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Veröffentlicht
am 17.12.2019
LeuteNotschlafstätte für Obdachlose

Runter von der Straße

Veröffentlicht
am 17.12.2019
In Bozen eröffnete mit dem Winterhaus eine Notunterkunft für Obdachlose. Während sich die Politik Zeit ließ, wollten Freiwillige wie Paul Tschigg nicht mehr länger zusehen.
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Paul Tschigg, Ermira Kola, Caroline von Hohenbühe, Barbara Bertagnolli, Heiner Oberrauch, Federica Franchi und Josef Andreas Haspinger (v.l.n.r.)

Die Politik ließ sich Zeit. Die Zivilgesellschaft hat nicht mehr länger zugeschaut. Vergangene Woche – am 10. Dezember, dem Welttag der Menschenrechte – haben engagierte Bozner Bürgerinnen und Bürger das „Winterhaus“ eröffnet, eine Notunterkunft für obdachlose Familien, Frauen und Männer. Das ehemalige Altersheim in der Carduccistraße 19 gehört dem Unternehmer Heiner Oberrauch. Er stellt es bis März 2020 kostenlos bereit. Neben ihm gehören Federica Franchi, Caroline von Hohenbühel, Barbara Bertagnolli, Josef Haspinger und Paul Tschigg dem Betreiberteam an. Sie führen das Obdachlosenhaus gänzlich ehrenamtlich und ohne öffentliche Gelder. Mehr als 50 Freiwillige unterstützen sie beim Nachtdienst. 43 Schlafplätze hat das Haus, es platzt aber bereits aus allen Nähten und auf der Warteliste stehen weitere 35 Namen.

Der frühere Reisebüro-Unternehmer Paul Tschigg ist seit Sommer in Pension. Er engagiert sich seit vielen Jahren beim VinziBus und hat den VinziMarkt mit aufgebaut, bei dem Bedürftige ohne Geld einkaufen können.

Wer muss in Bozen auf der Straße leben?
Da sind zum einen obdachlose Menschen im klassischen Sinn: Viele sind um die 50 Jahre alt, von Alkohol oder Drogen abhängig und häufig psychisch krank. Dazu kommen einige in- und ausländische Frauen. Frauen sind rechtlich besser geschützt, aber das Leben auf der Straße ist für sie gefährlicher. In den vergangenen Jahren ist auch die Zahl der Migranten angestiegen – Menschen, die auf der Suche nach Arbeit und einem besseren Leben sind, die Krieg und Armut in die Flucht getrieben haben. Oft handelt es sich dabei um junge Männer.

Paul Tschigg

Und wer schläft im Winterhaus?
Im Winterhaus haben wir unter anderem neun afghanische Jungs aufgenommen, alle um die 18 Jahre alt. Außerdem schlafen drei eingewanderte Familien bei uns: eine Familie aus dem Libanon mit drei kleinen Kindern, eine Familie aus Albanien mit einem dreijährigen Kind und eine Mutter mit Kind aus Peru. Sie haben spätabends an unsere Tür geklopft. Wir haben sie aufgenommen, obwohl sie nicht auf unserer Liste standen. In diesen Härtefällen wäre eigentlich die Politik verpflichtet, Lösungen zu finden.

Sie haben beim VinziBus einen guten Einblick bekommen. Wie schafft man es, auf der Straße zu überleben?
Obdachlose Menschen werden ausgegrenzt, sind hoffnungs- und perspektivlos und der Kälte gnadenlos ausgeliefert. Schutz kennen sie nicht. Ich habe in den vergangenen Tagen einige langjährige Obdachlose in der Stadt getroffen und ihnen angeboten, im Winterhaus zu übernachten. Einer hat gesagt, er tue sich schwer, in so einer Einrichtung mit vorgegebenen Regeln zu leben. Er bleibe lieber auf der Straße und in seiner Freiheit. Das ist nicht für jeden nachvollziehbar. Zwei andere obdachlose Männer hingegen haben dankend angenommen und sind glücklich, jetzt ein warmes Bett zu haben.

Welche Strategien eignen sich Menschen an, um in der Kälte und Unsicherheit zu überleben?
Dazu gehört in erster Linie ein fixer Ort, wo sie abends hingehen können: unter eine Brücke zum Beispiel, irgendwo in den Park oder in einen anderen Unterschlupf. Dort verstecken sie ihre Habseligkeiten und halten den Ort sauber. Sie wollen nicht, dass man auf sie aufmerksam wird oder ihnen Decken oder Schlafsäcke weggenommen werden. Mit der Dauer der Obdachlosigkeit werden ihre Überlebensstrategien ausgeklügelter. Die Menschen gewöhnen sich irgendwie daran, im Freien zu leben, auch wenn sie frieren und ihr Schlaf dabei empfindlich gestört wird. Bei jungen obdachlosen Migranten ist das problematischer. Die Kälte ist für sie unerträglich. Sie tun sich schwer bei der Suche nach einem sicheren Ort im Freien. Deshalb haben wir entschieden, im Winterhaus jungen Obdachlosen den Vorzug zu geben. Sie sind sonst in Gefahr, in die Drogenszene abzudriften.

