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Veröffentlicht
am 10.07.2019
LebenStraßenzeitung zebra.

Die Waldlehrerin

Veröffentlicht
am 10.07.2019
Die Waldschule ist eine Schule für jedes Kind, aber nicht für alle Eltern. Seit drei Jahren setzt Ruth Gasser in Lichtenstern die für sie ideale Schule um.
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Es geht nur drei Minuten zu Fuß durch den Mischwald mit Buchen, Eichen, Fichten und Lärchen. Dann sperrt Ruth Gasser die Tür zu einem Kleinod auf: Wilde Rosen blühen am üppigen Strauch, Gräser und Halme biegen sich in der Junisonne, eine Pappel breitet sich aus, Nadelbäume umranden die ebene Wiese vor dem Haus. Ein Kuckuck ruft in den Wald, Traktorengeräusch vom anliegenden Hof tuckert ab und zu in die Stille. Vor dem zweigeteilten Gebäude stehen Tische und Bänke, darauf krabbeln Ameisen. Das weite Vordach spendet Schatten an diesem ersten heißen Sommertag des Jahres. Die Immobilie hat der Verein – soeben in eine Genossenschaft umgewandelt – angemietet: Der Klassenraum befindet sich im Nebenhaus, wo Tische und Bänke aufgereiht sind und bunte Materialien aufliegen. Im Haupthaus können Küche, Wohnzimmer und Toilette benutzt werden. Die Wiese vor dem Haus bearbeitet der Nachbar. Sie ist für die Kinder tabu, der Wald hinter dem Haus hingegen täglicher Bewegungs- und Forschungsraum.

Seit zehn Tagen breitet sich Ruhe über der Waldschule aus. Die Kinder sind in den Sommerferien und die Lehrerin erholt vom Meer zurück. Die blauen Augen der 47-Jährigen leuchten, während sie von der einzigen Schule Südtirols erzählt, deren Besucherinnen und Besucher mindestens ein Drittel der Schulzeit im Freien verbringen. Nach neun Jahren Unterricht an der öffentlichen Schule nahm Ruth Gasser vor 19 Jahren zwei Jahre unbezahlten Wartestand. Sie bildete sich weiter, engagierte sich freiwillig, kündigte und verabschiedete sich vom „System“ Schule. Sie arbeitete im Montessori-Kindergarten in Terlan und später in Kohlern mit, unterrichtete in den ersten Jahren in der Montessori-Schule Kohlern und ist seit drei Jahren Lehrerin in der privaten Rittner Waldschule. Lichtenstern gehört zur Fraktion Oberbozen und zur Gemeinde Ritten.

„Wir müssen darauf achten, dass die Neugierde des Kindes nicht zum Erliegen kommt.“

Von Montag bis Freitag hat Ruth Gasser im abgelaufenen Schuljahr gemeinsam mit den Lehrerinnen Nadja, Arianne, Nathalie und Franca von 8 bis 12.30 Uhr für die Begleitung der Kinder und für passende Werkstoffe gesorgt. Freitags war Waldtag. An jedem anderen Vormittag gab es mindestens eine Stunde lang Angebote in der Natur. Die 6- bis 13-jährigen Schüler*innen kommen vom Ritten, aus Bozen und Brixen. Ruth Gasser arbeitet in Vollzeit und verdient im Vergleich zur öffentlichen Schule die Hälfte. Bezahlt werden die Lehrpersonen von den Eltern, die monatlich pro Kind 150 bis 200 Euro entrichten.

Der Wald als Spiel- und Lernort

Es sei genauso kontraproduktiv, Kinder zu überfordern wie sie zu unterfordern, sagt Ruth Gasser: „Man darf sie nicht nur tun lassen.“ Wenn ein Kind beispielsweise die schriftliche Addition ständig meidet, gibt sie ihm Zeit. Aber sie lässt es nicht zu, dass sich das Kind im Sich-Zeit-Nehmen verliert. „Ich schiebe es nicht auf etwas hin, aber ich eröffne ihm Möglichkeiten.“ Als Lehrerin schaue sie auf jedes Kind, beobachte genau, notiere viel und tausche sich ständig mit den Kolleginnen aus. „Wir müssen darauf achten, dass die Neugierde des Kindes nicht zum Erliegen kommt.“ Neugierde trage durchs Leben.

Wenn die Lehrerin Eicheln und Zapfen, Kastanien und Steine, Federn und Blüten oder konkretes Lernmaterial auf den Tisch legt, gehen die Kinder unterschiedlich damit um. Das hat mit ihrem Alter zu tun, aber vor allem mit ihrem Interesse. Davon können die Lehrpersonen ableiten, wo die Kinder stehen und sie auf vertiefende Angebote aufmerksam machen. Phantasie sei gefragt, um den Wissens- und Entwicklungsdrang der Schüler*innen stimmig zu begleiten und ihnen im richtigen Moment die passenden Materialien und Bücher zur Verfügung zu stellen.

Druck mag Ruth Gasser nicht, zumindest will sie ihn von den Kindern fernhalten. Bei sich spürt sie ihn oft: wenn außerhalb unqualifizierte Kritik verbreitet wird, ohne das Konzept der Waldschule zu kennen oder wenn neue Gesetze jährliche Prüfungen vorsehen, obwohl Noten den Vergleich und Wettbewerb untereinander anstacheln und die Freude am Lernen stören. Schriftliche und mündliche Prüfungen gehören nicht zur Waldschule.

