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Lisa Maria Kager
Veröffentlicht
am 18.03.2014
MeinungFilm ab!

Nymphomaniac

Veröffentlicht
am 18.03.2014
Skandal-Regisseur Lars von Trier kündigte seinen neuesten Film als Porno an. Beim Kinobesuch macht sich unsere Autorin ihre eigenen Gedanken.
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Pornographie, zu viel Sex, Verbot für den Erotikfilm – so kündigen die Medien das neue Meisterwerk Lars von Triers an. Dass der Meister die Provokation liebt, wissen wir spätestens seit den letztjährigen Filmfestspielen in Cannes. Nun hat er wieder zugeschlagen. Scheinbar zumindest.

Da ich Trailer von vornherein verabscheue, weil ich finde, dass sie Kinobesuche unnötig machen, spare ich mir auch die Vorschau für „Nymphomaniac“ und stürze mich direkt ins Vergnügen. Unvoreingenommen starte ich meinen Kinobesuch nach dem Lesen der vielen Kritiken zwar nicht, doch zwei Kinokartenreservierungen später stehe ich trotzdem vor Saal Nummer drei im Filmclub Bozen. Am Eingang erwarten mich bereits die vom Orgasmus verzerrten Gesichter der Hauptdarsteller. Von Shia LaBeouf und Uma Thurman über Christian Slater und Willem Dafoe bis zu Charlotte Gainsbourg sind alle vertreten. Nur die Zuschauer fehlen. Bis zum Beginn des Films sitze ich etwas verloren und einsam da.

Von der letzten Reihe her leuchten die wasserstoffblonden Köpfe dreier Mittsechzigerinnen, die sich, gut eingedeckt mit Bier, angeregt über ihre Erwartungen an den Film unterhalten. Vor mir eine Gruppe Jugendlicher, die augenscheinlich der Sexszenen wegen hier ist. Links neben mir zwei ältere Herren mit angegrautem Haar, die sich unter den ganzen Frauen irgendwie fehl am Platze fühlen müssen. So viele sind es also nicht, die sich Freitagabend in der Hauptstadt für das neue Werk des Meisters interessieren.
Vorhang auf. Film ab.

Kapitel 1: The Compleat Angler

Die ersten Minuten bleibt die Leinwand schwarz. Leise Regentropfen im Hintergrund. „Ich glaub, wir sind im falschen Film“, schallt es mehrmals hintereinander aus der Reihe der Blondinen. Die Leute werden unruhig, schnaufen, pfeifen und räuspern sich. Doch Lars von Trier beruhigt sie sogleich mit Bildern von tröpfelndem Regen. Plötzlich zuckt das Publikum zusammen. Laute Rammsteinmusik gepaart mit dem Bild einer verprügelten Frau, die am Boden liegt. Das soll also mein erster Eindruck vom Trier-Porno sein? Nein.

Darf ich vorstellen? Die verwundete Frau am Boden ist Joe. 40 Jahre alt. Die Hauptdarstellerin. Die Nymphomanin, die gleich beim älteren, weißhaarigen Juden Seligman Unterschlupf finden wird. Er liest sie nämlich vom Boden auf und schleppt sie mit zu sich nach Hause, wo er sie aufpäppelt. Bei mehreren Tassen Tee mit Milch erzählt Joe Seligman die Geschichte ihres Lebens, besser gesagt ihres sexuellen Werdegangs, unterteilt in Kapiteln. Ihr Ziel: Seligman zu beweisen, dass sie ein schlechter Mensch sei.

Von der Entdeckung ihrer „Möse“ geht es über ihre Entjungferung durch den jungen Jerôme bis hin zur Gründung eines kleinen Clubs mit ihren Freundinnen. In diesem verehren sie ihre Vulva, ihre Maxima Vulva und schwören sich, nie mehr als einmal mit dem gleichen Mann zu schlafen. Während Joes Erzählung nimmt der Jude Seligman den Part des Diminutivs ein. Er schwächt das „Pornoszenario“ aus Joes Leben mit netten Vergleichen ab. Als Joe haufenweise Männer auf einer Zugtoilette vögelt, spricht er vom Fliegenfischen. Als sie von ihrer Entjungferung erzählt, entdeckt er in der Geschichte nur Zahlen aus der Fibonacci-Reihe. Metaphern, Vergleiche und Beschönigungen sind scheinbar Seligmans Spezialgebiet. Wie Gott sitzt er da, richtet den ganzen Film über nicht über Joe, beruhigt nur ihr Gewissen und zeigt ihr, dass sie keineswegs ein schlechter Mensch ist.

