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„I hon glei fertig, nor kimm i zu dir“, ruft Claudia B.* der kleinen Marianna* zu, als diese kurz während des Interviews hinter dem PC erscheint und neugierig schaut, mit wem ihre Langzeit-Pflegemama da videotelefoniert. Marianna ist ein Pflegekind und seit ihrem dritten Lebensjahr bei Familie B. untergebracht. Die Achtjährige nennt ihre Pflegemutter beim Namen, aber „ein bisschen bist du schon auch Mama“, sagt sie manchmal zu Claudia. Sie und ihr Mann Paul haben selbst drei erwachsene Söhne, die bereits aus dem Haus sind und in ihrer Kindheit mit Pflegegeschwistern aufgewachsen sind. Anfangs war es für Familie B. ein unbekanntes Terrain, auf das sie sich durch die Aufnahme eines Pflegekindes begaben. Claudia erinnert sich an viele Unsicherheiten, die sie anfangs begleiteten: Sind wir dieser Herausforderung gewachsen? Können wir das unseren eigenen Kindern zumuten? Heute, drei eigene Kinder und vier Pflegekinder später – davon zwei in Teilzeit-, zwei in Vollzeitpflege – kann Claudia sagen: „Wir haben durch unsere Pflegekinder sehr viel fürs Leben gelernt, zum Beispiel wie wertvoll eine intakte Familie ist und wie wenig es eigentlich braucht, glücklich zu sein.“
Eine neue Chance
„Jedes Kind hat ein grundlegendes Recht auf Fürsorge“ – so steht es in den Kinderrechten geschrieben, die vor über 30 Jahren von den Vereinten Nationen als UN-Kinderkonvention festgelegt wurden. Wenn es Eltern jedoch nicht schaffen, sich um das Wohl ihres eigenen Kindes zu kümmern, kann es zu einer vorübergehenden familiären Anvertrauung kommen – und das über zwei Wege: Bei der einvernehmlichen Anvertrauung ist die Zustimmung der Eltern bzw. Erziehungs- berechtigten zur familiären Anvertrauung des Kindes gegeben. Die Durchführung erfolgt in Zusammenarbeit mit dem Sozialdienst und wird mit Verwaltungsmaßnahmen vom Vormundschaftsgericht bestätigt. Bei der gerichtlich verfügten Anvertrauung fehlt die Zustimmung der Eltern bzw. Erziehungsberechtigten. Hier haben meist Privatpersonen oder Institutionen auf eine prekäre familiäre Situation hingewiesen. Die familiäre Anvertrauung wird mit dem Dekret des Jugendgerichts in Anwendung des Artikels 330 des Zivilgesetzbuches, bei Gefährdung des Kindeswohls, entschieden.
„Wir haben durch unsere Pflegekinder sehr viel fürs Leben gelernt, zum Beispiel wie wertvoll eine intakte Familie ist und wie wenig es eigentlich braucht, glücklich zu sein.“
In jedem Fall gibt es eine psychosoziale Einschätzung sowie mehrere Gespräche mit der Familie, mit Fachkräften von sanitären Diensten, wie Kinderärzt:innen, und der Schule. Der Schritt, ein Kind aus seiner Familie zu nehmen, erfolgt nur bei wirklich schwerwiegenden Fällen – das Ziel sollte es immer sein, die Ursprungsfamilien so zu unterstützen, dass die Kinder dort bleiben können. Aber in akuten Fällen kann es auch schnell gehen – dann werden die Kinder zwischenzeitlich in eine sozialpädagogische Einrichtung gebracht. Sobald feststeht, dass eine Pflegefamilie erforderlich ist, suchen die jeweiligen Sozialarbeiter:innen nach einem für das Kind passende, vorübergehende Zuhause. Im Idealfall kommt es zu einem Kennenlernprozess, damit sich Kind und Pflegeeltern aneinander gewöhnen. „Jede Situation erfordert ein individuelles Prozedere, den einen Weg gibt es nicht”, berichten Nadine Trenkwalder und Evelyn Rinner, Sozialarbeiterinnen in der Bezirksgemeinschaft Vinschgau.
„Wir suchen keine perfekten Menschen und keine perfekten Familien – die gibt es auch gar nicht.“
Zwei Jahrzehnte Pflegearbeit
Vor über 20 Jahren entschied sich Familie B. dazu, Pflegekinder bei sich aufzunehmen. 2003 kam das erste Pflegekind, ein damals 12-jähriges Mädchen, in ihre Familie, die vier Jahre lang bei ihnen blieb. Nach einer längeren Pause nahm die Familie nacheinander zwei Kinder in Teilzeitpflege auf, die nicht fix bei ihnen wohnten, sondern nur stundenweise untergebracht waren. Seit 2018 lebt Marianna nun bei ihnen.
