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Veröffentlicht
am 13.08.2015
LeuteDebütroman von Lenz Koppelstätter

Der Tote am Gletscher (1-2)

Veröffentlicht
am 13.08.2015
Lenz Koppelstätters Südtirolkrimi erscheint am kommenden Montag, auf BARFUSS gibts einen Vorabdruck zum Reinschnuppern.
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Kapitel 1

Es war wie immer nur dieser eine Moment. Grauner lag zwar schon eine Weile wach, aber seine Sinne waren noch von Träumen umhüllt. Dann ertönte das Piepsen seiner Armbanduhr, ein Fremdton, der den Schwebemoment ohne Vorwarnung auslöschte.

Grauner blinzelte und zählte bis drei. Dann schob er vorsichtig das Federbett beiseite, strich seiner Frau sanft übers Haar und lief barfuß am Zimmer von Sara, seiner fünfzehnjährigen Tochter vorbei, ins Bad.

Den Rücken durchstrecken. Hose runter. Den Hintern auf die eisige Kloschüssel. Hände vors Gesicht.

Herrgott im Himmel, du verfluchter! Du vermaledeiter! Jesus, Maria und Josef! Heiliger Freinademetz! Heiliger Anton! Heilige Cäcilia! Heiliger Alpenflorian! Heilige Barbara! Heilige Notburga! Heiliger Hubert! Heiliger Michl! Heiliger Pimpam!

Grauner fluchte. Zuerst noch einigermaßen amtsdeutsch, dann wechselte er immer mehr in den Südtiroler Dialekt, um schließlich bei einer Mischung aus Dialekt und Italienisch zu landen. Weil sich’s so besser fluchte, weil es so noch böser klang.

Oschpralattn! Madonniga! Puttinziga! Sappralotti! Fockoletti! Zio Zoschtia! Zio Flittn! Zio Teggn! Porca Vacca! Porco Tschuda! Porca la Miseria! Miseronia! Puttanesca! Cavolonia! Cavoletti!

Grauner war kein böser Mensch. Außer morgens, wenn die Uhr piepste, da konnte er ganz schön grantig werden. Da konnte er alle bösen Menschen verstehen, denen er in seinem Leben schon begegnet war. Da konnte er verstehen, wo dieses Böse herkam, da verstand er, dass es tief im Inneren eines jeden schlummerte und dass es manchmal nicht mehr als so ein Piepsen brauchte, um es hervorzubringen.

Grauner griff nach dem Klopapier. Vor ein paar Jahren hatte er ein Abkommen mit dem lieben Gott geschlossen: Einmal am Tag durfte er sich über alles beklagen. Morgens wurde geflucht, dafür aber den ganzen Tag lang nicht mehr, und abends betete er ein Vaterunser. So waren sie quitt, der Commissario Johann Grauner vom Graunerhof, hoch über dem Eisacktal, und der liebe Gott, hoch oben im Himmel.

Frühmorgens Bauer sein, tagsüber Commissario, hast ja recht, lieber Gott, es hätt’ mich auch schlimmer treffen können, murmelte Grauner, ging zurück ins Schlafzimmer, zog sich was über und schlüpfte in die dicke Windjacke und in die grünen Plastikstiefel. Dann ging er rüber in den Stall.

Es hatte geregnet in der Nacht. Schneeregen. Weiter im Westen, im Vinschgau und in dessen Seitentälern, musste es wohl heftiger getobt haben. Grauner schaute auf die Uhr. Es war ein paar Minuten vor halb sechs.

Der alte Kassettenrekorder stand auf einem der dicken Holzbalken, die sich über den Köpfen der Kühe durch den Stall zogen. Als Student hatte Grauner darauf das Beste von damals gehört, doch das langweilte ihn mittlerweile, und das Beste von heute gefiel ihm nicht.

Irgendwann war seine Liebe zu Mahler entflammt, Gustav, dem Spätromantiker, bei einem Konzert unten in der Stadt, zu dem ihn seine Frau überreden konnte.

»Weil du mir sonst versauerst«, hatte die Graunerin gesagt und ihm die Konzertkarten in die Hand gedrückt. Erst wollte er nicht, schließlich war er doch mitgekommen. So wie immer.

Spätromantiker, das hatte auch in der Kurzbeschreibung gestanden, die im Libretto abgedruckt war. Ein Spätromantiker, sagte sich Grauner, das bin ich auch. Bei Disco Star, gleich um die Ecke der Questura in Bozen, kaufte er ein paar Kassetten, was nicht einfach war, da der Besitzer des Ladens schon seit Ende des letzten Jahrtausends kaum noch Kassetten führte und mehr dem Heavy Metal denn der Klassik zugetan war, doch es ließ sich organisieren. Und von da an pfiff Grauner tagein, tagaus Mahlers Sinfonien vor sich hin und war bald davon überzeugt, dass die Kühe beim Erklingen des Allegro risoluto aus der Siebten die bessere Milch gaben.

