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Veröffentlicht
am 16.05.2022
LeuteDialogreihe „Freiheit und Autonomie“

Freiheit und Politik

Veröffentlicht
am 16.05.2022
In der Demokratie geht es um das nie abschließbare Gespräch und darum, möglichst alle einzubeziehen, die in einer Gesellschaft vorkommen, schreibt Maxi Obexer in diesem Gastbeitrag.
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Vielleicht wundern Sie sich etwas, dass ich mich als Schriftstellerin zu Freiheit und Politik äußere, wo doch vielmehr die Freiheit im künstlerischen Wort mein Feld ist.

Allerdings ist auch das ein politisches Feld. Denn es besteht ja kein Zweifel darüber, dass Poesie politisch ist. Poesie ist nicht Politik. Aber Poesie ist natürlich politisch. Sie steht nicht außerhalb eines politischen Raumes und eines historischen Kontextes. Vielmehr bewegt sie sich selbst in einem gesellschaftlichen Raum, der ein dynamischer ist, in dem fortwährend über politische Inhalte verhandelt und entschieden wird. Inhalte über Teilhabe, Zugehörigkeiten, über Ungleichheiten und darüber, welche Korrekturen vorzunehmen sind, beständig, und auch: wie sie vorzunehmen sind.

Selbst wenn die Poesie sich nicht dezidiert politisch äußert, ist sie ein politischer Ausdruck. Indem sie öffentlich macht, wo sie steht, was ihre eigene Position ist, definiert sie mit dem eigenen Raum auch den der anderen. Besonders die Literatur und die Dramatik stehen in der Funktion, demokratische Prozesse zu führen. Die Sichtung des Unsichtbaren – oder des unsichtbar Gehaltenen, und die Verhandlung im öffentlichen Raum ist ihr Metier. Der Dialog ist der Meister des Perpektivwechsels. Und darum geht es in der Demokratie: um das nie abschließbare Gespräch und darum, möglichst alle einzubeziehen, die in einer Gesellschaft vorkommen. Es ist, was die Voraussetzung für die Freiheit garantiert. „Freiheit muss im Aushandlungsprozessen ständig erneuert werden“, so beschreibt es Foucault in seinen Praktiken der Freiheit. Und als Praktiken sind die Verschränkung von Denk- und Handlungsweisen gemeint.

Besonders die Literatur und die Dramatik stehen in der Funktion, demokratische Prozesse zu führen.

Damit habe ich bereits ein gemeinsames Feld von Politik und Literatur bestimmt. Daran anschließend möchte weiter fragen: Was haben die Politik und die Poesie – oder Literatur gemeinsam? Was ist die entscheidende Schnittstelle? Der gemeinsame Raum? Besonders mit Blick auf die Freiheit, die es wahrzunehmen gilt, die es zu sehen gilt, die es zu benennen gilt – als politisches Handeln.

Ich beziehe mich auf die gegenwärtige Gesellschaft in Südtirol, wie ich sie in den letzten Jahren erfahren habe und beobachten konnte: in den Auseinandersetzungen, die sie führt, oder auch: die ich mit ihnen führe. In den Gesprächen mit den Menschen im Dorf. In verschiedenen literarischen Projekten, in Schullesungen, oder Theaterstücken.

Auch am Forum der Summer School Südtirol, einem interdisziplinären Diskussionsformat, das die Erfahrungen aus vielen verschiedenen Bereichen zusammenbringt. Hier beeindruckt mich wiederholt die Offenheit und die Wissbegier der ländlichen Bevölkerung, ohne Berührungsängste zu Autor:innen und Referentinnen aus anderen europäischen Ländern. Auch scheint es kein Thema, wenn italienischsprachige und deutschschrachige Südtiroler:innen zusammendenken – sich zusammendenken.

