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Agadir, Marokko. Hier beginnt unsere Reise. Entlang der Atlantikküste wird sie uns südwärts durch die Westsahara und Mauretanien führen, bis nach Dakar im Senegal. Über 3.000 Kilometer in sechs Wochen. Es ist die zweite Radreise, die wir gemeinsam unternehmen, mein Freund Andreas Bergmann und ich. Am Flughafen schrauben wir unsere Räder zusammen und packen die schweren Taschen darauf. Da wir tagelang auf uns selbst angewiesen sein werden, haben wir alles dabei, was man so zum Überleben braucht: Zelte, Kochutensilien, einen Erste-Hilfe-Koffer. Auf verkehrsarmen Nebenstraßen rollen wir in Richtung Süden durch das landwirtschaftlich genutzte Flachland. Am Horizont sieht man noch die Ausläufer des Anti-Atlas-Gebirges, das die Region mit Wasser versorgt. Bald wird es einsamer. Die Dörfer werden kleiner und schließlich erreichen wir den Plage Blanche – den weißen Strand an der Atlantikküste. Dieses Traumland ist flach und hart wie Asphalt, ideal zum Radfahren. Kilometer für Kilometer pedalen wir der untergehenden Sonne entgegen und mit dem Fahrtwind wächst in uns das Gefühl des Aufbruchs.
Der Tod am Strand
Wir halten Ausschau nach einem Zeltplatz für die Nacht, als wir auf Soufiane treffen – einen Fischer, der gerade aus dem Wasser watet. Er zeigt uns seinen Fang und lädt uns in die kleine Fischerhütte hinter den Dünen ein. Inzwischen ist es dunkel und feuchtkalt. Wir stehen um das kleine Feuer herum, auf dem Soufiane grillt, unterhalten uns, trinken süßen Tee und schauen in den Sternenhimmel. Da deutet der Fischer auf ein sich bewegendes rotes Licht: „Eine Drohne mit Wärmebildkamera“, sagt er. „Das Militär überwacht damit die Küste.“ Da es nur hundert Kilometer bis zu den Kanarischen Inseln sind, versuchen Menschen aus Afrika immer wieder, diese per Schlauchboot zu erreichen. Ein mulmiges Gefühl macht sich in mir breit, werden doch auch wir in diesem Moment beobachtet. Doch bald fallen wir in unseren Zelten in tiefen Schlaf. In der Morgendämmerung – Soufiane ist schon beim Fischen – kommt er uns aufgeregt entgegen, ruft „Afrikaner, Schlauchboote!“ und deutet in die Ferne. Am Strand erkenne ich Dutzende Menschen, ein Quad mit Militärs rast ihnen entgegen. Schnell begreifen wir, dass wir mitten in einer Flüchtlingstragödie stecken. „Fahrt weiter, dicht am Wasser. Haltet nicht an!“, drängt Soufiane. Hastig erklärt er uns, wie wir den Strand verlassen und ins Inland abbiegen können. Dann treten wir los.
Bald begegnen wir den ersten Gruppen: junge Männer, wenige Frauen, alle ausnahmslos schwarz bekleidet, nichts bei sich, nicht mal eine Flasche Wasser. Dutzende, Hunderte kreuzen wir. Dann gestrandete Schlauchboote, von Militärs bewacht. Einige sind luftlos an den Strand geschwemmt worden. Neben einem Boot liegen drei Menschen regungslos auf dem Rücken, und ich begreife, dass sie sich nicht ausruhen, sondern tot sind. Ertrunken. Ich bin wie benommen. Mein Geist hat keinen Maßstab, an dem er diese Erfahrung festmachen könnte. Abwesend trete ich weiter, vorbei an weiteren Körpern. Dann halte ich an, lege mein Fahrrad in den Sand und versuche zu begreifen, was hier passiert. Im Meer treibt ein Mensch und ich steige ins kalte Wasser, um ihn landwärts zu ziehen. Ich drehe ihn auf den Rücken und sehe in sein Gesicht. Ein junger Mann. Ich ziehe den starren Körper an den Strand, unerreichbar für die Wellen. Ich schwitze und Tränen laufen über mein Gesicht. Wie nahe sich Tod und Leben sind. Deine Träume, Jugend, Stärke, Schönheit, Familie, Freunde – alles hast du hier verloren, auf der Suche nach einem besseren Ort zum Leben. Ich verabschiede mich vom leblosen Körper und hole Andreas ein. Ohne Worte fahren wir weiter, tagelang durch die menschenleere Wüstenpiste.
