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Veronika Felder
Veröffentlicht
am 16.04.2020
LebenGeneration „lost“

Die Angst auf der Zielgeraden

Veröffentlicht
am 16.04.2020
Obwohl ihr Studium Sylvia nicht glücklich machte, wollte sie es abschließen. Doch dann kam die Angst – und bot ihr die Chance, einen neuen Weg zu finden.
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Sylvia steht in der Schlange einer der vielen Supermarktkassen ihrer Heimatstadt. Eigentlich ein unbedeutend nebensächlicher Einkauf, wie an so vielen anderen Tagen auch. Doch es kommt anders. Eine ehemalige Grundschullehrerin erkennt sie, spricht sie an, fragt nach Befinden und Karriere. Sylvia erzählt von ihrem Architekturstudium an der Technischen Universität und erhält eine Antwort, die sie wohl ihr Leben lang in Erinnerung behalten wird. „Wow, dass du dich mal so weit entwickelst, das hätte ich nie gedacht.“

Man könnte die Begegnung, die nun schon einige Jahre her ist, als unbedeutenden Smalltalk abtun – eineinhalb Minuten, nicht weiter wichtig. Doch dieser Satz beginnt in Sylvias Kopf zu sickern und setzt sich fest. Bewusst wurde ihr das erst später, als die Versagensängste in ihr Leben traten – als sie ihre Diplomarbeit schreiben sollte. Sylvia weint, wenn sie davon erzählt. Die erlebte Verzweiflung und der Schmerz werden greifbar. Selten wagt sie sich zurück in diese dunkle Ecke ihrer Erinnerung, selten spricht sie über diese Erlebnisse – weswegen sie auch ihren richtigen Namen nicht veröffentlicht sehen möchte. Versucht sie heute die Dinge auszumachen, die damals schiefgelaufen sind, beginnt sie mit ihrem Berufswunsch.

„Ich hatte nicht die Nerven, darüber nachzudenken, was ich wirklich will.”

Bereits Jahre bevor sie sich auf der Zielgeraden ihres Studiums befand, wusste sie, dass sie nicht als Architektin arbeiten wollte. Die Vorstellung ein Studium abzuschließen, ohne zu wissen, was danach kommen soll, machte ihr Angst. „Ich hatte nicht die Nerven, darüber nachzudenken, was ich wirklich will. Ich habe nur darüber nachgedacht, dass ich das Studium abschließen muss“, sagt sie heute. Sie wollte der Gesellschaft beweisen, dass sie dazu in der Lage sei, doch gleichzeitig war die Angst davor, den Anforderungen nicht zu entsprechen, groß. Alle anderen in ihrer Umgebung schienen bereit fest im Leben zu stehen, zu wissen, was sie machen wollten, hatten fertig studiert. Doch dieses eine Ziel, an dem sie die ganze Sinnhaftigkeit ihres Lebens zu messen begann, wurde zum Endgegner, das Schreiben der Diplomarbeit zu ihrem größten Albtraum.

Hinzu kam, so führt sie ihre Diagnose heute fort, ihr Unwissen darüber, was eine wissenschaftliche Arbeit eigentlich ist und wie man sie verfasst. Bei den Treffen mit dem von der Universität gestellten Betreuer weinte sie oft, er kochte ihr Tee. Ein Gespräch, das ihr hätte weiterhelfen können, kam nie zustande, auch deshalb, weil sie nicht wusste, welche Fragen sie eigentlich stellen sollte. Bald konnte sie sich nicht mehr in der Nähe des Universitätsgebäudes aufhalten, ohne in Tränen auszubrechen. Ihr Lieblingscafé war von nun an tabu – die Ausflüge endeten mit Herzrasen, Tränen, emotionalen Zusammenbrüchen. Überschattet wurde diese Lähmung von einer persönlichen Krise, auch das weiß Sylvia heute. Sie wurde älter, aber wusste nicht wohin. Sie gestand sich die Dinge, die sie wollte, nicht ein, verdrängte Fragen nach ihren Stärken und wie sie diese umsetzen könnte. Der Druck, der auf ihr lastete, ergab sich auch aus ihrer eigenen Haltung: Man sollte doch eigentlich wissen, was man will, man sollte studiert haben, um den Normen zu entsprechen. Sie dachte sich: „Ich will das einfach nur fertigmachen, dann kann ich wieder leben.“