Aber zurück zur Frage: was Politik und Literatur gemeinsam haben? Beide bewegen sich in Narrativen – in ihren Reden, in den Erzählungen. Und hier: Bezogen auf die Freiheit entscheidet das verborgenere Narrativ mit, für wen die Freiheit gedacht ist. Und wen sie – manchmal auch ungewollt und unbemerkt, davon ausschließt.

Die Narrative
Zugrunde lege ich das Buch von Samira El Quassil & Friedemann Karig: „Erzählende Affen“, sie tragen den in der Kulturkritik häufig gebrauchten Begriff in den politischen Raum. Auch hier scheint mir ein wichtiger Schlüssel für die Lüftung von Narrativen, die teils unbewusst in unseren Köpfen schlummern und die Wahrnehmung der Gegenwart mitbestimmen.

Aber nicht nur die Politik und die Literatur bewegen sich in Narrativen, die gesamte Waren- und Wunschproduktion bewegt sich in verborgenen mitgeschickten Behauptungen.

Wir sind umgeben von ihnen, in jedem Mini-Plot auf einem Werbeplakat haben wir nicht nur eine Geschichte, sondern auch ein Narrativ, das die Erzählung im Verborgenen mitträgt. Wenn eine Frau auf der Motorhaube gezeigt wird, ist die Geschichte: Mit dem Kauf dieses Wagens wirst du auch die Frau dazu bekommen. Wagen und Frau steigern deinen Status und dein soziales Ansehen. Das verborgene Narrativ könnte sein: Wagen und Frau gehören zur selben Klasse, die man besitzen kann. Das Subjekt liegt ganz auf der Seite desjenigen, der über den Kauf bestimmt. Nicht unwichtig ist auch, dass hier erst gar nicht der Versuch unternommen wird, auf heutige Vorstellungen von gleichberechtigten Geschlechterverhältnissen Bezug zu nehmen, oder gar auf den Sexismus. Narrative können sich ganz unabhängig vom zivilisatorischen Fortschritt und von den Realitäten einer Gesellschaft verschicken.

Narrative können sich ganz unabhängig vom zivilisatorischen Fortschritt und den Realitäten einer Gesellschaft verschicken.

Im Verhältnis zum Plot einer Geschichte, ist das Narrativ der verborgene Kern, er unterstellt Verhältnisse, ohne sie erklären zu müssen. Das Narrativ stellt das unsichtbare Gefäß für die Füllung. Sie ist die Behauptung, die nicht behauptet werden muss. Die Erzählung, die nicht erzählt werden muss. Die sich nicht rechtfertigen muss.

Narrative haben Funktionen: Sie schaffen – und sie schützen Entitäten, Einheiten und Identitäten – besonders dann, wenn sie bedroht werden. Und häufig halten sie sich auch dann noch, wenn sie ihre Funktion erfüllt haben, erzählen sich weiter, auch wenn es die inzwischen falsche Erzählung ist.

Autonom und frei
Es liegt an uns, wie wir heute und gegenwärtig darüber bestimmen, wir sollten es nicht ungewollt Narrativen überlassen. Bedingt durch die Südtiroler Geschichte wurde der Freiheitsbegriff eng verzahnt mit dem Begriff der Autonomie. Frei zu sein bedeutete lange: autonom zu sein.

Die Geschichte der Okkupationen und Annexionen hat uns dies gelehrt: Freiheit ist nicht zuerst die Grenzenlosigkeit, die Abwesenheit von Grenzen – sondern die Abgrenzung gegenüber Staaten und politischen Systemen, die dem Land und ihren Menschen ihre Herrschaft aufdrücken. Und dies ohne freie Einwilligung und verbunden mit Unterdrückung und Ausbeutung. Und nicht erst seit Mussolini. Auch die Anbindung an die österreichische Monarchie war keine frei gewählte.

Dass auch die Schweiz einmal Begehrlichkeiten anmeldete und daran dachte, das Land an sich zu binden, ist heute in Vergessenheit geraten. Es gehörte als Grafschaft Tirol zu Bayern und setzte sich gegen die Franzosen zur Wehr. Der Tiroler Volksaufstand gegen Napoleon hat sich auf ganz besondere Weise erhalten; als überragender Mythos eines Freiheitskampfes, bei der Andreas Hofer als symbolische Figur ein Held im überhistorischen Sinne geworden ist.