Auf umkämpften Wegen
Der kleine Ort Tah war bis 1975 ein Grenzposten der Kolonie Spanisch-Sahara, später Westsahara genannt. Nach dem Rückzug der spanischen Kolonialmacht besetzte Marokko den Großteil dieses Territoriums und übernahm die Kontrolle. Die Sahrauis, eine indigene Bevölkerungsgruppe der Westsahara, kämpfen weiterhin für einen unabhängigen Staat – doch die meisten leben inzwischen im Exil, vor allem in Flüchtlingscamps bei Tindouf in Algerien. Marokko schafft vollendete Tatsachen: Es investiert massiv und die Militärpräsenz ist allgegenwärtig. An jeder Kreuzung und Dorfeinfahrt werden Pässe kontrolliert. In der Garnisonsstadt Layonne müssen wir fünf Straßensperren passieren, bevor wir im Stadtzentrum sind. Es ist ein beklemmendes Gefühl. Wir sind in einem besetzten Land. In einem Hotel lernen wir Khalid kennen, einen Sahraui. Wir fragen ihn, ob wir auf dem Weg nach Mauretanien mit Aktivitäten der Polisario-Front rechnen müssen – jener militärisch-politischen Organisation, die für eine unabhängige Republik Sahara kämpft. Khalid winkt ab: Es habe schon lange keine Zwischenfälle mehr gegeben und auch der Grenzübergang bei Guerguerat sei inzwischen gesichert und offen. Doch hinter vorgehaltener Hand flüstert er: „Du kannst hier aber nicht mal atmen, ohne dass sie es mitbekommen“, und schaut mir dabei tief in die Augen.
Weiter südlich passieren wir Dakhla. Die Stadt liegt auf einer fünfzig Kilometer langen Halbinsel und gilt als eines der regionalen Zentren der Westsahara. Hier boomt es: touristische Ressorts, ein großer Hafenkomplex, Windparks und Entsalzungsanlagen werden gebaut. Bei Guerguerat passieren wir schließlich die Grenze zu Mauretanien. Es ist ein abenteuerlicher Grenzübertritt: Zwischen den beiden Grenzposten muss man kilometerweit durchs Niemandsland fahren, über eine steinige Wüstenpiste, beidseitig vermint, und durch immer noch umkämpftes Gebiet, das Marokko als einzige Anbindung nach Süden unbedingt halten will.
Mauretanien zählt zu den ärmsten Ländern Afrikas. Seit dem Machtwechsel vor ein paar Jahren kann man es touristisch bereisen. Früher ging das oft nur im Militärkonvoi.
Je weiter wir kommen, desto heißer und trockener wird es. Unsere Gesichter haben wir mit Tüchern umhüllt. Die glühende Luft reizt die Schleimhäute bis zum Nasenbluten und zwischen den Zähnen knirscht feiner Wüstenstaub. Der Sand ist überall: in Kleidung, Schlafsack, Essen. Irgendwann gewöhnen wir uns daran. Mittags suchen wir einen schattigen Platz, was nicht leicht ist: kein Strauch, kein Stein, und die Sonne im Zenit. Oft bleibt nur der Regenschirm als Schutz vor den Strahlen. Wir nutzen ihn auch bei Rückenwind und lassen uns wie kleine Segelboote treiben.
Mauretanien zählt zu den ärmsten Ländern Afrikas. Seit dem Machtwechsel vor ein paar Jahren kann man es touristisch bereisen. Früher ging das oft nur im Militärkonvoi. Das Land ist streng islamisch geprägt und dünn besiedelt. Über achtzig Prozent davon sind Sandwüste. Wir fahren zehn Tage lang, schlafen meist im Freien, und erleben die Stille der Wüste hier am intensivsten. Abends richten wir uns einen Schlafplatz ein und genießen den langen Sonnenuntergang. Nachts ist es meist windstill und wir fühlen uns eins mit allen Elementen um uns. In der Morgendämmerung packen wir wieder und fühlen uns wie Wüstennomaden. Unsere Kamele sind die vollbepackten Räder. In Nouakchott, der Hauptstadt Mauretaniens, machen wir ein wenig Rast. Durch Bevölkerungswachstum und Landflucht ist der Ort zu einer Millionenstadt geworden. Doch über die Hälfte der Menschen lebt in Elendsvierteln am Stadtrand – ohne Strom, Kanalisation und Wasser.
