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Veröffentlicht
am 10.03.2023
LebenStraßenzeitung zebra.

„Begrenzte Täler vertragen keinen unbegrenzten Verkehr“

Veröffentlicht
am 10.03.2023
Fritz Gurgiser ist Obmann der österreichischen Bürgerrechtsorganisation „Transitforum Austria-Tirol“. Seit über 25 Jahren engagiert er sich mit dem Transitforum dafür, gesundheitliche, wirtschaftliche und soziale Belastungen des Transitverkehrs zu minimieren – vor allem an der Brennerstrecke von Rosenheim bis Verona.
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zebra.: Herr Gurgiser, Sie sind Obmann des Transitforums Austria Tirol. Wofür setzen Sie und Ihre Organisation sich ein?
Fritz Gurgiser: Wir setzen uns für den Schutz der betrieblichen und privaten Anrainer an Transitrouten ein, weil der Transitverkehr eine unfassbare Belastung darstellt. Diese geht über die Abgase und den Lärm hinaus. Wenn in den Dörfern ständiger Lärm herrscht, verringern sich beispielsweise auch die sozialen Kontakte Wir müssen den Transit als europäisches Problem sehen, das aus dem momentanen Wirtschaftssystem hervorgeht und nicht nur die Strecken Kufstein-Brenner oder Rosenheim-Verona betrifft. Der Transitverkehr fördert und wird selbst durch das Preisdumping in den einzelnen europäischen Ländern gefördert, die wiederum regionale Wirtschaftskreisläufe unter Druck setzen. Wird heute die Landwirtschaft mit Millionen subventioniert, dann wird das so dargestellt, als hätte man für die Bauern etwas übrig. Aber in Wirklichkeit versucht man damit nur einen im Prinzip unfairen Wettbewerb auszugleichen.

Warum ist Ihnen das Thema Verkehr und Verkehrsbelastung persönlich ein Anliegen?
Ich bin neben der Brennerautobahn aufgewachsen, in einem Siedlungsgebiet, in dem man keine Chance hat, dieser ständig wachsenden Belastung zu entkommen. Da stellt sich irgendwann die Frage: Entweder aussiedeln – was für mich undenkbar ist – oder versuchen, die Situation nachhaltig zu verbessern.

Welche Möglichkeiten gibt es, um die Situation zu verbessern?
Wir müssen uns entscheiden, was uns wichtig ist. Liegen mir die Gesundheit, die Lebensqualität und die regionale Wirtschaft am Herzen oder ist mir der Verkehr wichtig, den andere verursachen? Wir müssen von der Politik einfordern, dass sie die Interessen der Anrainer an den Transitrouten schützt – mit jenen Instrumenten, die schon da sind und die sie selbst geschaffen hat. Das Europarecht besagt nicht, dass sich Regionen, Städte und Länder vom Verkehr terrorisieren lassen müssen. Im Gegenteil, es besagt, dass der Verkehr überall begrenzt werden muss, wo er der Gesundheit und anderen Grundwerten schadet.

Fritz Gurgiser mit jungem Demonstrant auf der Autobahn.

Sie haben den Brenner Basis Tunnel (BBT) häufig als Generationenverrat bezeichnet. Warum?
Die Verkehrsverlagerung von der Straße auf die Schiene begleitet uns seit über 30 Jahren. Nur: Seit dem EU-Beitritt Österreichs ist der Straßenverkehr immer attraktiver geworden, der Bahnverkehr hat hingegen kaum Aufwertung erfahren. Da ein Unternehmen immer die kosteneffizienteste Strecke wählt, führt das zu einer enormen Steigerung des Straßenverkehrs. Der Brennerbasistunnel wird nicht gebaut, um den Schwerverkehr auf den Transitrouten zu reduzieren. Er ist Teil der Hochleistungsstrecke Berlin-Palermo und ist für Mischverkehr ausgelegt, das heißt: langsamer Güterverkehr und schneller Personenverkehr. Das ist ein sehr großer Nachteil. Um den Brennerbasistunnel sinnvoll zu nutzen, müsste parallel dazu ein fairer Wettbewerb Schiene-Straße geschaffen werden und genau dieser fehlt. Während der Straßengüterverkehr europaweit immer attraktiver gestaltet wird, ist der Huckepackverkehr, der auf der Schiene existiert, nicht lukrativ. Ein Container wird beispielsweise in Hamburg vom Schiff auf einen Lkw geladen, fährt bis Wörgl, dann muss der Lkw samt Container mühsam und zeitaufwendig auf die Rollende Landstraße (RoLa) verladen werden, fährt am Brenner wieder auf die A22 und durch Südtirol und das Trentino. Mit allen negativen Folgen für die engen Täler.