Freiheit ist nicht zuerst die Grenzenlosigkeit, die Abwesenheit von Grenzen – sondern die Abgrenzung gegenüber Staaten und politischen Systemen, die dem Land und ihren Menschen ihre Herrschaft aufdrücken.

Der blutige Kampf gegen die Fremdherrschaft der Franzosen verschmilzt zuweilen mit dem langwierigen Ringen um die Autonomie in Italien, das zuletzt diplomatisch ausgefochten wurde. Es ist ein nicht unproblematisches Narrativ für die heutige Gegenwart, wenn der blutige Aufstand gegen ein militärisches Besatzungsheer mit dem mühsamen Aushandlungsprozess einer Autonomie in einem demokratischen Rechtsstaat gleichgesetzt wird.

Es ist auch das klassische Schicksal eines Grenzlandes, das an Italien, an die Schweiz, an Österreich grenzt – oder: es ließe sich auch sagen: Mit Italien, mit der Schweiz, mit Österreich, mit Deutschland verbunden ist. Ein entscheidender Unterschied in der Erzählweise, ob wir vom Angrenzen oder vom Verbundensein sprechen.

Sprechen wir von Verbindungen, ergeben sich gleich noch andere, die über die staatliche Einordnung hinausreichen, regionale Verbundenheiten, die Verbundenheit zu den Menschen in alpenländischen Regionen und Provinzen. Diese gemeinsamen wirtschaftlichen und kulturellen Raum gab und gibt es schon lange und ganz unabhängig von staatlicher Grenzziehung. Auch die Verbindung zur Europäischen Union führt über nationalstaatliche Eingrenzungen hinaus.

Die Autonomie Südtirols ist eine historisch erkämpfte Rückgewinnung von Rechten, kulturellen Werten und den Selbstverwaltungsbereichen einer Gesellschaft, die nach der Annexion an Italien und besonders im Zuge einer faschistischen Politik vertrieben oder unsichtbar gemacht werden sollte. Der inzwischen 50jährige Prozess dieses Kampfes um die Selbstbestimmung eines Landes vollzog sich in enger Anbindung an die kulturelle Identität der Menschen in diesem Land. Ein komplexer Prozess, an dem stets zwei – manchmal auch drei Staaten beteiligt waren, und der teilweise vor der Weltöffentlichkeit ausgetragen wurde.

Zivilisatorischen Fortschritt und demokratische Prozesse wie die Frauenbewegung, die Studenten- und Arbeiterbewegung, die Friedensbewegung haben auch hier stattgefunden und die Gesellschaft geprägt.

Komplex auch deshalb: Es ging – und es konnte nie nur allein um eine Rückgewinnung verbriefter kultureller Daseinsrechte gehen. Mit Betonung auf Rückgewinnung. Dies hätte eine rein rückwärtsgewandte Orientierung impliziert. Zeitgleich gab es ja auch die Prozesse einer Gesellschaft, die im Wandel begriffen ist.

Zivilisatorischen Fortschritt und demokratische Prozesse wie die Frauenbewegung, die Studenten- und Arbeiterbewegung, die Friedensbewegung haben auch hier stattgefunden und die Gesellschaft geprägt. Und setzen sich weiter fort im Kampf gegen die Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern, in den Diskursen über Rassismus, Klassismus und Sexismus.

Die unterschiedlichen Migrationsbewegungen sind auch an Südtirol nicht vorbeigezogen, auch in Südtirol haben die verschiedenen Einwanderungsgruppen das Gesellschaftsbild verändert. Wirtschaftliche Prozesse, wie die in der in der Landwirtschaft, der Monokulturalisierung einer einst diversen Landwirtschaft, veränderten die Landschaft, auch die Bauern und Bäuerinnen und ihre Beziehung zu den Tieren und dem Land. In der Debatte über die Rückbesinnung einer weniger ausbeuterischen Landwirtschaft ist vor allem ein Selbstverständnis der Bäuer:innen entscheidend, das sich auf die Gegenwart bezieht.