Betrachten wir den schwierigen Hotspot Bozner Bahnhof …
Leider wird derzeit alles, was in Bozen an Schlimmem passiert, sofort mit Einwanderung verknüpft. Es gibt keinen Wunsch nach Differenzierung, im Gegenteil. Die Menschen wollen nicht genau hinsehen. Schuldige sind schnell gefunden. Aber: Jeder Mensch verdient Würde, jeder Mensch hat Bedürfnisse, viele Menschen haben existenzielle Ängste und wenn wir sie im Winterhaus kennenlernen, erleben wir, wie wichtig ein sicherer Ort für sie ist. Sie können endlich aufatmen, zur Ruhe kommen.

Wie gestaltet sich das abendliche Einlassen in das Winterhaus und das Sauberhalten der Zimmer?
Wir haben klare Hausregeln und hatten bisher keine Probleme. Alkohol- und Drogenkonsum sind verboten. Die Einlasszeiten sind zwischen 20 und 22 Uhr, in der Früh verlassen die Menschen das Haus spätestens um 8 Uhr. Wenn manche auf der Straße auch Schwierigkeiten machen: Die Zimmer sind in der Früh aufgeräumt, in den meisten Räumen schaut es so aus, als hätte niemand da geschlafen. Die Dankbarkeit ist spürbar. Manche Gäste können seit zwei, drei Jahren zum ersten Mal wieder in einem Bett schlafen.

Die Betten tadellos gemacht

Wie viele Menschen sind im Winterhaus untergebracht?
Wir sind auf drei Stockwerken mit 43 Betten gestartet und haben für Notfälle ein paar Matratzen hergerichtet. Bereits in der ersten Nacht haben 50 Personen bei uns geschlafen.

Wie lange schafft man es, auf der Straße zu überleben?
Es gibt in der Landeshauptstadt Menschen, die seit 20 und mehr Jahren auf der Straße leben und sich dabei auch irgendwie zurechtfinden. Einige erinnern sich vielleicht noch an „Hansele“. In wenigen Tagen jährt sich sein Tod durch Verbrennen zum achten Mal. Er war stadtbekannt und hatte sicher mehr als 30 Jahre Obdachlosigkeit auf dem Buckel.

Welche Unterstützungen finden Obdachlose in der Landeshauptstadt?
Die Gemeinde Bozen hat gemeinsam mit der Freien Universität einen Stadtplan entwickelt, in dem alle Angebote enthalten sind. Beim Essen sind Obdachlose gut versorgt. Niemand muss hungern. Auch Freiwilligeninitiativen tragen dazu bei. Die Menschen erhalten Frühstück, Mittag- und Abendessen. Es fehlt allerdings ein Hygienezentrum, wo obdachlose Menschen sich und ihre Wäsche waschen können. Menschen ohne Dach über dem Kopf schleppen alles Wichtige mit sich herum. Ein einfacher, aber effektiver Schritt wäre ein Depot, wo sie ihre Sachen verstauen können, damit diese nicht verloren gehen oder gestohlen werden. Solch kleine, einfache Maßnahmen würden auch der Stadt viel bringen, unter anderem mehr Ordnung und Sauberkeit. Aber in erster Linie würde es das Leben der obdachlosen Menschen erleichtern, da sie ihre Habseligkeiten und manchmal auch ihre wenigen Erinnerungen an die Heimat gut verstaut wüssten.

Der Rechtsruck wird auch in Südtirol immer deutlicher. Der Einsatz für Obdachlose bringt keine Wählerstimmen.

Wie kann die Politik in ihre Verantwortung gedrängt werden?
Ich denke, dass wir die Politik mit der Geste des Winterhauses bereits in die Pflicht genommen haben. Endlich verspüren einige politisch Verantwortliche die Notwendigkeit und Dringlichkeit, sich diesem Problem zu widmen. Obdachlosigkeit muss konkret angegangen werden – nicht mit großen und teuren Projekten, sondern mit kleinen Initiativen, die Sinn ergeben und langfristig helfen. Ich möchte dabei auch „Housing First“ erwähnen. Das ist ein alternativer Ansatz im Umgang mit obdachlosen Menschen: Da gibt es keine Massenunterkünfte und kein betreutes Wohnen, sondern eine eigene Wohnung mit Mietvertrag – und das ohne verpflichtende Therapien und Beratungen. An erster Stelle steht die stabile Unterkunft, dann erst werden die Themen Gesundheit, Sucht oder Arbeit angegangen. Nora Tödtling-Musenbichler, die Koordinatorin der VinziWerke Österreich war bereits zwei Mal in Südtirol, um das Grazer und Wiener Modell des VinziDorfes vorzustellen. Dort leben obdachlose Menschen mit Alkoholproblemen in sicheren Unterkünften.