Doch dann zog Sylvia nach Holland. Weg von der mittlerweile verhassten Geburtsstadt, Anwesenheitspflicht gab es im Studium nicht mehr, eine gute Idee also. Doch plötzlich standen andere Dinge im Vordergrund: Wohnung suchen, Freunde kennenlernen, das Praktikum, die finanziellen Sorgen, die damit einhergingen. Sie hatte mittlerweile zwar das Thema der Arbeit festgelegt (die Umnutzung von ungenutzten Kirchen), begann Kirchen zu besichtigen, Fotos zu machen – blieb aber wieder auf der Strecke. Vier Jahre vergingen, dann lief der Studienplan aus, das Diplomstudium wurde in einen Bachelor- und Masterstudiengang aufgeteilt. Das änderte alles. Um die Anforderungen des neuen Curriculums zu erfüllen, musste sie wieder Lehrveranstaltungen besuchen – und es ergab sich eine unerwartete Chance. Durch den Umstieg bestand nun die Möglichkeit einen Bachelor-Abschluss zu erlangen, ohne eine Arbeit schreiben zu müssen. Ein Abschluss ohne Abschlussarbeit.

„Ich bin reifer, ich habe viele Komplexe abgelegt, ich habe Antworten auf viele Fragen.“

In irgendwelchen Kisten bewahrt sie auch heute noch die Listen der Kirchen, die gesammelte Literatur und die Fotos auf. „Geschrieben habe ich kein Wort“, sagt sie nüchtern. Doch das soll sich nun ändern – sie ist wieder kurz davor, ein Studium abzuschließen. Nachdem sie den Bachelorabschluss in der Tasche hatte, verschob sie die Prioritäten in ihrem Leben. Sie fragte sich, was sie eigentlich für ein Leben leben möchte, und überlegte, welcher Job ihr Freude machen könnte. Dann beschloss sie, Journalismus zu studieren. Nun ist sie wieder auf der Zielgeraden, was fehlt, ist nur noch die Masterarbeit.

Doch sie weiß, dass es diesmal anders wird. „Ich bin reifer, ich habe viele Komplexe abgelegt, ich habe Antworten auf viele Fragen“, sagt sie. Sie weiß nun, dass es Coachings gibt, für Studierende in ebensolchen verzweifelten Situationen. Es gibt Schreibzentren, professionelle Hilfe. Doch erstmal will sie davon nicht Gebrauch machen. Vielen Freunden und ihren Eltern hat sie nicht erzählt, dass sie wieder studiert. Sie hatte nicht das Bedürfnis, wollte sich nicht dem Druck aussetzen. Sie spricht nur mit wenigen Bekannten und ausgewählten Freunden darüber. An die sie sich etwa in den letzten Wochen gewendet hat, als das Coronavirus begann, unseren Alltag zu lähmen. Denn anstatt die verordnete Ruhe mit Produktivität zu durchbrechen, passierte das Gegenteil. Sie schaffte es nicht, sich aufzuraffen, stellte die Arbeit völlig ein.

„Es ist normal, dass man sich nicht gut konzentrieren kann, wenn eine Pandemie die Welt heimsucht“, sagt Sylvia selbstbewusst. Vor ein paar Tagen hat sie sich erstmals wieder für ein paar Stunden mit der Masterarbeit beschäftigt. Es wird noch dauern, bis sie wieder Vollzeit daran sitzen können wird, aber sie ist guter Dinge. Vieles ist ihr im Laufe der Jahre klargeworden. Etwa, dass sie die Schritte in ihrem Leben nicht für die anderen macht, nicht für ihre Eltern, nicht für ihre Freunde – und nicht für eine ehemalige Lehrerin. Sondern für sich – und sollte sie nicht erfolgreich sein, dann ist das allein ihre Sache. Indem sie sich selbst die Möglichkeit eingesteht, auch eine Studienabbrecherin sein zu können, schafft sie Distanz und Freiraum – und vielleicht gerade auch deswegen den Studienabschluss.

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