Geopolitische Prozesse wie die Globalisierung, die Europäisierung, die Regionalisierung – zumindest als Versprechen der Europäischen Union, werden hier genauso geführt wie in sämtlichen europäischen Ländern.

Und auch die Renationalisierung, die Rehabilitierung des nationalen Identitätsbegriffs ist in den europäischen Ländern ebenso zu bemerken wie in Italien. Eng verknüpft mit Rechtspopulismus, Rechtsextremismus und antidemokratischen Positionen. Diese Prozesse haben stattgefunden und sie finden statt – und sie generieren sich aus einem globalen Zusammenspiel. Während die Entfaltung der Autonomie sich vollzog. Sie ist gegenwärtig gefestigt, und ist zumindest von außen nicht bedroht.

Es ist ein geliebtes Narrativ: Ein Land, das um seine Selbstbestimmung kämpft. Einmal angefangen, soll es damit auch nicht wieder aufhören.

Auch wenn sich zuweilen von Außenbetrachtern ein Narrativ gehalten hat. „Wie es denn um den Selbstbestimmungskampf der Südtiroler bestellt sei?“ – werde ich von Deutschen oder Österreicher:innen häufig gefragt. Es ist ein geliebtes Narrativ: Ein Land, das um seine Selbstbestimmung kämpft. Einmal angefangen, soll es damit auch nicht wieder aufhören.

Und auch zuweilen: was in einem Land wie Deutschland nicht so einfach möglich wäre, ohne den Verdacht auf ein Völkisches Denken aufkommen zu lassen: Mit den Bergen und Südtirol lässt sich ein wenig von einem Unabhängigkeitskampf träumen.Ich muss sie enttäuschen, die Urlauber, die von einem Unabhängigkeitskampf visionieren. Dieser Kampf gegen die Aggressoren von außen ist längst vorbei.

Die Frage aber, die sich einer Autonomie seit Anbeginn stellt: Wie schafft sie es, als freie und offene Gesellschaft zu bestehen, durchlässig zu bleiben, um sich weiterzuentwickeln? Wie kann eine Autonomie auch eine pluralistische Gesellschaft vertreten? Denn eine freie Gesellschaft kann sie nur sein, wenn allen der Anspruch nach Teilhabe und Mitspracherecht eingeräumt wird.

Die kulturelle Identität einer politischen Minderheit – sie galt als wichtige Legitimation für ihre Selbstbestimmung. Die Autonomie aber, wie sie heute besteht und entstanden ist im Wandel ihrer Jahrzehnte, kann – und sie sollte von einem Identitätsbegriff entkoppelt werden, der ideologisch besetzt ist und auf ein Völkisches Interesse abzielt. Er würde eine Engführung bedeuten. Er würde Reduktion und Ausschluss bedeuten – und würde einen Großteil der gegenwärtigen Gesellschaft ausblenden.

Wie kann es also gelingen, auf die gegenwärtige Tendenz, den nationalen Identitätsbegriff, wie er von Rechtspopulisten auf staatlicher Ebene proklamiert wird, nicht auch mit einem Identitätsbegriff zu antworten? Sich ihm zu widersetzen – um sich nicht von ihm gefangen nehmen zu lassen?

Zugehörigkeit und Zusammengehörigkeit
Die Freiheit, die wir leben, begründet sich über Zugehörigkeiten, die über die Landesgrenzen hinausreichen. Die Instrumentarien unserer Debatten für den zivilisatorischen Fortschritt werden nicht nur in einem Land geschmiedet, sondern sind Teil italienischer, europäischer und internationalen Denk- und Reflexionsprozesse. Es sind die politischen, wissenschaftlichen, künstlerischen Denk- und Handlungsräume, die entscheidend zu dem, was uns heute ausmacht, beigetragen haben. Wir sollten uns ihrer bewusst sein.

