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Illustrations by Sarah
Barbara Plagg
Veröffentlicht
am 22.01.2024
MeinungRezension zum VBB-Stück „Metamorphosen“

Götterdämmerung: Die Zerlegung des Zeus 

Zeit für Entmystifizierung! „Metamorphosen“ holt die Götter von ihren Thronen und rechnet ab. Barbara Plagg über das Theaterstück und vergessene Stimmen hinter patriarchalen Heldenerzählungen.
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copyright Victor_Gabriel Hofer_METAMORPHOSEN_06 (5)

1783 bekommt die junge Johanna Höhn ein uneheliches Kind. Für uneheliche Kinder wurde man damals öffentlich bestraft, weswegen sie verzweifelt gleich nach der Geburt ihr Baby tötet. Allerdings wurde man auch für Kindsmord bestraft und zwar mit der Todesstrafe – aber der junge Herzog Carl August ist gegen die Hinrichtung. Er schaltet das „Geheime Conseil“ ein, eine Beratungsinstanz, die aus drei Männern besteht. Der erste ist gegen die Todesstrafe, der zweite dafür. Es hängt jetzt also am Dritten. Dieser zögert, spricht sich dann aber für den Henker aus und zack, rollt der Kopf. 

Sie arbeiten sich an Zeus, dem kreativen Massenvergewaltiger ab, der mal als Stier, dann als Schlange, dann als Goldregen (WTF?) irgendwelche Frauen zu vergewaltigen versuchte.

Barbara Plagg

An sich ist das alles bedauerlich, aber nicht weiter ungewöhnlich, weil als Frau brannte man schnell mal irgendwo auf einem Scheiterhaufen oder lag ohne Kopf irgendwo rum, weil es Männer so entschieden. Und nur weil sie den Frauen den Tod brachten, hinderte das die Männer nicht daran, trotzdem zu den Großen in der Geschichte zu werden. Bemerkenswert am Fall Höhn ist nämlich, dass der dritte Mann im Conseil kein geringerer als der Humanist und Dichterfürst Goethe himself gewesen ist. Doch wir erzählen seit Generationen die rührselige Geschichte vom Gretchen und erwähnen mit keinem Wort die geköpfte Johanna.  

Felix Hafner, seine fünfköpfige Schauspiel-Truppe (Kerstin Jost, Jasmin Mairhofer, Tamara Semzov, Lukas Spisser und Paolo Tosin), die Musiker:innen Julian Angerer, Nora Pider und Moritz Kolmbauer haben keinen Bock mehr auf einseitige Heldenmythen. Nicht bei Goethe, sondern noch tiefer an den Haarwurzeln packen sie die kollektiven Märchen und ziehen sie aus ihren Narrativen: nämlich in der Antike. Jene mystifizierte Zeit, die wir bis heute in Architektur, Demokratie und Olympischen Spielen mittragen. Sie arbeiten sich an Zeus, dem kreativen Massenvergewaltiger ab, der mal als Stier, dann als Schlange, dann als Goldregen (WTF?) irgendwelche Frauen zu vergewaltigen versuchte, sie schauen sich den male gaze auf die Amazonen, das Verschwinden der Eurydike und den badass-Feminismus von Arachne an (Spoiler alert, ging leider nicht gut aus, wurde in eine Spinne verwandelt). Sie schauen sich irgendwelche anderen weirden Halb- oder Vollidioten, pardon, -götter an, die Zeus‘ Hobby teilen und denen die Vergewaltigung zumeist auch gelang, wenn sich die Frauen nicht vorher schnell in irgendetwas ohne Vagina, wie beispielsweise einem fucking Lorbeerbaum, verwandelt haben. Sollten Götter alles hören, dann wisse, oh großer Apollon, ich hätte lieber dich als Daphne als Lorbeerblatt in meinen nächsten Risotto geworfen. Apropos Apollon, falls euch das in der Schule verschwiegen wurde: Eurydike ist nur deswegen auf die Schlange getreten und gestorben, weil sie vor Apollons notgeilem Sohn Aristaios wegrennen musste, der übrigens der Sage nach– so steht es auf Wikipedia – den Leuten auf Sardinien und Sizilien „die Kultur brachte“. Welche Kultur genau steht nicht, my guess wäre jetzt die Rape Culture, der wir heute noch italienweit fröhlich frönen, indem wir Frauen wegen des Minirocks Mitschuld an Übergriffen geben und was sind schon 10 Sekunden in Daphnes Unterhose, nicht wahr? 