Welche Veränderungen erwarten Sie sich jetzt, da die Grünen in Tirol nicht mehr mitregieren?
Ich orientiere mich nicht nach Ideologien. Politiker haben ein Hauptinteresse und das ist: wiedergewählt zu werden. Da spielt es keine Rolle, welche Partei gerade in der Regierung ist und welche in der Opposition. Veränderungen hängen davon ab, wie stark der Druck von unten auf die Politik ist und wie gut wir imstande sind, unsere Rechte durchzusetzen.

Sind Proteste in Brüssel sinnvoll?
Nein, wenn wir in Brüssel demonstrieren, dann sind wir 50 Leute. Dann stehen wir vor dem Europäischen Parlament wie ein verlorener Haufen und es ändert sich nichts. Am Brenner hingegen besetzen wir eine Schlüsselstelle, dann treffen wir einen Nerv, dann steht das Anliegen der Anrainerschaft auf ihren intakten alpinen Raum im Mittelpunkt der europäischen Medien. „Nur, wenn die Räder stillstehen, kommt Bewegung in die Politik“ war ein Grundsatz zur Durchführung von Bürgerversammlungen auf Autobahnen.

Haben Sie konkrete Forderungen an die EU?
Zwei Forderungen habe ich: In der Bürokratie muss es schneller gehen. Die EU-Kommission muss sich als „Hüterin der Verträge“ mehr darauf konzentrieren, die Grundrechte der Menschen zu sichern und die Gesundheit über alles andere stellen. Und Deutschland, Österreich und Italien müssen aufgefordert werden, mit einem digitalen Dosiersystem* einzugreifen. Seit 2018 liegt das Projekt in Bayern, Nordtirol, Südtirol und dem Trentino auf den Schreibtischen. Man muss der Kommission aber danken, denn die Alpenkonvention und die Grenzwerte für Luftschadstoffe stammen von ihr.

Sehen Sie auch eine Eigenverantwortung der Bevölkerung?
Man muss den Mut haben, die regionale Gemeinschaft aufrechtzuerhalten, denn dort weiß ich, wo mein Geld hingeht. Jede*r Einzelne kann selbst einen kleinen oder größeren Beitrag leisten, um unseren einzigartigen Lebens- und Regionalwirtschaftsraum zu erhalten.

Muss auch der Tourismusverkehr eingeschränkt werden? Oder braucht es für den Transit- und den Tourismusverkehr zweierlei Maß?
Auch dem Tourismusverkehr sind Grenzen zu setzen. Entstanden ist der ausufernde Verkehr durch den alljährlichen Ausbau von Hotels und Skiliften vor allem in den Talschlüssen, während die Zulaufgemeinden die Belastungen haben. Dies ist übrigens auch ein Ergebnis einer verfehlten Steuerpolitik, weil Betriebe durch Expansion Steuern sparen. So steigt das Angebot, was sich in Dumpingpreisen von 40 bis 50 Euro pro Übernachtung äußert. Die Folge ist, dass sich die ansässige Bevölkerung einschränken muss: In der Hochsaison kann man an den Wochenenden kaum in den Ort hinein noch aus dem Ort heraus, wenn man entlang einer Verkehrsader wohnt.

