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Veröffentlicht
am 12.09.2016
LebenStraßenzeitung zebra.

Das große Vergessen

Veröffentlicht
am 12.09.2016
Demenzkranke stellen das Leben ihrer Angehörigen auf den Kopf. Die Straßenzeitung .zebra hat zwei Frauen besucht, die ihre kranken Mütter zu Hause pflegen.
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Der Verfall kommt schleichend. Zuerst sind es nur einzelne Wörter, schwere Wörter wie „Rhythmus“ und „Manschettenknopf“ und die kann man auch mal vergessen. Dann sind es andere, leichtere Wörter, wie „Dominosteine“ und „Backblech“, die plötzlich weg sind und dann auftauchen, wenn man eigentlich „Würfel“ oder „Teller“ sagen will. Nach und nach kommen zu den Wörtern die Menschen, die man kannte. Sie werden zu diffusen Gedanken, die verschwinden, bevor sie greifbar sind und ein Gefühl der Angst und Verzagtheit hinterlassen – bei Betroffenen wie Angehörigen. Weltweit leiden ca. 44 Millionen Menschen an demenziellen Erkrankungen, in Südtirol sind es rund 12.000, wobei jährlich 1.000 Neuerkrankte dazukommen.

Das Gefühl der Verzagtheit kennen Monika und Enza beide: Sie pflegen seit Jahren ihre demenzkranken Mütter zu Hause. Monikas Mutter Inge lächelt mich verlegen an, als ich mich zu ihr setze und sie frage, was sie gerade liest. In Bozen regnet es heute, im Garten biegen sich die Palmen. Das Haus der Familie, das Monikas Großvater in den 60er-Jahren erbaute, wirkt wie eine Insel mitten im geschäftigen Bozen.

Zum Gestern hat Inge keinen Zugang mehr und wie es morgen wird, wird man morgen sehen – das Heute zählt und heute geht es Inge gut. Die zarte Frau ist ruhig, wirkt zufrieden und schließt nach kurzer Überlegung ihr Buch, um auf den Titel zu deuten: Es ist ein Witzebuch. Seit zehn Jahren leidet Inge an der Alzheimer Demenz. Nach der tragischen Diagnosestellung hat sich erstmal wenig für ihre Tochter Monika geändert, denn deren Vater lebte zu diesem Zeitpunkt noch. „Hätten Sie mich vor zehn Jahren gefragt, dann hätte ich Ihnen nie gesagt, dass ich meine Mutter heute pflegen würde“, sagt Monika ruhig und sieht mich mit ihren hellen Augen an.

Sie habe nicht geahnt, dass sie es sein werde, dass es so schnell gehen würde. Daran denkt man nicht, wenn man zwei Söhne versorgt und arbeitstätig ist. Dann ist der Vater verstorben und plötzlich war Monika das neue Familienoberhaupt. Damit habe sie sich am schwersten getan, sagt die zierliche Frau leise. Es sei nicht einfach, eine neue Rollenverteilung anzunehmen, die sich verkehrt anfühlt: Das Kind übernimmt, die Mutter braucht Hilfe.

Diese Herausforderung kennt auch Enza. Nach Diagnosestellung war sie so verzweifelt wie wütend gewesen. Wütend darauf, dass es ihre Mutter getroffen hat, dass es keine Heilung für Alzheimer gibt und vielleicht auch darauf, dass es an ihr lag, die Pflege zu übernehmen. Heute, Jahre später, sitzt Enza vor mir, braungebrannt, selbstbewusst, wache Augen hinter einer schicken Brille. Sie habe akzeptieren können, sagt die pensionierte Lehrerin, und das sei wohl die schwierigste und wichtigste Lektion gewesen. Akzeptieren, dass das große Vergessen jetzt Teil ihres Lebens ist, dass die Mutter sukzessive Abschied nimmt von ihren Erinnerungen, die auch Tochter Enza einschließen.