Tamara Semzov seziert mit eleganter Wut und langen blauen Fingernägeln die 21 Übergriffe, die Arachne in ihren Wandteppich gewebt hat und es schaudert einem, weil die griechische Antike wie die Zusammenfassung der letzten paar Femizide hierzulande klingt. Kerstin Jost schafft sich mit Vehemenz die Präsenz, die People of Color in den Mythen nie gelassen wurde und Jasmin Mairhofer wirkt mit ihrer Sanftheit wie eine, die den ganzen Scheiß der großen Herren nicht braucht, um selbst eine kleine Göttin zu sein. Und nimmt Nora Pider gemeinsam mit Julian Angerer das Mikro in die Hand, können die Sirenen mit ihrem Gesang einpacken. An ihrer Performance zerschellen keine Schiffe, sondern nichts weniger als binäres Bullshitdenken. Wie schön, dass die beiden mit ihrem unverkennbaren Gesang und Stil endlich mal in Bozen die Bühne rocken! Die restlichen Männer reihen sich nahtlos ein ins Zerlegen, Paolo Tosin baut die Heldenreise auseinander, Lukas Spissers Coolness führt die Lächerlichkeit der Götter vor und ich möchte an dieser Stelle nicht unerwähnt lassen, dass ich mit ihm dereinst im Schultheater spielte, bevor er ein großer Star wurde, und ich ihn liiiiebe, weil he had one job – und er hat ihn mal wieder (im Gegensatz zu Orpheus) großartig gemacht und für komische Momente gesorgt! 

Metamorphosen erzählt nicht neu, sondern schafft Anregungen zur Neuerzählung. Sie reißen Perspektiven an, ohne sie auszuerzählen. Und das macht das junge Ensemble in neuer Form, die mit einem traditionellen Theaterbesuch aufbricht. Und das kann manchmal kurz konsternieren (und zwar so sehr, dass Ali neben mir schon die 112 wählen wollte, weil sie dachte, dass Nora jetzt wirklich gleich über die ganze Bühne kotzt). Der Lernprozess, den das Ensemble in der Auseinandersetzung mit dem Stoff hatte, ist Teil der Performance und nimmt die Zuschauer:innen ins graduelle Drüberhinausdenken mit Beat mit.  

Patriarchale Geschichtsschreibung hat eine lange Tradition, denn sie ist unsere einzige und wirkt bis in die Gegenwart.

Barbara Plagg

Ob das den selbstgerechten Herrn der Südtiroler Rezensionsszene Schwazer und Konsorten, die selbst nie weder auf noch hinter der Bühne gestanden haben, gefallen wird? Nobody cares! Weil auch das lernt uns Metamorphosen: Warum soll man sich von den willkürlichen Werturteilen und Narrativen irgendwelcher (vorwiegend) Männer abhängig machen? Das kann man denen ruhig mal aus der Hand nehmen und sich selbst ein Bild machen. Patriarchale Geschichtsschreibung hat eine lange Tradition, denn sie ist unsere einzige und wirkt bis in die Gegenwart. Und Gentlemen, wie oft denken Sie ans römische Reich? Denken Sie ruhig daran, aber denken Sie es doch mal anders! Denn egal ob antike Mythen oder moderne Geschichten, vieles gehört neu erzählt. Und dazu gehört auch, dass man den einen oder anderen Gott vielleicht mal opfern muss, auch wenn’s weh tut. Man muss nicht gleich komplett canceln, aber vervollständigen: Nicht nur von Gretchen, sondern auch von Johanna erzählen. Nicht nur aus Orpheus‘, sondern auch aus Eurydikes Perspektive draufschauen. Und vor allem auch die Geschichten jener erzählen, die irgendwo in der Geschichtsschreibung verloren gingen. 

Und während Nora und Julian zum Schluss auf der riesigen Bühne oben „Ich schreibe meine eigene Geschichte“ singen und die Fabelwesen um sie tanzen, irren die Scheinwerfer ins Publikum und suchen die Menschen in den Theatersesseln. Wir alle schreiben an unserer eigenen Geschichte und an der kollektiven Geschichte der Menschheit mit. Wir alle sind eingeladen, mutig zu entscheiden, welche Geschichten wir wie weitertragen. Und welche wir neu erzählen wollen. 

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