Wohl wissend, dass alle im Dorf darüber lachten, ließ er nicht ab von der musikalischen Beschallung während des Melkens. Im Gegenteil. Er drehte die Musik von Jahr zu Jahr lauter. Je lauter Mahler ertönte, desto weniger war in Grauners Kopf das Geraune der Leute zu hören. Und desto weniger kam die Vergangenheit zutage, deretwegen sie nach all den Jahren immer noch tuschelten.

Er drückte auf Play und streichelte Margarete über den dicken Bauch. Zwei Kälblein trug sie in sich. Vielleicht ein Weihnachtswurf, hatte der Viechdoktor gesagt. Drei Tage waren es noch bis zur Bescherung.

»Ruhig, Grete, ruhig«, flüsterte Grauner.

Die Wärme der prallen Kuhleiber, der Klang der Siebten. Viechbauer, das war es, was er immer hatte werden wollen. Den Hof bewirtschaften, gemeinsam mit Alba, die er liebte, seitdem er sie als Erstklässler zum ersten Mal gesehen hatte. Die ihn verstanden hatte, vom ersten Tag an. Die er verstand, auch ohne groß zu reden.

Doch Bauer sein, das reichte in den heutigen Zeiten nicht zum Leben, das hatte sein Vater schon richtig erkannt. Der Bub muss studieren, das hatte auch seine Mutter irgendwann einsehen müssen. Grauner war also nach Verona gegangen als junger Maturant, in die große, weit entfernte Universitätsstadt, jenseits des Tales, jenseits von Südtirol. Er hatte sich für die Juristerei entschieden. Seinen Vater und seine Mutter hatte er nicht mehr wiedergesehen.

Er schloss das Studium mit Auszeichnung ab, mit Cento e Lode – mit der Bestnote und einem Sternchen obendrauf. Seine Eltern wären stolz auf ihn gewesen, aber seine Eltern waren nicht mehr. Er wollte den Hof wieder auf Vordermann bringen, und da war dieser Wunsch, der schon seit Langem in ihm schlummerte, besonders seit dem Unfassbaren, das über seine Familie gekommen war.

Sein Wunsch war es, Commissario zu werden. So wie die Helden seiner Kindheit, die im Schwarz-Weiß-Fernseher, der in der Stube stand, den Schrecken der Welt ein wenig linderten. Als just zu dem Zeitpunkt seines Studienabschlusses bei der Polizei einige Stellen ausgeschrieben wurden, reichte er seine Bewerbung ein, gewann den Concorso und arbeitete sich recht schnell vom Ispettore zum Ispettore Capo und über einen erneuten Wettbewerb zum Commissario hoch. Nicht etwa durch Beziehungen – zu einem Staatsanwalt, zum Bischof, zu einem Parlamentarier, zu wem auch immer –, wie es in ganz Italien Alltag war. Nein, er schaffte es durch Ermittlungserfolge. Insbesondere draußen in den Dörfern, wo manch Polizist nur mit Ach und Krach der deutschen Sprache, geschweige denn dem Südtiroler Dialekt beizukommen vermochte, war Grauners Geschick gefragt.

Commissario sein, Verbrecher jagen. Das war ihm mittlerweile ebenso lieb wie Bauer sein. Fälle lösen. Auch den einen, sagte er sich. Dann würde das Geraune endlich verstummen, das hoffte er. Und die Bilder aus dem Kopf verschwinden, die ihm keine Ruhe ließen, das hoffte er noch viel mehr. Irgendwann würde dieser Fall, sein Fall, gelöst sein, das schwor er sich. Er schwor es sich jeden Morgen, wenn er sich im Spiegel sah.

Das Klingeln, es gehörte nicht zum Rondo-Finale der Siebten. Es kam von draußen. Es war das Klingeln des Haustelefons.

»Claudio ist am Apparat.« Die Stimme seiner Frau hallte über den Hof.

Ein Anruf von Ispettore Claudio Saltapepe. Grauner wusste, was das zu bedeuten hatte.

Kapitel 2

»Das waren nicht die Sterne. Das war das Licht einer Stirnlampe«, sagte der Skipisten-Toni, als sie ihm in der Stube die nassen Kleider vom Leib zerrten, ihn in warme Pamperwolldecken hüllten, ihm den Rücken warm rieben und ihm einen doppelten Schwarzen machten – mit einem doppelten Schuss darin.

Drei Männer von der Bergrettung, das halbe Dutzend Pistenarbeiter, der Direktor des Hotels, in das sie ihn gebracht hatten, und zwei Gäste, die durch Tonis Geschrei wach geworden waren, standen um ihn herum.