„Devi arrivare ad accettare“, sagt Enza, und sie weiß, wovon sie spricht, sie kennt die Reise. Einen demenzkranken Menschen zu begleiten, sei ein „studio su se stesso“, sagt Enza und ein bisschen wie im Treibsand, schreibt Edith Moroder in ihrem Buch: Entweder man bleibt ruhig, oder man sinkt noch schneller und noch tiefer. Die Eltern haben Opfer für die Kinder gebracht, jetzt sei es an ihr, betont Enza. Damit spricht sie ein Dilemma an, vor dem vor allem viele Töchter stehen: Habe ich die moralische Verpflichtung, meine Mutter oder meinen Vater im Krankheitsfall zu pflegen? Wie kann ich für meine eigene Familie da sein, wenn ein Mitglied aus meiner Ursprungsfamilie rund um die Uhr Betreuung und Pflege braucht?

Sich für die Pflege zu Hause zu entscheiden, ist kein leichter Schritt. Sich für das Pflegeheim zu entscheiden, auch nicht. Meist folgt das eine irgendwann auf das andere. Richtig und falsch gibt es dabei nicht, sagt Monika. Sie ist arbeitstätig, inzwischen nur noch in Teilzeit. Während Monika arbeitet und ihre Söhne in der Schule sind, kommt Pflegerin Maria vorbei, um nach Inge zu sehen. Zu Feierabend übernimmt wieder Monika.

Pflegen bedeutet viel organisieren und wenig Freizeit. Wie lange Monika ihre Mutter zu Hause pflegen kann, weiß sie nicht. „Im Moment klappt es noch gut und wenn es einmal nicht mehr geht, muss man weitersehen“, sagt sie pragmatisch. Sie geht Schritt für Schritt mit ihrer Mutter mit, passt sich dem Tempo der Erkrankung an. Mal geht etwas besser, mal schlechter. Als Pflegende*r wächst man mit der Krankheit mit und oft über sich hinaus. Man lernt Tricks, wird zur Expertin für die kleinen Herausforderungen im Alltag. „Wenn man den falschen Weg eingeschlagen hat, muss man eben einen Schritt zurückgehen“, erklärt Monika sachlich, „vielleicht klappt es ja über einen anderen Weg, die Mutter in den Rock oder die Dusche zu bringen.“

Tricks kennt auch Enza: Recht geben, wenn nichts stimmt, sich entschuldigen, wenn man nichts falsch gemacht hat. Wenn die Erinnerungen auf der Zeitachse verrutschen und als gegenwärtig empfunden werden, wenn soziale Normen kein Gewicht mehr haben, dann spart es Zeit und Nerven, den Weg abzukürzen. Es nützt nichts, Demenzkranken klarmachen zu wollen, dass niemand das Geld geklaut oder den Schlüssel versteckt hat oder dass man nicht ins Haus der Kindheit zurückkehren kann, weil es diese Zeit, diese Menschen und diese Häuser nicht mehr gibt.

Das Ziel ist, möglichst lange und gut zusammenleben zu können. Das ist nicht einfach. Aber es gibt Menschen und Institutionen, die helfen. In Südtirol können sich Betroffene und Angehörige an die Alzheimervereinigung ASAA wenden, um Unterstützung und Rat in pflegerischen, rechtlichen und emotionalen Belangen zu bekommen. ASAA schafft Raum und Möglichkeiten für den Austausch mit anderen betroffenen Angehörigen und hat es sich zum Ziel gesetzt, auch nicht betroffene Südtiroler*innen zu informieren und zu sensibilisieren.

„In Südtirol besteht noch viel Aufklärungsbedarf“, sagt Ulrich Seitz, Präsident der Alzheimervereinigung Südtirol. „Für die Betreuung Demenzkranker ist es wichtig, vor allem auch das Umfeld der Betroffenen über die Erkrankung in Kenntnis zu setzen.“ Nicht alle wissen, dass Gedächtnis viel mehr ist, als sich daran zu erinnern, wo man vor drei Stunden den Schlüssel hingelegt hat. Gedächtnis ist, was wir sind. Es strickt uns aus den Erfahrungen die Persönlichkeit, die wir haben, lässt uns die Mütze auf den Kopf setzen und die Gabel zum Mund führen. Es setzt uns als Mensch in Bezug zu einer Umwelt, die wir nur verstehen und in der wir nur adäquat agieren können, wenn wir sie mit unseren kognitiven Fähigkeiten korrekt entschlüsseln und bewerten können. Alzheimer zu haben, bedeutet, diese Fähigkeit sukzessive zu verlieren.