Um als Pflegefamilie tätig zu sein, kann man sich im eigenen Territorium der Bezirksgemeinschaft für eine familiäre Anvertrauung melden. Es folgt eine Einladung zum Informationsgespräch, eine Einschätzung als Paar und ein Gespräch über deren Vorstellungen. Bei einer Vollzeitpflege braucht es zudem eine soziale und psychologische Einschätzung, diese Vorgehen seien allerdings auch sehr territoriumbezogen, so Trenkwalder. Gehalt, Alter und andere Hard Facts seien nicht ausschlaggebend – in erster Linie zählen vor allem der Wille und das eigene Zutrauen, sich um ein Kind zu kümmern. „Wir suchen keine perfekten Menschen und keine perfekten Familien – die gibt es auch gar nicht.“ Wichtig sei, dass die Chemie zwischen Kind und Pflegefamilie stimmt.
Eine emotionale und finanzielle Herausforderung
Grundsätzlich können Kinder von Null bis 18 Jahren in einer Pflegefamilie untergebracht werden. Ziel ist es dabei immer, die Herkunftsfamilie zu entlasten. Dabei gibt es völlig unterschiedliche Gründe, warum Kinder für eine bestimmte Zeit aus ihrer Herkunftsfamilie genommen werden: Häusliche Gewalt, Vernachlässigung, Drogenmissbrauch. „Immer dann, wenn eine massive Kindesgefährdung da ist, wird ein Kind zur Vollzeitpflege in eine andere Familie untergebracht“, erklären die Sozialarbeiterinnen. „Außerdem gibt es noch die Möglichkeit der sogenannten Teilzeitpflege. Das ist eine wertvolle unterstützende Maßnahme, zum Beispiel für Alleinerziehende oder wenn ein Elternteil an psychischen Problemen leidet und um jede Hilfe froh ist.“ Das Modell der Teilzeitpflege gäbe es landesweit, jede Bezirksgemeinschaft handhabe es aber nach eigenem Ermessen, nach Möglichkeiten und Bedarf.
„Die Arbeit der Pflegefamilien muss viel, viel mehr wertgeschätzt werden.“
Zwischen Bezirksgemeinschaft und Pflegefamilien gibt es eine Pflegevereinbarung – ein Job im herkömmlichen Sinne ist die Tätigkeit allerdings keiner. Trotzdem gehen Pflegefamilien eine große Verantwortung ein und opfern sehr viel: Das eigene Familienleben wird durch den „Neuzuwachs“ auf den Kopf gestellt, es ist eine emotionale Herausforderung und auch die Privatsphäre ist durch die regelmäßigen richterlichen Anhörungen, die Besuche der Sozialarbeiter:innen usw. nicht mehr die, die es vorher war. Trenkwalder ist überzeugt: „Die Arbeit der Pflegefamilien muss viel, viel mehr wertgeschätzt werden.“
Nicht jede Familie kann es sich leisten, ein Kind bei sich aufzunehmen. Es ist ein Fulltime-Job, der nicht als Job, sondern eher als Ehrenamt gesehen wird. Für Familie B. bot es sich auch deshalb an, da Claudia selbst als Tagesmutter tätig war und daher Zuhause arbeitete. Auch sie ist der Meinung, dass die organisatorische und eben auch finanzielle Vereinbarung für viele Familien schlichtweg nicht möglich ist: „Wir sind als Pflegeeltern nicht rentenversichert und die finanzielle Vergütung ist im Vergleich zu den Ausgaben, die ein Kind so mit sich bringt, eher gering. Aber wir können für besondere Spesen, wie Musikschule, Sportkurse und Kleidung, um Gewährung einer Sonderleistung ansuchen.“ Die Pflegefamilien haben zudem die Möglichkeit, von der Region einen Beitrag zur rentenmäßigen Absicherung der Erziehungszeiten zu erhalten. Und: Die bisherigen Vergütungen wurden seit dem 01.01.2023 um 25 Prozent angehoben. So sollen Pflegefamilien finanziell mehr unterstützt werden. Familie B. hat außerdem das Glück, dass sie viel Kleidung für Marianna von Bekannten aus dem Dorf bekommen – und auch sonst sehr viel Rückendeckung und positiven Zuspruch.