„Bei uns kann ein Kind länger Kind sein.“

Weil die Waldschule nicht offiziell anerkannt oder anderen Schulen gleichgestellt ist, haben alle Eltern ihre Kinder in der Rittner Schuldirektion als „Homeschooler“, also für den Elternunterricht, gemeldet. Ob sie die Bildungspflicht erfüllen, überprüft die Schuldirektion – mit der übrigens reger Austausch herrscht. „Bei uns lernen die Kinder anders“, sagt Ruth Gasser. Niemand kenne das Entwicklungspotential eines Kindes oder könne dessen Fähigkeiten vorherbestimmen. Die Kinder kämen vom Großen ins Kleine, vom Freien in die Schulklasse, von der Zeit des Ötzi in die Neuzeit, vom Kupfer zum Holz. Sie war nicht überrascht, als Eltern ihr erzählten, dass ein Kind bei einem Bergwerkbesuch mit der Familie bei der Erwähnung von Kupfer sofort den Zusammenhang mit Ötzi herstellte, mit dem es sich in der Schule auseinandergesetzt hatte.

„Bei uns kann ein Kind länger Kind sein“, sagt die Lehrerin. Das hat sie auch bei ihren Kindern Anna (13) und Paul (11) festgestellt, die nach einigen Grundschuljahren in der Montessori-Schule in Brixen seit drei Jahren in der Waldschule Lichtenstern unterrichtet werden. Die Kinder in der Waldschule lernen spielend und ihrer Zeit entsprechend lesen, schreiben, rechnen oder Sprachen. Sie wissen über die Bedürfnisse der Natur Bescheid, kennen die Bäume, bauen Futterkrippen für die Tiere und spüren den Jahreszeiten nach. Sie arbeiten selbständig an Vorträgen und Projekten, erkennen die eigenen Interessen und Fähigkeiten, pflegen einen friedvollen Umgang miteinander und verlieren den Blick aufeinander nicht. „Sie wissen, dass sie nein sagen dürfen und lernen das Nein der anderen zu akzeptieren“, sagt Ruth Gasser. Die Gemeinschaft und das Wohlbefinden aller seien wichtig. Beim Morgenkreis wird das Vormittagsprogramm besprochen und verhandelt. „Wir garantieren die Inhalte und Rahmenrichtlinien, die das Schulamt für Grund- und Mittelschüler*innen vorsieht“, sagt Ruth Gasser – nicht innerhalb eines Schuljahres, sondern in der gesamten Schulzeit. Das verlangt den Eltern Vertrauen ab. Sie werden regelmäßig zu Informationsabenden eingeladen.

„Wir sollten uns Zeit nehmen, auch scheinbar kleine Konflikte anzuschauen, bevor sie zu großen werden.“

Realitätsverweigerung und Regelmangel wird der Waldschule manchmal nachgesagt. Dem widerspricht Ruth Gasser kategorisch. Freiarbeit brauche Klarheit und Regeln würden konsequent eingefordert. Auch den Vorwurf, eine Privatschule müsse man sich leisten können, weist sie zurück. In der Waldschule seien weder Kinder aus besonders reichen Familien, noch sei man Sammelbecken für verhaltensauffällige Schülerinnen und Schüler. „Wen das Konzept überzeugt, der findet einen Weg, das Finanzielle zu bewältigen“, sagt sie und verweist auf ihre zehn Jahre alte Jeans. Neue Kleider sind ihr nicht wichtig. Auf große Fernreisen oder Feste verzichtet sie und bevorzugt mit ihrem Partner, der im Baugewerbe tätig ist, Urlaub auf der Alm. Bei jeder größeren Entscheidung fragt sich das Paar, ob es etwas wirklich, wirklich, wirklich wolle. Das dreifache Wirklich verlangt schonungslose Ehrlichkeit.

Um Aufrichtigkeit geht es auch im Umgang der Kinder untereinander. Zorn und Streitereien gehen die Lehrpersonen konsequent nach. Wer sich wutschnaubend vom Arbeitsplatz entfernt, wird an seine*ihre Mitverantwortung erinnert: „Wenn du jetzt gehst, akzeptierst du ohne dich einzubringen, was die anderen vereinbaren.“ Die Leitsätze der Montessori-Pädagogik begleiten Ruth Gasser und ihre Kolleg*innen: „Hilf mir, es selbst zu tun. Zeig mir, wie es geht. Tu es nicht für mich. Ich kann und will es allein tun.“ Man gebe den jungen Menschen Worte, sagt sie. Das bräuchten auch viele Erwachsene, die häufig versteinert durch die Welt gehen. „Wir sollten uns Zeit nehmen, auch scheinbar kleine Konflikte anzuschauen, bevor sie zu großen werden.“ Große Konflikte können den Frieden in der Familie und in ganzen Gesellschaften vernichten.

Es ist warm geworden vor der Waldschule. Im vergangenen Schuljahr war es oft kalt. Die Heizung im Innenraum hat manchmal den Geist aufgegeben. Im April hat es wiederholt geschneit und im Mai häufig geregnet. Nicht immer war es angenehm, ins Freie zu gehen. „Wir haben immer eine Option“, betont Ruth Gasser: „Wir können uns bewegen, wenn uns kalt ist, uns trocken anziehen, wenn wir nass werden und uns vor der Sonne schützen.“

Doch auch wenn – wie in Pilotphasen üblich – nicht alles glatt geht, Aufgeben ist für die Macher*innen keine Option. Und der Erfolg gibt ihnen recht: Im vergangenen Schuljahr waren 16 Kinder eingeschrieben, im kommenden sind es 23.

von Maria Lobis

Der Artikel ist erstmals in der 50. Ausgabe (Juli 2019) der Straßenzeitung zebra. erschienen.

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