Der Tourismus ist aber auch eine enorme Einnahmequelle.
Der Tourismus ist so wie jede andere Branche zu behandeln: Es braucht eine Vollkostenrechnung. Es geht um Profit und um welche Schäden er mit sich zieht: Wenn ganze Regionen unter der Verkehrsbelastung leiden, sind das nachhaltige Schäden, die der Qualitätstourismus nicht verursachen würde. Diese Gäste zahlen mehr und sind auch bereit, anders anzureisen. Auch die Gäste profitieren vom Qualitätstourismus, wenn Straßen und Skilifte weniger überfüllt sind. Weltweit werden Gäste angeworben: mit Ruhe, Erholung, Nachhaltigkeit, Einzigartigkeit und so weiter – und nicht mit Dauerstau, Verkehrsbelastungen und Motorradlärm bis auf die höchsten Pässe.

Was wünschen Sie sich persönlich für die Bevölkerung diesseits und jenseits des Brenners?
Ich wünsche mir, dass die Menschen sich zu ihren Grundwerten bekennen und sich bei den wichtigen Sachen auch einmischen. Als Wählende und Zahlende muss man den Mut haben, sich dafür einzusetzen, dass die Politik ihre Hauptaufgabe erfüllt, nämlich: Rahmenbedingungen zu setzen. Das Selbstbewusstsein muss wiederbelebt werden, sodass man nicht mehr vor der Politik in die Knie fällt.

Um ihnen Angst zu machen, wurde ihnen erklärt, dass das Haus abgefackelt oder der Vater nicht mehr nach Hause kommen würde. Das war hoch belastend.

Sie erfahren sicherlich nicht nur Zuspruch? Haben Sie auch Anfeindungen erlebt?
Mittlerweile nicht mehr. Anfangs aber schon – sogar bis in die Familie hinein: Meine Kinder wurden angerufen. Um ihnen Angst zu machen, wurde ihnen erklärt, dass das Haus abgefackelt oder der Vater nicht mehr nach Hause kommen würde. Das war hoch belastend.

Woher schöpfen Sie Ihre Kraft?
Kraft schöpfe ich daraus, dass wir uns auf das stützen, was uns zusteht. Gesundheit, Grundrechte – die stehen uns zu. Wir sind über die Jahre zu einer Bürgerrechtsorganisation gewachsen, weil wir von der Politik unsere Rechte, die auch in der Alpenkonvention formuliert sind, einfordern. Die Politik setzt Forderungen nur durch, wenn sie unter Druck steht. Tourismus und Industrie machen Druck – wir sind das Gegengewicht. Unsere Ausgabe beschäftigt sich mit dem Thema ,,Grenzen“.

Was war für Sie eine Grenzerfahrung?
Für mich ist eines wichtig: Egal in welchem Bereich, man kann bestimmte Grenzen nicht überschreiten. Es gibt nichts Grenzenloses. Der Lebensraum in der Natur ist begrenzt. Infolgedessen müssen auch wir unser Verhalten begrenzen. Es reicht nicht, am Berg um jedes Edelweiß einen Stacheldrahtzaun zum „Schutz“ zu bauen und in den Tälern die Menschen ungeschützt zu lassen – Tirol ist wunderschön, im Norden und Süden; wir haben die Verantwortung, unsere Heimat zu erhalten und halbwegs intakt weiterzugeben: unseren Kindern und Enkelkindern.

*Ein digitales Dosiersystem beschreibt einen Vorgang, bei welchem – je nach Tages- und Nachtzeit – eine maximale Anzahl an Fahrzeugen die Infrastruktur nutzen können. Die Nutzer*innen der Infrastruktur müssen sich vorher für einen bestimmten „Slot“ einbuchen, um Überlastungen der Verkehrsadern zu vermeiden.

Interview: Hannes Pichler
Infografik: Sofia Bonfanti

Dieser Text ist erstmals in der neuen Ausgabe der Straßenzeitung zebra. (10.03.2023 – 09.04.2023 | 83) erschienen. Inhaltlich ausgearbeitet wurde diese Ausgabe von den Schülerinnen und Schülern des Sprachen- und Realgymnasiums Sterzing, die sich mit dem Thema Grenzen beschäftigt haben.

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