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Irina Angerer
Veröffentlicht
am 13.12.2023
LebenFaszination True-Crime

Darf Mord unterhalten?

Veröffentlicht
am 13.12.2023
Ungelöste Fälle mit echten Täter:innen und deren Opfern: Das Genre „True Crime“ ist einer der erfolgreichsten Medientrends der vergangenen Jahre. Was steckt hinter dem Erfolg? Und ist es moralisch vertretbar, sich von realen Morden unterhalten zu lassen?
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maxim-hopman-PEJHULxUHZs-unsplash

„Baltimore, 1999. Hae Min Lee, eine beliebte High School-Schülerin, verschwindet nach dem Unterricht. Sechs Wochen später verhaften Detektive ihren Klassenkameraden und Ex-Freund Adnan Syed wegen Mordes. Er behauptet, unschuldig zu sein, obwohl er sich nicht genau daran erinnern kann, was er an diesem Januarnachmittag gemacht hat. Aber jemand anderes kann es. Eine Klassenkameradin an der Woodlawn High School sagt, sie weiß, wo Adnan war. Das Problem ist, dass sie unauffindbar ist.“

Screenshot von der Auswahl der True-Crime Folgen
auf serialpodcast.org

Die Szene stammt aus der ersten Staffel des amerikanischen True-Crime-Podcasts Serial“. Er wurde 2014 von den Machern von This American Life als spin-off ihrer Radioshow produziert (Anm. d. Red.: So wird in der Unterhaltungsindustrie ein Produkt bezeichnet, das aus einem anderen fiktiven Werk ausgelagert wird). In allen Staffeln und den dazugehörigen Folgen geht es um die verschiedenen Aspekte eines ungeklärten Kriminalfalls. Damals wurde der Mitschüler als Täter verurteilt. Während die Folgen ausgestrahlt wurden, kam es zu Zweifeln an der Rechtmäßigkeit des Urteils und der Fall wurde neu aufgerollt. Nach 23 Jahren Gefängnis wurde der Verurteilte schließlich freigelassen. Innerhalb von zwei Jahren wurde der Podcast über 80 Millionen Mal abgerufen und gilt bis heute als Mitbegründer für das Genre „True-Crime“.

Dass Serial so erfolgreich war, wundert Christine Hämmerling nicht. Sie forscht an der Universität Zürich zu Medien und Popkulturen. Laut der Wissenschaftlerin passe das Format Podcast besonders gut zu True Crime, da es zwischen Nachrichten-Reportage und Unterhaltungsformat schwankt. „Manche funktionieren eher als Dokumentationen, andere eher als Thriller, die Unterhaltungsfunktion variiert also“, sagt Hämmerling. Die unterschiedlichen Formate sind über unzählige Kanäle und Medien erreichbar, das macht sie auch populär. Zudem können verpasste Folgen jederzeit nachgeholt werden.

Faszination für das „Böse“

Echte Kriminalfälle faszinierten Menschen schon lange bevor es Podcasts gab: so waren publizierte Beschreibungen von aktuellen Gerichtsverfahren in Tageszeitungen bereits vor Hunderten von Jahren sehr beliebt. Die ZDF-Sendung „Aktenzeichen XY“ unterhält schon seit über 50 Jahren Millionen von Zuschauer:innen. Und auch in der Literatur sind „wahre Verbrechen“ neben den klassischen fiktiven Krimis ein gern gelesenes Genre: die Bücher von Ferdinand von Schirach waren mitunter so erfolgreich, weil viele der Geschichten auf wahren Ereignissen basieren. Zusätzlich gibt es mittlerweile zahlreiche Magazine über reale Mordfälle sowie Netflix-Serien wie „Making a Murderer“.

„Viele Krimis, so auch der in Deutschland besonders beliebte ,Tatort‘, sind deshalb so fesselnd, weil etwas gezeigt wird, was prinzipiell auch passieren könnte oder vielleicht sogar schon so ähnlich passiert ist“.

Christine Hämmerling

Wie unterscheidet sich aber die Begeisterung für reale Verbrechen von fiktiven Kriminalromanen oder Horrorfilmen? „Menschen waren schon immer von Skandalen und Verbrechen fasziniert. Fiktive Geschichten nehmen diese Faszination auf, erleichtern aber die Distanznahme, die nötig ist, um sich von Schrecklichem unterhalten fühlen zu könne“, erklärt Hämmerling. True Crime-Formate scheinen es sich da etwas schwerer zu machen: Wie kann man sich von Morden unterhalten lassen, die wirklich passiert sind? Der Unterschied sei allerdings nicht ganz so groß, wie man meinen könnte, findet Hämmerling: „Viele Krimis, so auch der in Deutschland besonders beliebte ,Tatort‘, sind deshalb so fesselnd, weil etwas gezeigt wird, was prinzipiell auch passieren könnte oder vielleicht sogar schon so ähnlich passiert ist“.