Früchte des Senegal
Langsam ändert sich die Landschaft. Jeden Tag wird es etwas grüner und schließlich tauchen wieder Bäume auf. Wir kommen in die Sahelzone. Es gibt mehr Siedlungen, Dörfer, Menschen die Landwirtschaft und Viehzucht betreiben. Nach einem Monat Sand und Kargheit durchqueren wir wieder fruchtbares Land und nähern uns dem Senegal, dem Grenzfluss zum gleichnamigen Land. Die Menschen sind bunt gekleidet, die Frauen nicht mehr verschleiert, mit Babys auf dem Rücken. Auf den Märkten gibt es frisches Obst, das wir in den letzten Wochen sehr vermisst haben. Viele Kinder überall. „Toubab, Toubab!“ rufen sie uns zu – „Weißer, Weißer!“ – und laufen uns nach. Sie umringen uns neugierig, helfen oder betteln. In ihren Händen halten sie kleine Behälter für Essen, Süßes oder auch Geld.
Der Bergbau im Senegal, wie in weiten Teilen Subsahara-Afrikas, wird hauptsächlich von ausländischen Unternehmen betrieben – mit bedenklichen Enteignungsaktionen und laxen Umweltauflagen.
Durch die Savanne radeln wir weiter südwärts und stoßen bei Lompoul-sur-Mer auf eine abgelegene Bungalowanlage. Hier erholen wir uns am Atlantikstrand von den Strapazen. Erst jetzt wird uns bewusst, dass wir fast am Ende unserer Reise sind. Die Sahara ist nur mehr eine Erinnerung und die Anspannung weicht aus unseren Körpern. Wir lernen Maryvonne kennen, die den Winter stehts hier verbringt. Ihr gefallen die Menschen, das Klima, der geerdete Lebensrhythmus und das ausgeprägte Familienleben. Was ihr nicht gefällt: Seit einigen Jahren ist das Grundwasser ihres Brunnens verseucht. Einige Kilometer im Hinterland wird Zirkonium im Tagebau gefördert und ganze Dörfer müssen mit belastetem Wasser leben. Der Bergbau im Senegal, wie in weiten Teilen Subsahara-Afrikas, wird hauptsächlich von ausländischen Unternehmen betrieben – mit bedenklichen Enteignungsaktionen und laxen Umweltauflagen. Ein großer Teil des Metalls geht unverarbeitet in den rohstoffhungrigen Westen, wo es etwa in der Zahnmedizin oder in der Kerntechnik verwendet wird. Die Wertschöpfung im Senegal bleibt hingegen minimal.
Einige Tage später – wir sind bereits in Dakar angekommen – besuchen wir die Biennale für zeitgenössische afrikanische Kunst. Beim Betrachten der Werke wird mir bewusst, wie tief die jüngere Geschichte von Versklavung und Kolonialismus noch heute im kollektiven Gedächtnis verwurzelt ist. Die Sklaverei ist zwar vorbei, doch die Fesseln des Kolonialismus sind bis heute spürbar. In der Kunst finden die Menschen einen Ausdruck dafür und rebellieren gegen die Umstände. Der Tag unseres Heimflugs rückt näher – und mit ihm das Ende dieser Reise. Es waren schöne Wochen: inspirierend und anstrengend, tiefgehend und fordernd. Leid und Freude lagen oft nur einen Atemzug voneinander entfernt. Jetzt, am Ende, bleibt vor allem Dankbarkeit. Für alles, was wir erleben, fühlen und lernen durften. Keinen Moment davon möchte ich missen.
Text: Raimund Algrang
Dieser Text erschien erstmals in der Straßenzeitung zebra. (01.07.2025 – 01.09.2025 | 108)
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