Warum übernimmt die Politik ihre Verantwortung nicht?
Nun, der Rechtsruck wird auch in Südtirol immer deutlicher. Der Einsatz für Obdachlose bringt keine Wählerstimmen.

Die Schere zwischen Arm und Reich klafft immer weiter auseinander. Was passiert derzeit in unserer Gesellschaft?
Weltweit ist die Entwicklung spürbar, dass hauptsächlich Geld und Individualität zählen. Alles wird schneller, hektischer, die Menschen werden einsamer und psychisch labiler. Sie können nicht mehr mithalten und fallen durch die Raster. Werte wie Solidarität, soziales Engagement und Menschlichkeit geraten leider immer mehr in den Hintergrund.

Beim Winterhaus aber zeigt sich die Gesellschaft von ihrer schönen Seite. Wie haben die Menschen auf die Eröffnung dieser Notschlafstätte reagiert?
Die Zivilgesellschaft hat unglaublich positiv reagiert. Wir sind vor 14 Tagen gestartet – ohne einen einzigen Freiwilligen. Man hat uns gewarnt: Das sei nicht zu machen. Innerhalb weniger Tage haben sich auf unsere Medienaufrufe hin mehr als 50 Menschen gemeldet, die freiwillig Nachtdienst leisten. Betriebe haben Bettwäsche und andere Materialien bereitgestellt, das Rote Kreuz hat Betten geliefert, Privatpersonen haben Decken gebracht und gefragt, wie sie sich einbringen können. Auch die Nachbarschaft hat besonnen und wohlwollend reagiert. Und der Stadt Bozen ist bewusst geworden, dass Menschen vor ihren Türen in Realitäten leben, von denen sie kaum etwas ahnten.

Dieses unbekannte obdachlose Bozen ist eng mit dem reichen und schönen Bozen verwoben.

Wer sind die Freiwilligen im Winterhaus?
Die Gruppe der Freiwilligen ist vielfältig, deutsch-, italienisch- und mehrsprachig. Da sind Lehrpersonen, Krankenpflegerinnen, Sozialarbeiterinnen, Büroangestellte und Pensionisten. Alle Freiwilligen, die sich gemeldet haben, werden in den nächsten Wochen einmal eingesetzt und können dann entscheiden, ob sie weitere Nachtdienste übernehmen möchten. Im Winterhaus haben sie die Möglichkeit, das andere Bozen kennenzulernen: Dieses unbekannte obdachlose Bozen ist eng mit dem reichen und schönen Bozen verwoben.

Auch Einwanderer schlafen im Winterhaus. Welche Realitäten erleben diese Menschen?
Bei uns schläft beispielsweise ein junger Mann aus Afrika, der in der Früh zeitig aufsteht, um den Bus zu erreichen und in die Gärtnerei zu kommen, in der er außerhalb von Bozen arbeitet. Da ist ein zebra.Verkäufer, der um halb sieben startet, um die Straßenzeitung morgens unter die Leute zu bringen. Beide finden in Bozen keine bezahlbare Unterkunft, Mietraum würde ihnen auch nicht zur Verfügung gestellt. Eine Frau, die bei uns wohnt, verlässt das Winterhaus ebenfalls um halb sieben: Sie übernimmt Putzarbeiten, hat aber keine fixe Anstellung. Aus der VinziBus-Erfahrung kann ich sagen, dass abends immer mehr Menschen aus Kriegsländern essen kommen, beispielsweise aus dem Irak, aus Afghanistan und Syrien. Kriege oder Klimaveränderung entreißen ihnen die Lebensgrundlage. Sie haben Hunger und Not erlebt. Niemand verlässt aus Spaß oder Abenteuerlust seine Heimat. Wir können von den Gesichtern der Menschen nicht ablesen, was sie erlebt haben: Viele Traumata werden leider ungehört und unbearbeitet bleiben.

Als Unternehmer haben Sie viele Jahre Reisen organisiert. Was motiviert Sie, sich im Winterhaus zu engagieren?
Ich habe viel Glück in meinem Leben gehabt, konnte reisen, habe vieles gesehen und eine tolle Familie, die mich unterstützt. Das Geschenk, das ich für den Freiwilligendienst zurückbekomme, ist groß: Ich bin in den vergangenen Jahren vielen tollen und großzügigen Menschen begegnet. Und ich habe auf der Straße herzhafte, ehrliche und aufrichtige Menschen kennengelernt. Als Gesellschaft tragen wir Verantwortung für diese Menschen.

Maria Lobis

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