Gemeinsam stark
Die Kinder empfinden häufig Trauer, aber auch Scham wegen ihrer besonderen Situation. Umso wichtiger ist es, dass alle Beteiligten wissen, dass die Beziehung zwischen Pflegekind und Herkunftsfamilie mit der familiären Anvertrauung nicht endet, sondern die Chance für einen neuen Anfang geboten wird. Eine positive Einstellung und Kommunikation zwischen allen Beteiligten sei deshalb unabdingbar, sind sich Pflegemama Claudia und die Sozialarbeiterinnen Nadine Trenkwalder und Evelyn Rinner einig. „Die Kinder lernen dann meist, gut damit umzugehen und wissen: Ich habe zwei Familien.“
Wenn es Zeit wird, loszulassen
Die Dauer der vollzeitigen Anvertrauung ist laut Gesetz auf zwei Jahre begrenzt. Die familiäre Anvertrauung wird verlängert, wenn die Beendigung derselben das Kindeswohl gefährden würde. Alle zwei Jahre gibt es also eine Anhörung vor Gericht – dabei wird geschaut, ob es noch notwendig ist, dass das Kind weiterhin in der Pflegefamilie bleibt oder ob eine Rückführung in die Ursprungsfamilie möglich ist – das sei stets das Ziel. Die Pflegekinder seien in den Wochen und Monaten vorher in der Schwebe, weil sie nicht wissen, wie es für sie weitergehen wird und weil sie zu ihren Pflegeeltern natürlich auch eine Beziehung aufgebaut haben, berichten die Sozialarbeiterinnen aus ihren Erfahrungen.
Auch für Familie B. und ihre Pflegetochter Marianna ist es in diesem Jahr wieder soweit. Claudia sieht die Gerichtsverhandlungen als großes Problem: „Wir müssen Marianna in dieser Zeit nochmal mehr auffangen, weil es sehr anstrengend für sie ist. Seit sie sechs ist, sagt sie, dass sie den Richter persönlich kennenlernen will. Marianna steht mit beiden Füßen schon fest im Leben und weiß was sie will.“ Das gibt Pflegemama Claudia Trost, auch wenn der Gedanke da ist, dass Marianna vielleicht nicht mehr lange bei ihnen sein wird: „Wenn ich sehe, dass bei der Ursprungsfamilie alles ok ist und das Kind stark genug für das Leben, dann ist das auch schön – und dann ist es an der Zeit für uns loszulassen.“ Auf die Frage hin, wie schwer das ist, wird Claudia traurig, aber sie bleibt positiv: Sie habe es immer im Hinterkopf, dass ein Pflegekind nicht ihr eigenes, sondern lediglich „ein Kind auf Zeit“ sei – und vom richterlichen Beschluss bis zum Tag des Abschieds gäbe es dann auch genügend Zeit für alle Beteiligten, sich darauf vorzubereiten. „Ein Pflegekind wie Marianna wird zu einem Teil von uns. Wir begleiten sie, aber nehmen sie niemandem weg.“
„Wir dürfen nicht vergessen, wie viel Mut es braucht, um Hilfe zu fragen und diese auch anzunehmen.“
Laut Sozialstatistiken 2022 waren im Jahr 2021 südtirolweit 147 Kinder, davon 88 in Vollzeit und 86 in Teilzeit, in einer Pflegefamilie untergebracht. Damals waren 71 Familien als Vollzeit-Pflegefamilie gemeldet. 2022 waren es – laut internen Angaben des Amtes für Kinder- und Jugendschutz und soziale Inklusion – rund 73 Familien, weitere 43 Familien standen für die verschiedenen Formen der Teilzeit-Anvertrauung zur Verfügung.
Familie B. ist die Tätigkeit als Pflegefamilie seit jeher eine Herzensangelegenheit – sie ermöglicht ihren Pflegekindern durch ihre positive Einstellung die Chance, ihr Leben in Angriff zu nehmen. Und auch wenn sie nie wissen, was sie erwartet und es für Claudia und Paul immer wieder eine emotionale Herausforderung ist, so sagen sie: „Wir würden es immer wieder tun.“
*Namen wurden von der Redaktion zum Schutz von Pflegefamilie und Pflegekind geändert.
Alle, die mehr über das Thema wissen möchten oder Interesse daran haben, ein Pflegekind bei sich aufzunehmen, können sich bei den örtlich zuständigen Sozialsprengeln der Bezirksgemeinschaften oder des Betriebs für Sozialdienste Bozen melden. Allgemeine Informationen können auch im Amt für Kinder-und Jugendschutz und soziale Inklusion (Tel. 0471 418231) eingeholt werden.
Weiterführender Link:https://civis.bz.it/de/dienste/dienst.html?id=1011845
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