Sich „radikal abhängig“ zu wissen, um einen Begriff von Judith Butler zu verwenden, ist das Gegenteil von Schwäche und bedeutet Souveränität. Woran denken Sie – wenn Sie an die kulturelle Identität der Südtiroler:innen denken? Ich denke an junge Frauen im Dirndl in der besten Dorfpizzeria.

Ich denke an die Südtiroler Student:innen, die in Mailan, Turin Madrid, Brüssel, Genf studieren – dank der, verglichen mit anderen Ländern: sehr gut geförderten Studien- und Bildungsmöglichkeiten, und eng verknüpft mit den europäischen Ausbildungsprogrammen. An Studentinnen und Studenten, die auf 1500 Meter Meereshöhe aufgewachsen sind und ihren Master in Internationale Beziehungen schreiben.

An Diplomat:innen, die für die Uno arbeiten, für Amnesty International, im EU-Parlament. An junge Frauen, die in Wiener, Berliner, Kölner und Frankfurter Verlagsredaktionen ihre Praktika machen und ihre Laufbahn bei Rowohlt Fischer Suhrkamp und im Verbrecherverlag aufbauen. Ich denke an die ukrainische Haushaltshilfe im Feldthurner Schwimmbad traf, die mir die Fotos ihrer drei Töchter zeigt, die in London studieren.

Die Instrumentarien unserer Debatten für den zivilisatorischen Fortschritt werden nicht nur in einem Land geschmiedet, sondern sind Teil italienischer, europäischer und internationalen Denk- und Reflexionsprozesse.

An die 70jährige russische Badante, die seit vierzig Jahren in Südtirol lebt und an ihre Gedichte, die sie schreibt. An die polnische junge Frau, die vor einer frauenfeindlichen regressiven Politik Polens nach Südtirol geflüchtet ist. An den Südtiroler Koch, Paul Grüner, der in der Süddeutschen Zeitung die besten Knödelrezepte verrät und gesteht, dass sein Koch aus Ghana ihn inzwischen in den Knödelkünsten übertroffen hat.

An die jungen Männer afrikanischer Herkunft, die das Zebra-Magazin verteilen. Ich denke an den Bozner Friseursalon eines Sarnthalers, der in Mailand und London die Expertise als Top-Friseur erworben hat. Und an die sieben jungen Mitarbeiterinnen, ebenfalls aus Dörfern wie Sarnthein oder Garn, die zwischen italienisch und deutsch fließend hin- und herspringen.

Ich denke an den unzufriedenen Italienischen Journalisten, der in der selbstverständlichen Vermischung von italienischem und Deutschem nur ein Kaschieren der tiefliegenden Trennung begreift. Und frage mich seither, warum er das so sieht. Und suche seither nach Antworten. Die ich vielleicht ahne.

Ich denke an den Südtiroler italienischen Verleger, Aldo Mazza, der in seinen Büchern die geistesgeschichtlichen Errungenschaften und Entwicklungen Italiens ins Deutsche übersetzt und lebendig hält, damit sich auch ihr prägender Einfluss auf die Südtiroler Geistesgeschichte offenlegt. Dabei denke ich an die Geschichte der Psychiatrie und die Kämpfe um die Aufhebung der Geschlossenen Anstalten. Die Generation meiner Tante, und teilweise noch ich, wurde dressiert mit dem Satz „Bald landest du in Pergine.“

Ich denke an die politische Theorie italienischer Denker:innen, die bahnbrechend waren und das politische Gefüge Europas mit beeinflusst haben. Ich denke an die italienischen Feministinnen, die enorm wichtig und bedeutend waren für Frauenbewegung in Südtirol.

Eine Gesellschaft wird auch dann frei, wenn sie die eigene Geschichte stets neu befragt und erforscht und ihre Bezüge zur Gegenwart offenlegt.