Wenn Menschen True Crime anhören, genießen sie meist nicht das Verbrechen, sondern den Befreiungsmoment, wenn etwa große Spannung aufgelöst wird. „Sie rätseln mit den Ermittelnden mit und haben den Eindruck, etwas Authentisches zu erleben“. Zudem ist für das Publikum reizvoll, auch die Psychologie von Verbrecher:innen zu ergründen: „ Das geschieht nicht, weil sie diese sympathisch finden, sondern weil das ,Böse‘ fasziniert“, erklärt Hämmerling.

Ist das noch Unterhaltung?

„MORD AUF EX ist der True Crime Podcast, bei dem sich ein Glas Wein zu viel eingeschenkt wird. Dann wird los gegossiped: über Ted Bundys Mutterkomplex, Lieblingsprofiler John Douglas oder unser Liebesleben. Klingt alles ein bisschen absurd? Ist es auch.“

So wird einer der größten deutschen True-Crime Podcasts auf der eigenen Website beworben. Die Podcast-Hosts Leonie und Linn erzählen darin wöchentlich von einem Kriminalfall. Sie trinken dabei Wein, reden immer wieder mal über ihr Privatleben und machen dazwischen Witze – um besser mit den Fällen „copen“ zu können, wie sie in einigen Folgen erklären (Anm. d. Red.: als „Coping-Strategie“ wird die Art des Umgangs mit einem als schwierig empfundenes Lebensereignis oder Thema bezeichnet.) Nicht alle finden den Podcast gut. Die Kritiker:innen stoßen sich vor allem an der lockere Art und Weise, wie die jungen Frauen über die Verbrechen sprechen. Dennoch scheint das Konzept erfolgreich zu sein: der Podcast erreicht über 1,5 Millionen Hörer:innen pro Monat.

„Ich halte es tatsächlich für makaber, sich schlicht am Leid anderer zu ergötzen. Es ist aber denkbar, dass es Menschen gibt, für die das Genre gut ist, um dunkle Gefühle an Orten abzulassen, an denen sie niemandem wehtun.“

Christine Hämmerling

Aber ist es überhaupt moralisch vertretbar, dieses Genre zu genießen? Schließlich stecken hinter jedem „wahrem Verbrechen“ oft Jahre voller Leid und trauernde Angehörige. Hämmerling hat eine klare Meinung dazu: „Ich halte es tatsächlich für makaber, sich schlicht am Leid anderer zu ergötzen. Es ist aber denkbar, dass es Menschen gibt, für die das Genre gut ist, um dunkle Gefühle an Orten abzulassen, an denen sie niemandem wehtun.“ Aber: „Wenn reale Verbrechen zur Unterhaltung dienen sollen, muss irgendwie erklärt werden, warum es vertretbar ist, das Verbrechen zu Unterhaltungszwecken zu nutzen“, findet Hämmerling. Zum Beispiel, um eine bisher ungehörte Perspektive aufzuzeigen, um Angehörige endlich sprechen zu lassen sowie das Verbrechen doch noch aufzudecken. Oder aber um andere potenzielle Opfer zu warnen.

Wichtig ist es auch, dass bei all der Nähe zu den Täter:innen und Schauplätzen eine Distanz erzeugt wird, erklärt Hämmerling. Das geschieht zum Beispiel dadurch, dass das Programm auch jederzeit abgeschaltet werden kann und es einen Auftakt sowie Abspann gibt, der die Rezipient:innen in das Geschehen hinein- und auch wieder hinausführt. Auf die Frage hinsichtlich der Gefahr, dass Menschen die Taten nachahmen könnten, antwortet Hämmerling: „Es gibt immer die Möglichkeit, dass Ideen weitergegeben werden. Manche verbrecherische Handlung wird daher in Filmen auch ausgespart.“ Allerdings gebe es inzwischen so viele Podcasts und Sendungen, dass nicht mehr alle in Hinblick auf dieses Risiko gecheckt werden können. Die Produzierenden müssen darauf vertrauen, dass die Zuschauer:innen moralisch stabil sind und genug Mediennutzungskompetenz besitzen. 

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