Aber was tun, wenn die Mutter am Tisch die Servietten ins Trinkglas steckt und die Gäste irritiert sind? „Erklären, immer wieder erklären“, sagt Monika. Und vor allem – und das habe sie erst durch die Krankheit gelernt – muss es einem egal sein, was die anderen Leute denken. Fremdschämen ist ein Privileg der Gesunden. Das ist Monika abhandengekommen, irgendwo zwischen den Notwendigkeiten des Alltags und dem Bemühen, die Mutter trotz allem am sozialen Leben teilhaben zu lassen.

Davon ist auch Enza überzeugt: „Una persona è una persona finché vive“, egal wie alt oder krank sie ist. Da geht es auch um Kleinigkeiten: Der Beamte, der ihrer Mutter die Hand nicht reicht oder alte Bekannte, die sie auf der Straße übersehen. Die Unsicherheit und Angst, etwas falsch zu machen, führt zu Frust auf beiden Seiten und nicht zuletzt dazu, dass Demenzkranke und deren Angehörige isoliert werden. Dann gibt es solche, erzählt Enza, die glauben, es würde wieder besser werden. Aber Alzheimer wird nicht besser, Alzheimer wird immer nur schlechter.

Die Natur der Alzheimer’schen Erkrankung ist der fortschreitende, irreversible Abbau der neuronalen Verbindungen. Nur sehr wenige demenzielle Erkrankungen sind therapierbar. Die große Mehrheit ist es nicht. Die Antidementiva, die bislang auf dem Markt sind, zögern den Krankheitsverlauf etwas hinaus – heilen können sie nicht.

Tatsächlich ist Alzheimer der Wissenschaft noch immer ein Rätsel. Man kennt die molekulare Signatur der Erkrankung inzwischen zwar sehr genau, weiß um eine ganze Reihe pathologischer Prozesse rund um das demenzielle Neuron. Nur wie es dazu kommt, das weiß man noch immer nicht.

Ob sich in naher Zukunft eine medikamentöse Therapie finden lässt, bleibt zu hoffen. Bis dahin sind es die Monikas und Enzas, die unsere immer älter werdende Gesellschaf mittragen und sie ökonomisch entlasten. Zumindest, solange sie nicht selbst an Rückenbeschwerden, Schlafstörungen, Depressionen und sozialer Isolation leiden: Denn Pflegen ist immer auch eine gesundheitliche Herausforderung. „Die Gesundheitspolitik muss sich dieser besonderen Herausforderung mit entsprechender Bereitstellung von Ressourcen stellen“, unterstreicht Ulrich Seitz, „damit ein Verteilen der umfangreichen Pflegearbeit erfolgt und das Netzwerk zwischen den Familien sowie den Gesundheits- und Sozialdiensten ausgebaut wird.“ Es sei ein Irrglaube, dass ein einzelner Mensch die Betreuung eines Kranken übernehmen und sämtliche seelische wie auch körperliche Kraft dafür aufbringen kann.

Es gibt noch viel zu tun auf diesem Gebiet. Alt- und Krankwerden ist unattraktiv und kein Thema, mit dem man die nächste Wahl gewinnt. Dabei triff es uns alle, das Älterwerden, und möglicherweise auch das Krankwerden. Alzheimer ist keine Entscheidung, die man trifft, kein Malheur, das einem passiert, weil man nicht gut genug auf sich aufgepasst hat. Als ich gehe, nieselt es noch. Monika spannt einen Schirm über unsere Köpfe und begleitet mich zum Tor. Im Rückspiegel winke ich ihr noch einmal zu, der zierlichen Frau mit den Bärenkräften.

Von Barbara Plagg

Der Text erschien erstmals in der 20. Ausgabe von „zebra.”, September 2016.

Was ist ASAA? Der Verein Alzheimer Südtirol Alto Adige unterstützt demenzkranke und deren Familien im Pflegealltag. Dazu wurde am Hauptsitz in Bozen ein Sorgentelefon eingerichtet, das zu den Bürozeiten (Mo-Mi-Fr 17 bis 19 uhr; tel. 0471 051951) besetzt ist. Es gibt Selbsthilfegruppen in Bozen, Meran, Sterzing und Klausen, eine Fachbibliothek und diverse Infomaterialien. Mit Tagungen, Vorträgen und Beratungsgesprächen will A.S.A.A. die Öffentlichkeit sensibilisieren. Nähere Informationen unter www.asaa.it

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