Ich denke auch an die heute älteren, damals jungen Südtiroler Frauen, die während des Faschismus in italienische Städte als Hausmädchen arbeiteten und ihre Erfahrungen mit der bürgerlichen Welt nach Südtirol brachten – gut dokumentiert von Martha Verdorfer. Die außerdem auch die Friedensbewegung der Frauen in Südtirol und etliche andere gesellschaftliche Einflüsse beschrieben hat, die von Frauen in die Gesellschaft gebracht wurden.

Eine Gesellschaft wird auch dann frei, wenn sie die eigene Geschichte stets neu befragt und erforscht und ihre Bezüge zur Gegenwart offenlegt. Ich könnte ewig so fortfahren. An die Schulklassen denke ich, die ich in den letzten zehn Jahren erfahren habe und die eine beeindruckende Vielfalt verschiedener Herkünfte aufweist.

An die Magazine in Print, auf Online und auf Social Media, die mindestens zweisprachig sind und damit einen gemeinsamen Raum manifestieren. An die Dating-Plattformen, die auch in Südtirol zu ganz neuen Paarbeziehungen geführt haben: Südtiroler Paare mit osteuropäischer, ex-jugoslawischer, albanischer Partnerin prägen inszwischen das Dorf- und Stadtbild in Südtirol

Ja, ich könnte ewig so fortfahren. Und Ihnen nichts Neues erzählen. Mehr noch: Je mehr ich aufzähle, umso mehr gewinne ich den Eindruck, ich lass große Teile aus. In der Erzählung „von uns“ müssen sie vorkommen: die neuen Gemeinschaften, die sich gebildet haben, und die alten, die es schon lange gibt.

Der zivilisatorische Fortschritt, der uns begründet, und in ihm die gesellschaftlichen Bewegungen und sozialen Errungenschaften – er sollte miterzählt werden. Der Gleichheitsgedanke, der dem Kampf um die eigene Autonomie zugrunde liegt, er sollte weitererzählt werden in Bezug auf Geschlechter, Schichten, Klassen, in Bezug auf die Einwanderungsgruppen.

In der Erzählung „von uns“ müssen sie vorkommen: die neuen Gemeinschaften, die sich gebildet haben, und die alten, die es schon lange gibt.

Wenn wir Freiheit wollen, müssen sich alle darin frei finden können, und das heißt: sie müssen sich wiederfinden. Sie müssen in den Erzählungen vorkommen und selbst erzählen können. Wenn etwas die Freiheit dieser Gesellschaft bedroht, dann ein entkoppeltes Narrativ, das sich über die entstandenen Beziehungen hinwegsetzt. Es enthält Sprengkraft.

Wir kennen es aus der Geschichte, und wir erleben es gegenwärtig, die Sprengkraft von entkoppelten Narrativen. Sie teilen – sie sprengen eine Gesellschaft. Zerstören Gemeinschaften und Gemeinsamkeiten. Zerstören die Zukunft einer freien Welt. Einer freien Gesellschaft mit egalitären Grundwerten, die es zu verteidigen gilt.

Damit ist politisches Handeln gemeint – es spricht alle an, nicht nur Politiker:innen. Politisches Handeln beginnt im Denken. In einem Denken, das dann bewusst politisch handelt und entscheidet, wenn es die Narrative genau untersucht, die unser Denken bevölkern. Um dann daraus die Handlungsräume zu schaffen. Denn auch Südtirol befindet sich in einem Kulturkampf.

Während der Pandemie habe ich beide Lockdowns in Südtirol verbracht. Ich habe ein erschreckendes Aufflammen von männlicher Gewalt erlebt, begangen an Kindern und Frauen im meist häuslichen Bereich. Massive Ungleichheiten wurden manifest, Frauen, die in den sozialen und familiären Bereichen die Hauptlast trugen, sahen sich außerdem noch im medialen Bereich Diffamierungskampagnen ausgesetzt. Es schien, als würde sich ein altes patriarchales System nocheinmal mit ganzem Willen zu Macht und Unterdrückung aufbäumen.

