Das ist ein sehr interessanter Gedanke. Auch wir Expert:innen sprechen vom Sinn und Unsinn von Diagnosen. Diagnosen sind ein zweischneidiges Messer. Viele Diagnosen sind entlastend und ermöglichen die Sicht auf Hilfsmittel und Therapieansätze. Wenn ich beispielsweise an einer Lese-Rechtschreibstörung leide, weiß ich nach der Diagnose, dass ich nicht zu unfähig, zu faul oder zu dumm zum Lernen bin, sondern dass ich das einfach nicht kann. Natürlich kann es auch sehr einladend sein, die Diagnose für vieles das nicht gut läuft verantwortlich zu machen: „Das bin nicht ich, das ist mein ADHS, das das Zimmer nicht aufräumen kann.“ Diagnosen sind problematisch, wenn sie zum Wegschieben von Verantwortung führen. Eine Diagnose bedeutet daher kein Freischein, der jegliches Verhalten rechtfertigt. Für uns Fachleute ist sie eine Beschreibung, die uns zur Verständigung über Symptomatiken hilft. So können wir auch gut abgrenzen, ob diese krankheitswertig sind.

Das ist Blödsinn und allein dem geschuldet, dass die Gesellschaft psychische Krankheiten noch zum Teil tabuisiert.

Wie sieht das die Gesellschaft?
Schwierig. Oftmals haben gewisse Diagnosen bereits eine gewisse Konnotation innerhalb der Gesellschaft und dann heißt es bei einer bestimmten Diagnose, dass jemand „gestört“ oder „verrückt“ sei. Das ist Blödsinn und allein dem geschuldet, dass die Gesellschaft psychische Krankheiten noch zum Teil tabuisiert. Diagnosen sind eigentlich nur ein Abkommen unter Expert:innen, um Symptome zu beschreiben. Eine Diagnose bedeutet nicht, dass Menschen einen Stempel fürs Leben bekommen. Der gesellschaftliche Blick auf eine Diagnose ist immer konstruktivistisch und am sozialen Kontext gebunden. Wenn wir drei schizophrene Personen auf eine einsame Insel schicken, geht es ihnen vielleicht super. Dasselbe ist mit Menschen mit ADHS. ADHS ist per se ja nicht das Problem, sondern zum Beispiel Kontexte wie Schulklassen, in denen bestimmte Verhaltensweisen als herausfordernd wahrgenommen werden, das nicht für solche Menschen entwickelt wurde. Ein weiterer Vorteil ist, dass Diagnosen den Zugang zu sanitären Leistungen ermöglichen.

Wann übernimmt die Krankenkasse die Kosten der Therapie?
Meist bei ausgestellten Diagnosen und klinischem Bedarf. Es sind aber alle öffentlichen Dienste und Familienberatungsstellen unentgeltliche Anlaufstellen. Neuerdings gibt es den „Bonus psicologo“, dabei bekommt man auch einen Beitrag für Therapiesitzungen. Das System ist allerdings noch neu und muss noch organisatorisch besser ausgebaut werden, um reibungslos zu funktionieren. Der zeitnahe Zugang zu psychologischen Leistungen ist ein großes Problem. Die Wartezeiten auf einen Termin liegen aktuell bei mehreren Monaten und Privatsitzungen gehen gleich in die Tasche.  Im Sanitätssystem wird aktuell an der Krisenfähigkeit der Dienste gearbeitet, eine Verbesserung ist hier in Sicht.

Ab wann bin ich Alkoholiker:in?
Das kann man pauschal nicht beantworten, da es verschiedene Arten von Alkohol-und Substanzmissbrauch gibt. Wenn sich aber jemand die Frage stellt, Alkoholiker:in zu sein, vermute ich, dass die Person in einer Form Alkohol konsumiert, die ihr selbst Sorgen macht. Eine Faustregel dabei ist, dass wenn Alkohol eingesetzt wird, um sich selbst oder seine Emotionen zu regulieren und das zur Lieblingsstrategie wird, ein Problem vorliegt. Hier würde ich auf jeden Fall empfehlen, Hilfe zu suchen und sich das Trinkverhalten und die Ursache dahinter genauer anzuschauen.

Krieg, Pandemie, Inflation: Im Vergleich zu meinen Freund:innen beschäftigt mich das Weltgeschehen viel mehr. Ist das normal?
Das ist eine sehr gute Frage. Ich und viele meiner Kolleg:innen bemerken, dass viele unserer Patient:innen aktuell viel weniger hoffnungsvoll in die Zukunft blicken als früher. Für viele bedeutet der Krieg nach der Pandemie eine Oberkrise.  Es gibt Menschen, die mit diesem Entzug der Regulierbarkeit des Lebens und dem Mangel an Sicherheit besser und weniger gut umgehen können. Menschen stehen auf Kontrolle und nicht auf Kontrollverlust, also ist es ganz „normal“, dass einem das Weltgeschehen hin und wieder Angst macht. Ein Problem liegt dann vor, wenn uns diese Angst lähmt oder in irgendeiner Form hemmt, unser Leben beschwerdefrei weiterführen zu können. Eine grundsätzliche Verunsicherung ist leider zeitgemäß, weil wir erst lernen müssen, mit diesem Kontrollverlust umzugehen. Interessant ist, dass viele bereits vor der Pandemie ängstliche Personen mit dieser unsicheren Zeit ganz anders umgehen.

Menschen stehen auf Kontrolle und nicht auf Kontrollverlust, also ist es ganz „normal“, dass einem das Weltgeschehen hin und wieder Angst macht.

Inwiefern?
Ich hatte einen jungen Patienten, der Experte darin war, sich Sorgen zu machen. Er war ständig davon überzeugt, sterben zu würden, wenn irgendwo etwas schmerzte oder er es sich nur einbildete. Mit der Pandemie ging er allerdings sehr locker um und meinte zu mir, dass ihm Corona keine Sorgen machen würde, weil er schon zu oft Angst gehabt hatte, zu sterben. Es war für ihn „gut“ zu sehen, dass jetzt alle anderen Ängste haben und er nicht mehr der ängstliche Sonderling, sondern einer von vielen ist.

Mein Kind ist depressiv und in Therapie. Wie kann ich es unterstützen, ohne es zu bemitleiden?
Wenn ich davon ausgehe, dass das Kind minderjährig ist, müssen die Eltern in unterschiedlicher Form Teil der Therapie sein, über den Krankheitsverlauf aufgeklärt werden und involviert sein. Da ich aber den genauen Fall nicht kenne, lautet mein Rat immer: nachfragen. Am besten weiß das Kind selbst, was es braucht und kann sich durch das Nachfragen auch autonom wahrnehmen.

Als abschließender Rat: Wie achte ich auf meine mentale Gesundheit?
Zunächst ist es wichtig, die eigene mentale Gesundheit immer im Fokus zu behalten. Wir sollten uns um unser psychisches Wohlergehen genauso wie um die körperliche Gesundheit kümmern. Beim Körper ist es für die meisten selbstverständlich, dass wenn sich irgendetwas „falsch“ oder ungesund anfühlt, Ärzt:innen oder andere Expert:innen aufgesucht werden. Dasselbe sollte man bei der mentalen Gesundheit machen. Besonders die Südtiroler:innen sind darin geübt, stark zu sein und immer weiterzumachen. Wir sollten aber eigentlich lernen, Emotionen zuzulassen und gegebenenfalls uns jemanden anvertrauen und Hilfe suchen. Dies gilt übrigens auch dann, wenn uns vorkommt, es geht jemand in unserem Umfeld nicht gut. Nachfragen ist hier immer ok und kann Leben retten.

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