Kapitel 2: Jerôme

Während es um den jungen Jerôme und die wahre Liebe geht, frage ich mich langsam, wo denn hier der Porno bleibt, von dem jeder gesprochen hat. Bisher gab es nur einige harmlose Sexszenen, die keinen der Kinobesucher die geringste Erregung gekostet haben dürften. Eindeutig nicht mehr Schwänze, Brüste und Vaginas als in den Hollywood-Blockbustern des 21. Jahrhunderts. Dazwischen geht es um Joes Jobsuche, ihre Arbeit als Sekretärin bei ihrem „Entjungferer“ Jerôme und das Eingeständnis an sich selbst, dass sie ihn liebt.

Liebe. Ein Wort, gegen das sich Joe seit ihrer Jugend wehrt. An diesem Punkt fangen die ersten Kinobesucher an zu flüstern und, scheinbar vom Film gelangweilt, abzuschweifen. Die einen knabbern an M&Ms, die anderen quatschen. Scheinbar zieht ein Orgasmus-Plakat Zuschauer doch mehr an als die von Vergleichen durchzogene Biographie einer Nymphomanin auf der Leinwand.

Kapitel 3: Mrs. H

Jerôme heiratet seine Sekretärin und haut ab. Joe ist mit ihrer vermeintlichen Liebeserklärung, für die sie drei Monate gebraucht hat, eindeutig zu spät dran. Also befriedigt sie sich selbst, während sie an ihn denkt und flüchtet sich in den Sex mit anderen Männern. Sie muss sogar ein eigenes Würfelsystem entwickeln, um ihre vielen Liebhaber noch unterscheiden zu können. Wenn man mit zehn Männern am Tag schläft, einen Fulltime-Job ausübt und dann doch noch etwas Freizeit haben möchte, braucht das schon Organisationstalent. Hut ab und meinen Respekt für Joe. Einsamkeit und Gefühlskälte scheinen also nicht das Hauptproblem einer Nymphomanin zu sein. Doch Joes Negativgeschichte nimmt erst ihren Lauf.

Kapitel 4: Delirium

Kapitel vier widmet sich dem Tod von Joes Vater. Der Arzt, der sie so viel über die Natur gelehrt und ihr jegliche Freiheit in ihrem Leben eingeräumt hat, stirbt am Ende: Seiner Würde entledigt, angebunden an ein Krankenhausbett. Joe sitzt das ganze Kapitel vier über am Sterbebett ihres Vaters, während ihre Mutter K., die „kalte Zicke“, wie sie Joe nennt, keinen Fuß ins Krankenhaus setzt. Sie fürchte sich. Joe kompensiert ihr „Delirium“ mit Sex. Und langen Spaziergängen durch einen Park, in dem sich monoton jedes Mal dasselbe wiederholt. Mit dem Tod ihres Vaters verliert Joe all ihre Gefühle. Sie fühlt nichts mehr, als das letzte Kapitel beginnt.

Kapitel 5: The Little Organ School

Während sich die drei Blondinen aus der letzten Reihe unter Bachs Polyfonie-Klängen aus dem Kinosaal schleichen, kichern die Jugendlichen vor mir weiter. Joe hingegen erzählt auf der Leinwand von ihrer ganz persönlichen Polyfonie: Dazu gehört ein dicker Mann im roten Auto, der ihr für den Sex Blumen mitbringt. Sein Name ist F. Er wird ergänzt von G.: Lange Haare, schleichender Gang eines Jaguars, nimmt Joe von hinten. Der dritte ist Jerôme. Der Sex mit ihm ist ihre ganz persönliche Krönung. Ihn trifft sie im Laufe der Geschichte im Park zufällig wieder. Zum ersten Mal mischt sie Sex mit der Geheimzutat Liebe. Zum ersten Mal hat sie Sex mit Leidenschaft. Sie fühlt wieder. Doch dieses Gefühl hält nicht lange an. Bereits einige Minuten später endet der Film mit Joes von Schrecken erfüllten Worten: „Ich fühle nichts“.

Die geheime Zutat ist ihr wohl abhanden gekommen. Der Vorhang schließt sich. Mir bleibt die Frage, ob sie sie im nächsten Teil wiederfinden wird. Das erste Häppchen vom fünfeinhalbstündigen Trier-Werk „Nymphomaniac“ hat mich neugierig gemacht.

Nach meinem Kinobesuch stimme ich dem „Spiegel“ zu: „Im Kinosaal aber ist ‚Nymphomaniac‘ lärmend unterhaltsam und erschütternd spannungsfrei“. Die Spur von Porno hält sich in Grenzen. Während sich die einen langweilen, finden die anderen eine spannende Interpretationsvorlage in Lars von Triers vermeintlichem Porno. Gemischt mit ein paar Sexszenen, Bildern von Schwänzen aller Art und einer Prise Witz hat er ein neues Meisterwerk geschaffen. Und zumindest mich zum Nachdenken angeregt.

Teil II von Nymphomaniac kommt im April in die Kinos.

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