Das feindselige Sprechen gegeneinander ist nicht, was mit einem unvollendbaren Gespräch gemeint wäre. Es setzt das offene Interesse am Gegenüber voraus Es gibt einen Begriff, den wir an die Stelle der Identität stellen können: es ist der Begriff der Verantwortung. Wer sich verantwortlich fühlt für das Wohlergehen einer Gesellschaft, gehört zur ihr.

Ich glaube, dass wir uns die größte Souveränität zugestehen, wenn wir die Zusammengehörigkeiten wahrnehmen und benennen. Und benennen, wer diesem Land und dieser Gesellschaft zugehörig ist.

Manches fehlt. In der öffentlichen Wahrnehmung. Nur ein Beispiel
Es gibt sehr viele Erzählungen von und über die deutschsprachigen Südtiroler:innen, wenn sie weggehen. Mit ihrem Weggang – und auch mit der Rückkehr von Vielen, ließe sich ein eigenes Genre benennen. Mit ihm verbindet sich ein eigenes besonderes Schicksal. Es ist das der Trennung, ebenso wie das einer ewig währenden Verbundenheit, auch der Zerrissenheit.

Ich kenne etliche italienischsprachige Südtiroler:innen, die das Land verlassen haben, aus denselben Gründen wie ihre deutschsprachigen Zeitgenoss:innen: aus Studiengründen, beruflichen Perspektiven, und vielen anderen mehr. Bei der Buchpräsentation hat mich eine Übersetzerin, die heute in Turin lebt, durch ihr Bozen geführt, ihr Elternhaus, die Straße zur Schule, zum Sportunterricht, zum Musikunterricht. Es war ihre Stadt. Südtirol ihre Herkunft. Dennoch scheint es für sie, die aus Südtirol wegziehen, keine Erzählung des Weggehens zu geben, kein Narrativ einer Herkunft. Als würden sie gehen- und nichts zurücklassen.

Ich war überrascht über das Fehlen eines solchen Narration, das für die deutsschsprachigen Südtiroler:innen so ausgeprägt ist. Nur so kann ich mir übrigens auch die Unzufriedenheit des italienischen Journalisten erklären: Dass die öffentliche Wahrnehmung für ein gemeinsames Feld des Daseins und des Denkens nur sporadisch zu existieren scheint.

Es war ihre Stadt. Südtirol ihre Herkunft. Dennoch scheint es für sie, die aus Südtirol wegziehen, keine Erzählung des Weggehens zu geben, kein Narrativ einer Herkunft. Als würden sie gehen- und nichts zurücklassen.

Ich möchte also nicht darauf hinaus, dass es zuhauf deutsch-italienische Beziehungen, Familien, Freundschaften Gemeinschaften gibt, die längst zur gesellschaftlichen Wirklichkeit gehören, zur Normalität. Sondern darauf, dass es zwar diese Normalität gibt, sich für diese Normalität aber im Erzählen von uns und im Erzählen über uns kaum ein entsprechendes Narrativ etabliert hat. Dasselbe gilt natürlich auch für die mediale Präsenz.

Um die öffentliche Wahrnehmung und Benennung von längst etablierten Realitäten also geht es. Und um die Etablierung eines gemeinsamen Raumes im Denken, im Dasein. Darum, uns zusammenzudenken, und: zusammen zu denken. Im Öffentlichen den gemeinsamen Raum offenzulegen und einzuräumen. Um ihn als gesetzt kenntlich zu machen. Um einen commons sense zu schaffen, und einen common ground zu finden.

Text: Maxi Obexer

Der Vortrag wurde am 6. Mai 2022 im Museion im Rahmen der Dialogreihe „Freiheit und Autonomie“ (Aktionstage Politische Bildung) gehalten, organisiert vom Landesamt für Weiterbildung.

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