»Da war einer am Gletscher. Der irrte da umher, mitten im Sturm«, begann Toni zu erzählen. Er sprach stotternd und zähneklappernd. Seine Männer wickelten ihm einen Verband um die Wunde an seiner Stirn. »Das Licht ist über den Rand der Pisten hinausgewandert. In die Richtung der ausgesetzten Stellen, dahin, wo sich im vergangenen Sommer besonders viele Gletscherspalten gebildet haben. Wenn der da reingeht, habe ich mir gedacht, wenn der da in einen der Risse stürzt – dann ist der tot. Wenn er Glück hat, sofort. Wenn er Pech hat, dann bricht er sich alle Knochen und liegt da tagelang. Da kann der schreien, wie er will. Da hört den keiner.«

»Dann verendet der elendig«, sagte einer von der Bergrettung.

»Dann hilft auch kein Beten mehr«, seufzte der Hotelchef.

Toni erzählte weiter und die, die sich um ihn versammelt hatten, erzählten es später allen anderen. Dass er in dem Moment keine zwei Sekunden nachgedacht hatte. Dass ihm das Adrenalin ins Hirn geschossen und er sofort rausgelaufen war. Weil er dadrin ja nicht einfach so sitzen bleiben konnte, während einer da draußen womöglich ums Leben kam.

Toni fuhr also in Richtung des Lichtstrahls. Vollgas fuhr er. Immer wieder schlug die Pistenraupe gegen einen der Schneehügel, immer wieder riss es ihm die Hände vom Steuer. Irgendwann verlor er die Orientierung. Irgendwann umhüllten ihn Wolken und Wind, und es war ihm, als ob der Sturm ihn mitsamt seinem Gefährt im Kreis drehte. Er wusste nicht mehr, wo vorne und wo hinten war. Wo Himmel und wo Erde. Wo Gipfel und wo Tal.

Doch plötzlich sah er etwas im Scheinwerferlicht. Mitten im Tiefschnee, da war jemand. Toni machte den Motor aus und sprang vom Gefährt.

»Obacht, da sind Gletscherspalten!«, rief er.

Doch die Gestalt, die mit dem Rücken zu ihm stand, reagierte nicht. Noch zehn Meter war Toni von der vermummten Person entfernt, als er sah, wie sie etwas in den Schnee fallen ließ. Ein schwerer Rucksack, dachte Toni zuerst, aber viel Zeit zum Denken hatte er da schon nicht mehr, denn die Gestalt drehte sich in diesem Augenblick um und stapfte auf ihn zu. Sie trug eine Mütze, eine Skibrille und einen Schal ums Gesicht.

Toni versuchte noch, das Funkgerät aus der Seitentasche der Skihose zu holen. Er wollte noch den einen Handschuh ausziehen, um die kleinen Knöpfe bedienen zu können, doch da schlug der Vermummte ihm das Gerät aus der Hand.

Im nächsten Moment spürte Toni einen Schlag an der Schläfe, er spürte, wie ihm das warme Blut übers Gesicht lief und sah noch, wie die Gestalt auf seine Pistenraupe kletterte und die Lichter talabwärts verschwanden. Dann sank er zu Boden.

Toni hatte wohl für einige Sekunden das Bewusstsein verloren, und als er wieder zu sich kam, tobte der Sturm immer noch.

Blind suchte er den Schnee ab und ertastete etwas. Es war kein Rucksack. Er kroch näher ran und roch es. Toni kannte den Geruch. Jeder im Tal kannte ihn. So rochen die Ladeflächen der Jäger und Wilderer, wenn sie eine Gams geschossen hatten und sie mit ihrem Geländewagen zu Rosas Bar brachten, um dort eine Runde auszugeben.

Es roch nach totem Blut. Aber Gams war das keine. Denn das, wonach Toni da mit den Händen fasste, war kein Fell, das war kalte Haut.

Ihm kam die Galle hoch. Er würgte und spuckte und rieb sich Schnee ins Gesicht, um nicht ein zweites Mal das Bewusstsein zu verlieren. Er irrte umher und verlor das Zeitgefühl. Mehrmals fiel er hin, sein kaputtes Knie schmerzte, und er schrie gegen den Sturm an, er schrie den Schmerz in die kalte Nacht hinaus. Nur durch Glück und Zufall hatte er irgendwann wieder die Piste unter den Bergschuhen gehabt.

Lenz Koppelstätters Debütroman „Der Tote am Gletscher” erscheint am 17. August 2015 als Taschenbuch und E-Book im Verlag Kiepenheuer&Witsch.
(ISBN: 978-3-462-04728-8, 320 Seiten)

Lenz Koppelstätter, Jahrgang 1982, ist in Bozen geboren und in Südtirol aufgewachsen. Nach dem Studium der Politik in Bologna und der Sozialwissenschaften in Berlin absolvierte er in München die Deutsche Journalistenschule. Als freier Autor hat er u. a. für den Tagesspiegel und Zeit online gearbeitet, als Textchef für zitty. Für BARFUSS hat er zwei Kolumnen verfasst: 865 Kilometer und Auch schon 30. »Der Tote am Gletscher« ist sein erster Roman.

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